Wirtschaft
anders denken.

»Fangen wir mit der Übergewinnsteuer an«

Ökonomin Isabella M. Weber spricht über Preisbremsen, Preiskontrollen und darüber, was das mit dem China der 1980er zu tun hat

15.04.2023
Porträt von Isabella M. Weber
Isabella M. Weber ist Politökonomin und Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts in Amherst. Sie forscht zu Inflation, China und globalem Handel. Die deutsche Übersetzung ihres breit diskutierten Buchs »How China Escaped Shock Therapy« erscheint in deutscher Übersetzung am 17. April im Suhrkamp Verlag.

Letztes Jahr waren Sie, Frau Weber, Teil der Kommission, die die Gaspreisbremse erarbeitet hat. Nun hat sich die Lage so entwickelt, dass der Staat vielleicht gar nicht einspringen muss. Mindestens muss er deutlich weniger ausgeben als erwartet. Wie bewerten Sie die Gaspreisbremse heute?

Die Bremse zielt darauf ab, die Verbraucher vor Preisschocks zu schützen. Dafür wäre es wichtig gewesen, sie vor dem größten Schock im Sommer zu etablieren. Deswegen haben Sebastian Dullien und ich uns bereits im Februar 2022 für eine derartige Stabilisierungspolitik eingesetzt. Dennoch ist die Bremse nun nicht hinfällig, nur weil die Gaspreise erst mal gefallen sind. Wir sind weiterhin in einer Situation extremer Unsicherheit, und es könnte durchaus noch mal zu Preisanstiegen kommen.

Unser Ausgaben-Schwerpunkt ist »Strom«. Auch in diesem Bereich wurde eine Preisbremse eingeführt. Wurde Ihre Idee einfach übertragen?

Das Prinzip ist das gleiche, ja. Es gibt einen Preisschock, der so groß ist, dass er für viele Haushalte nicht tragbar ist. Die individuellen Kosten sollen gedeckelt werden. Und soweit ich weiß, ähnelt sich auch die Umsetzung. Grundlegender stellt sich die Frage, ob die Strompreise weiterhin nach einem Merit-Order-Prinzip gestaltet werden sollen. Dafür bin ich aber keine Expertin.

Jedoch eine für Preiskontrollen generell. Wie lässt sich in dieser Debatte die Preisbremse verorten?

Es gibt eine Diskussion, ob die Gaspreisbremse überhaupt eine Preiskontrolle ist. Das ist eine Frage der Definition. Ich denke, es handelt sich primär um eine Preisstabilisierungsmaßnahme. Für Verbraucher, die 80 Prozent ihres Verbrauchs gedeckelt bekommen, ist es eine Preiskontrolle, aber aus Perspektive der Anbieter gelten weiterhin die Marktpreise. Der Staat subventioniert die Preise. Allgemeiner gesprochen erkaufen alle Preiskontrollen Zeit. Grundsätzliche strukturelle Verschiebungen, wie zum Beispiel einen riesigen Schock auf dem Gasmarkt, kann eine Preiskontrolle nicht verändern. Aber man gewinnt Raum für Maßnahmen, die in der Lage sind, diese Verschiebungen in der mittleren Frist abzufangen. Eine Preisstabilisierung kann sinnvoll sein, wenn ein extremer Preisanstieg nicht durch eine entsprechende Angebotsreaktion ausgeglichen wird. Das war beim Gaspreisschock der Fall. Die russischen Gaslieferungen folgen nicht der Logik von hohen oder niedrigen Preisen, sondern der von geopolitischer Konfrontation. Ein anderer Teil des Marktes, der LNG-Markt, reagiert jedoch auf Preissignale. Allerdings gibt es Engpässe auf der Seite der Infrastruktur, die diese LNG-Gasflüsse aufnehmen kann, was zu Verzögerungen bei der Verfügbarkeit führt. In solchen Überbrückungssituationen, in denen die Preissignale nicht ausreichen, um das Angebot anzukurbeln, können Preisstabilisierungsmaßnahmen eine wichtige Rolle spielen. Sie sind jedoch nur so gut wie die Nutzung der Zeit, die man durch sie gewinnt. Im Fall der Gaspreisbremse sollte die gewonnene Zeit nicht nur für den Aufbau einer neuen Gasinfrastruktur genutzt werden, sondern primär auch für Investitionen in alternative Energiequellen und effizienteren Energieverbrauch. Dabei sollten nicht nur die Besserverdienenden, sondern die gesamte Bevölkerung einbezogen werden. Die Gaspreiskommission hat zum Beispiel die Energiesanierung von Wohngebäuden, insbesondere von Wohnungen mit niedriger Miete, empfohlen. Es gibt also Potenzial für strukturelle Maßnahmen, die mit der gewonnenen Zeit umgesetzt werden könnten. Preisstabilisierungsmaßnahmen können ein wichtiges Notfallinstrument sein, um Schocks zu bewältigen, aber sie können nicht die strukturellen Probleme lösen. Ihr Erfolg hängt letztlich davon ab, wie die erkaufte Zeit genutzt wird.

