Wirtschaft
anders denken.

»Irgendwie plausibel klingen«: Thüringen und die Ministerpräsidentenwahl

22.01.2020
OXI

Linker Minderheiten-Ministerpräsident? Die CDU in Thüringen gefällt sich in Verfassungs-Auslegung und Legitimiations-Zweifeln. Das soll Rot-Rot-Grün schaden, schadet aber auch dem Parlament.

Mike Mohring ist Jurist, in Jena hat er Rechtswissenschaften studiert, später kam dann auch ein Abschluss an einer Privatuni dazu: Wirtschafts- und Steuerrecht. Mike Mohring ist außerdem CDU-Landeschef in Thüringen und hat dort nach den Landtagswahlen im vergangenen Oktober unter nicht gerade immer einfachen Bedingungen eine nicht gerade immer gute Figur gemacht. Während andere einen Weg zu einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung suchten, stand Mohring ohne eigene Mehrheitsaussichten da und oft bloß neben der Spur. Von dort hörte man dann Interventionen – und die sind nun, da die Wahl des Ministerpräsidenten ansteht, oft juristischer Natur. 

Die CDU will eine »elementare Frage der Verfassungsauslegung« noch vor der für Anfang Februar geplanten Ministerpräsidentenwahl geklärt wissen. Ein Sprecher mit den Worten zitiert, »wir wollen, dass sich das Parlament auf eine Auslegung verständigt«. Das ist schon einmal deshalb bemerkenswert, weil die Passage aus der Verfassung, um die es geht, dort schon seit Jahrzehnten drinsteht, man von der CDU aber sehr lange nicht vernommen hat, dass hier Auslegungsbedarf besteht, noch dazu ein parlamentarischer. 

Selbst wenn man die Deutung der Regelung zur Wahl des Ministerpräsidenten für offen hielte, riecht Mohrings Begehr meilenweit gegen den Wind nach Machtspielchen: Im Landtag hat Rot-Rot-Grün keine Mehrheit, genau deshalb bekommt Artikel 70 Absatz 3 Satz 3 der Landesverfassung derzeit doch erst solche Aufmerksamkeit – und die will Mohring nun offenbar per Mehrheitsentscheid »auslegen«. Zu wessen Gunsten? Jedenfalls zu Lasten von Bodo Ramelow, denn unabhängig von der verfassungsrechtlichen Bewertung hat Mohrings demonstrativer Zweifel eine – und man wird annehmen müssen: gewollte Wirkung: irgendwas bleibt am Ministerpräsidenten hängen.

Der müsste Bodo Ramelow heißen, und das ist nicht etwa bloß die Lesart der Linkspartei oder eines namhaften Gutachters wie Martin Morlok. Auch der Verfassungsrechtler Michael Brenner sieht es so, ein ausgewiesener Justizkorrespondent wie Wolfgang Janisch in der SZ dito. Rot-Rot-Grün hat zwar keine absolute Mehrheit im Landtag, damit dürfte Ramelow in den ersten beiden Wahlgängen wohl auch nicht Ministerpräsident werden.

Die Landesverfassung räumt der Einsetzung einer neuen Landesregierung, deren Voraussetzung die Wahl des Ministerpräsidenten ist, jedoch eine zentrale Bedeutung ein – und senkt deshalb für den dritten Wahlgang das Quorum. Gewählt ist dann, »wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält«. Ist dies nur ein Kandidat, und wie man in Erfurt hört, hat sich bisher niemand anderes entschieden, als Ministerpräsident zu kandidieren, reichen hier theoretisch auch sehr wenige Voten – selbst eine Stimme wäre »die meisten«, da sonst ja niemand eine erhält.

