Wirtschaft
anders denken.

Und wieder winkt der Neoliberalismus

21.11.2023
Javier MileiFoto: Ilan Berkenwald: Javier Milei 2022 ,Lizenz: CC BY-SA 2.0

Mit dem Wahlsieg des selbst ernannten Anarchokapitalisten Javier Milei kommen auf Argentinien harte Zeiten zu. Inwiefern der künftige Präsident seine staatsfeindliche Politik durchsetzen kann, ist allerdings fraglich.

Im Wahlkampf trat er gerne mit Kettensäge auf. Javier Milei, der die Stichwahl um die argentinische Präsidentschaft am Sonntag mit knapp 56 Prozent der Stimmen überraschend deutlich gegen den amtierenden Wirtschaftsminister Sergio Massa gewann, würde das bestehende System am liebsten radikal beschneiden. Den Staat vergleicht er mit »einem Pädophilen in einem Kindergarten voll gefesselter Kinder, die in Vaseline getaucht sind«. Dies ist bei weitem nicht das einzige ekelhafte Zitat aus dem Wahlkampf, das die Gedankenwelt des künftigen Präsidenten Argentiniens offenlegt. Der politische Shooting-Star Milei hat außerdem einen Hang zu unkontrollierten Wutausbrüchen und exzentrischen Auftritten. Es ist somit ein Leichtes, Milei als einen vom Hass auf alles Linke, Kollektive und Fortschrittliche angetriebenen Psychopathen darzustellen, der denkbar ungeeignet dafür ist, politische und wirtschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Ähnlich wie Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien wurde Milei jedoch gerade aufgrund seiner absoluten Respektlosigkeit gegenüber einer politischen Klasse gewählt, die viele – vor allem junge – Menschen entschieden ablehnen. Um die Auswirkungen von Mileis Wahlerfolg zu verstehen, reicht es also nicht, dessen Auftreten zu kritisieren. Denn unabhängig davon, wie er sie vortragen würde: Das Hauptproblem an Milei sind seine politischen Vorschläge und Inhalte, die er nach seiner Amtsübernahme am 10. Dezember umsetzen will. Zumindest in wirtschaftlicher Sicht haben diese gar nicht so nicht viel mit Trump oder Bolsonaro gemein.

Den Staat hält Milei für eine kriminelle Organisation, die mit der zwangsweisen Eintreibung von Steuern die individuelle Freiheit einschränkt. Diese Freiheit, für die der rechte Libertäre oder selbsternannte Anarchokapitalist eintritt, nützt freilich nur den Reichen und ist in gesellschaftlichen Fragen höchst selektiv. Milei und seine künftige Vizepräsidentin Victoria Villaruel verharmlosen die argentinische Militärdiktatur (1976 bis 1983) und stehen für die Sicht der Täter, die das Land angeblich vor einer vermeintlichen kommunistischen Bedrohung bewahrt haben. Organhandel würde Milei gerne liberalisieren, da jeder selbst über seinen Körper entscheiden dürfe. Abtreibungen, die Argentinien nach langen feministischen Kämpfen 2021 legalisiert hat, lehnt er hingegen strikt ab.

Eine der Hauptursachen für Mileis raschen Aufstieg ist die Unfähigkeit der scheidenden Mitte-Links-Regierung, den wirtschaftlichen Abschwung zu bremsen, der vor allem die unteren Schichten trifft. Die Inflation lag 2022 bei 94 Prozent. Dieses Jahr könnte sie fast doppelt so hoch ausfallen. Die Verantwortung für die wirtschaftliche Lage lasten viele Argentinier:innen sowohl dem Mitte-Links-Spektrum der Peronist:innen als auch der neoliberal-konservativen Lager um Ex-Präsident Mauricio Macri an. In dieser Repräsentationskrise hat Milei es geschafft, sich als vermeintlicher Außenseiter gegen die verkrusteten politischen Lager zu stellen. Wenngleich Mileis Aufstieg eng mit der argentinischen Wirtschaftskrise zusammenhängt, stellt er aber auch eine Reaktion auf gesellschaftliche Fortschritte in den Bereichen Menschenrechte, Geschlechtspolitik und sozialer Absicherung dar, die Argentinien in den vergangenen Jahrzehnten erreicht hat. Zu diesen Themen, die sich aus rechtspopulistischen Kulturkämpfen speisen, gehört auch die Leugnung des menschengemachten Klimawandels, der für Milei etwa als »sozialistische Erfindung« gilt.

Den Staat will Milei auf sieben Ministerien reduzieren. Übrig blieben demnach die Ressorts Wirtschaft, Sicherheit, Justiz, Inneres, Infrastruktur, Auswärtiges und Verteidigung. Staatliche Unternehmen will er privatisieren, die Wirtschaft deregulieren und Staatsausgaben drastisch senken. Dazu sollen Sozialleistungen sowie Subventionen für öffentliche Güter wie Strom, Wasser oder Nahverkehr gestrichen werden. Die eigene Landeswährung Peso will Milei zugunsten des US-Dollars aufgeben und die Zentralbank abschaffen. Es gebe in seiner künftigen Wirtschaftspolitik »keinen Raum für graduelles oder laues Vorgehen, keinen Raum für halbe Sachen«, bekräftigte er in seiner Ansprache nach dem Wahlsieg. Mit solch drastischen Forderungen nach einer Schocktherapie hat noch nie jemand eine Wahl in Argentinien gewonnen. Für das südamerikanische Land bedeutet dies zweifellos einen politischen Einschnitt.