Ist das historisch immer so gewesen? Oder haben Preiskontrollen Marktmechanismen auch ganz durchbrochen?

Im Zweiten Weltkrieg gab es in den USA ein sehr umfangreiches Preiskontroll-Regime, das Teil der Kriegswirtschaft war. Schon im Ersten Weltkrieg wurde klar, dass es sehr schwer ist, durch reine Marktmechanismen eine Kriegswirtschaft zu koordinieren. Schnelle strukturelle Umbrüche, Verschiebungen auf dem Arbeitsmarkt und bei den Lieferketten machen es in Kriegszeiten schwer, sich allein auf den Markt zu verlassen. In so einer Situation, in der tatsächlich eine zentrale Koordination stattfindet, sind Preise keine Knappheitssignale wie normalerweise. Da können Preiskontrollen eine größere Bedeutung erhalten. Aber das ist natürlich eine noch viel extremere Notsituation, als wir sie heute erleben.

In den sozialistischen Planwirtschaften haben Preiskontrollen immer eine zentrale Rolle gespielt. Ihr Buch über China erscheint Mitte April nun auch auf Deutsch. Was ist Ihre These?

Mein Buch behandelt die Herausforderung, aus einem totalen Preiskontroll-Regime auszubrechen. Genauer gesagt geht es um die Herausforderungen, denen sich China in den 1980er Jahren gestellt hat. Gemessen am Wirtschaftswachstum war es für die Volksrepublik in der Reform-Ära gut, hybride Formen eines Wirtschaftssystems zu entwickeln. Sie waren deutlich erfolgreicher als die Versuche einer reinen Planwirtschaft. Es ist allerdings fraglich, ob man überhaupt von einer Planwirtschaft in der späten Phase des Maoismus sprechen kann. Während der Kulturrevolution wurden die gesamten bürokratischen Strukturen, die einer Planwirtschaft zugrunde liegen, buchstäblich über den Haufen geworfen. Die technokratische Planung ist ziemlich in den Hintergrund gerückt.

Trotzdem gab es einen fundamentalen Wandel der chinesischen Volkswirtschaft. In anderen postsozialistischen Ländern wurde der mit der sogenannten Schocktherapie durchgesetzt. In China, wie der Untertitel Ihres Buchs verrät, nicht. Was war der Unterschied?

Die Grundidee der Schocktherapie ist, dass man das Lehrbuchmodell einer Marktwirtschaft als Schablone nimmt und mit einem großen Sprung von einer sozialistischen Planwirtschaft in dieses Lehrbuchmodell hineingeschockt werden kann. Zentrale Komponenten sind Preisliberalisierung, internationale Öffnung der Wirtschaften, Privatisierung und eine strikte Austeritätspolitik, um zu vermeiden, dass bei der Preisliberalisierung Inflation entsteht. Selbst die überzeugtesten Schocktherapeuten warnten schon damals, dass Privatisierung ein langsamer Prozess ist. Komplizierte institutionelle Verflechtungen in ein neues Eigentumsregime zu übertragen, braucht Zeit.

Deswegen wurden lieber Preise liberalisiert?

Im Gegensatz zur Privatisierung kann Preisliberalisierung schnell umgesetzt werden. Alle von höheren Instanzen vorgegebenen Preise werden von heute auf morgen hinfällig, und man kann nun seine Preise selbst setzen. Das ist der Umsetzbarkeitsaspekt. Gleichzeitig hat es aber auch einen theoretischen Aspekt: Aus der Perspektive von neoklassischen Marktmodellen ist die freie Bewegung der Preise der eigentliche Markt. Somit ist die Freiheit der Preise der erste und entscheidende Schritt in die richtige Richtung. Die Preisliberalisierung ist daher der entscheidende Schock bei der Schocktherapie. Es geht mir nicht darum, die Bedeutung der Privatisierung herunterzuspielen. Vielmehr geht es darum, die unterschiedliche Natur dieser Elemente der Schocktherapie darzulegen. Meine These ist, dass durch Preisregulierungen in China Zeit erkauft wurde, um Strukturanpassungen unter relativer Preisstabilität zu ermöglichen.

Wie funktionierte das in China genau?