Nun macht Mike Mohring geltend, »kein Vereinsvorsitzender wird in Deutschland gewählt, wenn nicht mehr Ja- als Nein-Stimmen vorliegen«. Das mag, so formuliert es Janisch, »irgendwie plausibel klingen«, aber eben nur irgendwie – und es kommt wohl, siehe oben, der CDU auf das »klingen« an. Man könnte von einer populistisch motivierten Weise sprechen, aus Verfassungsfragen solche der Alltagsempirie zu machen, um der Antwort im eigenen Sinne ein bisschen Rückenwind zu verschaffen. Noch einmal Janisch: »Dabei ist die Sache eigentlich längst klar, demokratisches Gefühl hin oder her.«

Wie schon gesagt: Als die CDU Thüringen noch für ihr quasi natürliches Regierungsgebiet halten konnte, kam niemand auf die Idee, Artikel 70 Absatz 3 Satz 3 der Landesverfassung öffentlichen Auslegungsdebatten zu unterwerfen. Als diese Zeit zu Ende ging, das war spätestens 2014 der Fall, änderte sich dies – und wohl auch deshalb, weil damals erstmals ein Linkspolitiker ins Ministerpräsidentenamt strebte. Vor fünf Jahren waren die Mehrheitsverhältnisse im Landtag sehr knapp aber es gab eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Die Frage des dritten Wahlgangs rückte auf die medialpolitische Agenda, zwei Gutachten wurden geschrieben, eines davon im Auftrag des Erfurter Justizministerium von Martin Morlok. 

Zum angeblichen Problem des »Vereinsvorsitzenden« schreibt der, »auf das Verhältnis zur Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen kommt es nicht an. Das Ziel einer Regierungsbildung rechtfertigt das Absenken des Legitimationsniveaus.« Hier liegt der entscheidende Punkt: die Thüringer Verfassung gibt dem Landtag eher das Recht, einen Minderheitsministerpräsidenten zu wählen, als sogleich durch Auflösung und Neuwahl in den nächsten Versuch zu gehen eine Mehrheit zu bilden, wie es andere Landesverfassungen vorsehen mögen.  

Eine ähnliche Regelung wie in Thüringen gilt übrigens in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, von dort hat Janisch die Auskunft erhalten, es gebe »keinerlei definitorischen Zweifel«: Die relative Mehrheit sei erreicht, wenn ein Kandidat mehr Stimmen erhalte als jeder Mitbewerber. Auch bei der Wahl des Bundespräsidenten wäre im dritten Wahlgang gewählt, wer »die meisten Stimmen auf sich vereinigt«.

Hier wird das Beispiel von Gustav Heinemann genannt, der 1969 in eben diesem Wahlgang mit knappem Vorsprung auf den CDU-Konkurrenten Gerhard Schröder obsiegte, ohne die absolute Mehrheit zu haben. Er wäre, schreibt Janisch, aber sogar dann Staatsoberhaupt geworden, wenn er aufgrund weiterer BewerberInnen »mehr Stimmen gegen sich als für sich gehabt« hätte. Auch hier zieht die relative Mehrheit, die man schwerlich als »demokratischen Fremdkörper« hinstellen kann.

Die CDU verweist in der Sache gern auf ein Gutachten des früheren Bundestagsdirektors und Verwaltungswissenschaftlers Wolfgang Zeh, auch diese Expertise wurde schon 2014 ins Rennen um die Deutungshoheit geschickt. Die Lesart hier: Wer mehr Nein- als Ja-Stimmen habe, sei nicht gewählt. Dem widerspricht Morlok in seinem Gutachten: »mehr Ja- als Nein-Stimmen zu verlangen, veränderte das von der Verfassung festgeschriebene Wahlverfahren. Das Nichtantreten in der demokratischen Konkurrenz hebt das Erfolgsquorum nicht an. Andernfalls käme einer negativen Mehrheit eine destruktive Verhinderungsmacht zu.« Und genau das wolle Artikel 70 Absatz 3 Satz 3 der Landesverfassung ausschließen. 

Dabei geht es im Übrigen auch um die Rechte der Opposition, also auch jene der – wie es derzeit aussieht – CDU: Würde sich die Lesart durchsetzen, mit welcher Mike Mohring hier das Zweifelstreuen betreibt, bliebe die bisherige Landesregierung geschäftsführend im Amt. Sie ist vom vorigen Landtag legitimiert, mit dem Zusammentritt des neu gewählten würde aber nicht nur das Band der parlamentarischen Legitimation zerrissen. Eine nur geschäftsführende Regierung kann auch nicht im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums (von der Opposition) ersetzt werden. Das hätte, sieht man davon ab, dass Mohring eine Gegen-Mehrheit erst einmal – etwa doch mit der AfDD? – zusammenbringen müsste, und rechnet man die Tatsache mit ein, dass eine Auflösung des Landtags und damit eine Neuwahl unwahrscheinlich ist, da es hier einer Zweidrittelmehrheit im Parlament bedarf, eine bizarre Folge: Die Wahl vom Oktober 2019 bliebe, so Morlok, »auf unabsehbare Zeit ohne Konsequenzen für die politische Zusammensetzung der Landesregierung«, was am Demokratieprinzip gemessen »ein unhaltbarer Zustand« wäre.