China hat sehr ernsthaft über zentrale Elemente der Schocktherapie nachgedacht, insbesondere über eine schockartige Preisliberalisierung. In den 1980er Jahren gab es eine intensive Diskussion darüber, ob man sie umsetzen sollte oder nicht. Die Inflationsgefahr spielte dabei eine zentrale Rolle. Der Titel meines Buches, »Das Gespenst der Inflation«, bezieht sich darauf. Der Kampf gegen die Hyperinflation war ein zentrales Element im revolutionären Kampf gegen die Nationalisten gewesen. Die Kommunisten hatten sich in den 1940er Jahren als überlegen gezeigt in ihrem Kampf gegen die Inflation, und es gelang ihnen, in ihren Gebieten die Preise besser zu stabilisieren als den Nationalisten. Somit war die Preisstabilisierung Teil des Gründungsmythos der Volksrepublik China und von großer politischer Bedeutung.

Welche Rolle spielten dabei die Preiskontrollen?

In den 1940er Jahren waren es nicht Preiskontrollen allein, sondern eine Strategie, die darin bestand, die Marktmechanismen selbst zu nutzen, um die Spekulanten durch einen regelrechten Wirtschaftskrieg aus dem Wettbewerb zu bringen.

Wie war es dann später, in den 1980er Jahren?

In der Reformperiode war alles mit der Frage verbunden, ob man die wichtigsten Preise liberalisiert. Es ging nicht darum, ob man die Preise von Plastikspielzeug oder von Straßenverkäufern kontrollieren oder liberalisieren sollte. Diese Preise waren ohnehin nicht streng kontrolliert. Es ging eher um Güter wie Energie, damals noch wichtiger als heute Kohle und Stahl, Getreide, Baumwolle – zentrale Güter für Produktion und Konsumtion.

Das Argument derer, die sich für einen Big Bang, also die schlagartige Liberalisierung aller Preise, einsetzten, war, dass genau die Preise dieser wichtigsten Güter zuerst dem Markt überlassen werden sollten, um Preismechanismen in der gesamten Wirtschaft einzuführen. Die Gegenseite befürchtete, dass es bei einer schockartigen Liberalisierung zu sehr schnellen Preisanstiegen kommen würde, da die Preise für die zentralen Güter vor der Reform strategisch niedrig gesetzt wurden. Diese Seite hat sich in den 1980er Jahren durchgesetzt, und es wurde das sogenannte zweigleisige Preissystem eingeführt. Die Kontrolle über die Kernsektoren wurde erhalten, gleichzeitig durften Unternehmen, die über dem Plan produzierten, zu Marktpreisen verkaufen. Das gibt einen starken Anreiz, die Produktion auszuweiten. Andererseits mussten Konsumenten mit knappen Ressourcen ökonomisch umgehen, um mit der rationierten kleineren Menge, die preislich stabilisiert wurde, auszukommen.

Das klingt nach der Gaspreisbremse.

Dieses Grundprinzip, in einer Schocksituation einerseits Marktsignale zu erhalten und andererseits Haushalte und Unternehmen vor einem existenzbedrohlichen Schock zu schützen, ist dort auch vorhanden, ja. Wenn man sich in einem Prozess grundlegenden Wandels befindet, besteht immer die Frage, wie man das managt. Die chinesische Erfahrung – übrigens auch die der USA im Zweiten Weltkrieg – zeigt, dass es eine gute Idee ist, von bestehenden Strukturen auszugehen und sich zu überlegen, welche Maßnahmen Zeit erkaufen können für die nötigen Anpassungsprozesse. Aber natürlich ist der Kontext in Deutschland heute radikal anders.

Preiskontrollen werden bei der nötigen Energiewende eine Rolle spielen müssen?

In der Energiekrise hat sich das Angebot an fossilen Energien plötzlich stark verknappt, bei einer gleichbleibenden Nachfrage. Das führt zu einer hohen Profitabilität von Energieträgern, von denen man eigentlich wegwill. Der nötige Investitionsschub bei den Erneuerbaren blieb aus. Ganz im Gegenteil ist das private Kapital in die Fossilen geflossen, wegen der höheren Margen. Deswegen müssen wir ernsthaft über Übergewinnsteuern bei den fossilen Energien nachdenken, die auch über die akute Krise hinweg sicherstellen, dass die erneuerbaren Energien profitabler sind als die fossilen. Oder über einen Preiskorridor, der international umgesetzt wird. Dafür bräuchte es internationale Kooperation, was immer eine Herausforderung ist. Fangen wir also mit der Übergewinnsteuer an.

Weber, Isabella M.: »Das Gespenst der Inflation. Wie China der Schocktherapie entkam«, Suhrkamp, Berlin, 2023

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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