Auslegungsfragen sind immer auch Interessenfragen, und der Ton macht dabei einen wichtigen Teil der Musik. Bei Stefan Locke in der FAZ heißt es deshalb, »die Verfassung ist nicht eindeutig«, außerdem wird auf die »landläufige Auffassung« abgestellt, laut der man »mehr Ja- als Nein-Stimmen auf sich vereinen« müsse, »um gewählt zu sein«. Das steht in der Logik des »Vereinsvorsitzenden«-Vergleichs von Mohring. Der CDU-Landeschef hat aber mehrfach auch erklärt, er sei zu einem konstruktiven Umgang mit der komplizierten Mehrheitslage bereit. Dieser Weg würde aber nicht über Destruktion führen, sondern müsste einen konstruktiven Pfad verfolgen: Die CDU muss Bodo Ramelow dazu gar nicht wählen, im dritten Wahlgang müssten sich lediglich mindestens sieben ihrer Abgeordneten enthalten. 

Der Linkspolitiker hätte dann eine relative Mehrheit mit mehr Ja- als Nein-Stimmen. Er wäre das, was Gutachter Morlock »Minderheiten-Ministerpräsident« nennt. Ein solcher wäre weder ein »demokratischer Defekt« noch ist er ein Verfassungsproblem. Er ist Ausdruck von politischen Verhältnissen, zu denen alle irgendwie ihr Scherflein beigetragen haben, und die nun nach neuen Modellen in der Landespolitik verlangen. Übrigens liegt hier auch die Chance der Stärkung des Parlaments. Denn es ist zu recht darauf verwiesen worden, dass es nicht nur um Handlungsfähigkeit geht, darauf also, dass aus einer Wahl auch zügig eine voll funktionsfähige Landesregierung hervorgeht. Sondern auch um die Rolle des Parlaments, um das Verhältnis zur Regierung. 

Reinhard Müller hat in der FAZ, offenbar eher der Position von Wolfgang Zeh zuneigend, daran erinnert, dass es »in der Praxis« meist so aussieht: »Die Regierung regiert, die Parlamentsmehrheit beschließt Gesetze, die meist aus den Ministerien kommen.« Gerade die besondere Thüringer Situation eröffnet nun aber die Möglichkeit, der parlamentarische Aushandlung und einer stärkeren Rolle von Inhalten gegenüber machtpolitischen oder bloßen »Funktionsfragen« mehr Geltung zu verschaffen. Dies wird zu mehr Kontroversen führen, jedenfalls zu anderen als dort, wo Mehrheitskabinette gern »durchregieren«. Sinnvoll sind diese Debatten aber erst dann, wenn sie auch den Kern des Politischen, also den Inhalt zum vorrangigen Gegenstand machen.

Mike Mohring hat schon vor ein paar Tagen ein Mitspracherecht des Parlaments bei Voten des Landes im Bundesrat gefordert. In welcher Frage? Es ging ihm um die Form, das Verfahren. Und wieder war eine Zutaten der Intervention, Zweifel an der grundlegenden demokratiepolitischen Berechtigung von Ramelows Wirken zu streuen. »Wenn tatsächlich eine Minderheitsregierung ihre Arbeit aufnehmen sollte, stellt sich die Frage, mit welcher Legitimation kann diese Landesregierung im Bundesrat bei zustimmungspflichtigen Gesetzen auftreten und die Interessen Thüringens wahrnehmen?«, so fragte Mohring.

Der Staatsrechtler Joachim Wieland antwortete ihm per »Spiegel« mit den Worten: »Das Grundgesetz kennt keine verschieden legitimierten Regierungen.« Eine Minderheitsregierung habe die gleichen Rechte wie jede andere Regierung. Dazu gehöre »auch die Vertretung des Landes Thüringen im Bundesrat. Ihre demokratische Legitimation auch für die Mitwirkung im Bund steht außer Zweifel«, so Wieland. 

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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