Die wirtschaftlichen Rezepte erinnern indes an eine zugespitzte Version der gescheiterten neoliberalen Experimente der 1990er Jahre. Um die Hyperinflation zu beenden, hatte Präsident Carlos Menem das Land ab 1989 entgegen seiner ursprünglichen Versprechen unter der Ägide des Internationalen Währungsfonds (IWF) mit einer strikt neoliberalen Wirtschaftspolitik umgekrempelt. Er liberalisierte den Kapitalverkehr und Bankensektor, privatisierte Staatsbetriebe weit unter Wert, setzte eine stabilitätsorientierte Währungspolitik durch und ließ den heimischen Peso künstlich an den US-Dollar binden. Die Inflation sank in der Folge deutlich. Investor:innen überschlugen sich vor Begeisterung, der IWF pries Argentinien international als Musterschüler. Das Land wurde mit Krediten überhäuft und galt auch privaten Gläubiger:innen als »sichere Bank«. Denn der Peso war per Gesetz zu einem festen Kurs an den Dollar gebunden und alle vertrauten darauf, dass der IWF einspringen würde, falls es doch mal wieder Zahlungsprobleme gäbe. Die enorme Korruption und Vetternwirtschaft, die vor allem die zweite Hälfte der 1990er Jahre prägte, wollte niemand zur Kenntnis nehmen. Die Dollarbindung mit dem stark überbewerteten Peso schadete zudem der heimischen Industrie, indem sie Importe vergünstigte. Noch als der wirtschaftliche Niedergang Argentiniens sich schon deutlich abzeichnete und Armut wie soziale Ungleichheit bereits deutlich zugenommen hatten, pumpte der IWF weiter frisches Geld ins Land. Erst Ende 2001 zog er dann die Reißleine und verweigerte die Auszahlung einer Kredittranche, die einen Zahlungsausfall und Wirtschaftscrash zur Folge hatte.

Unter den Mitte-Links-Regierungen von Néstor Kirchner (2003 bis 2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007 bis 2015) stabilisierte sich die wirtschaftliche Lage. Argentinien profitierte von hohe Rohstoffpreisen und der Unterstützung durch andere linksgerichtete Regierungen. Der Staat griff wieder stärker ins Wirtschaftsgeschehen ein, löste sich aus den Klauen des IWF und setzte einen weitgehenden Schuldenschnitt durch. Armut und soziale Ungleichheit gingen merklich zurück. Der neoliberale Präsident Mauricio Macri (2015 bis 2019) brachte das Land nach seinem Wahlsieg zurück an die Finanzmärkte, indem er die sogenannten Geierfonds ausbezahlte, die wertlose argentinische Schuldtitel zu Ramschpreisen aufgekauft hatten. Aber das Land rutschte erneut in die Wirtschaftskrise ab. Da der Präsident seine Wiederwahl gefährdet sah, nahm Macri beim IWF unter dubiosen Umständen einen Rekordkredit von 57 Milliarden US-Dollar auf. Die Wahl verlor er dennoch. Hätte sich die jetzt scheidende Regierung unter dem Links-Peronisten Alberto Fernández (nicht mit Cristina Fernández verwandt) mit dem IWF im März 2022 nicht auf eine Umschuldung geeinigt, wäre Argentinien erneut zahlungsunfähig gewesen.

Nichts spricht dafür, dass es unter Milei anderes laufen sollte als in den vorangegangenen neoliberalen Perioden. Seine politischen Ansichten stellen eine im Vergleich zu den 1990er Jahren zugespitzte Form des Klassenkampfes von oben dar und werden die soziale Lage der großen Mehrheit der Bevölkerung verschlechtern. Dass dies in Argentinien mit seinen gut organisierten sozialen Bewegungen und Gewerkschaften ohne massiven Widerstand auf der Straße durchsetzbar ist, scheint ausgeschlossen. Mileis angekündigter sozialer Kahlschlag wird zu einem Anwachsen von Konflikten und Widerstand führen, auf das der neue Präsident mit hoher Wahrscheinlichkeit repressiv reagieren wird. Aber auch aus den Institutionen hat Milei massiven Gegenwind zu befürchten. Er verfügt weder über Gouverneur:innen noch Bürgermeister:innen. Im Abgeordnetenhaus stellt seine Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) nur 36 von 257, im Senat – der zweiten Parlamentskammer – lediglich acht von 72 Sitzen. Ausgerechnet Ex-Präsident Mauricio Macri unterstützte Milei in der Stichwahl und dürfte zentral werden, um Regierungsfähigkeit herzustellen. Wahrscheinlich wird es zu einer Art Koalitionsregierung kommen, in der Macris Bündnis »Juntos por el Cambio« (Gemeinsam für den Wandel), dessen Kandidatin Patricia Bullrich die Stichwahl verpasst hatte, großen Einfluss ausübt. Dieses stellt hinter den Peronist:innen in beiden Kongresskammern die zweitstärkste Kraft. Die Annäherung an Milei tragen aber bei weitem nicht alle Abgeordneten mit. Laut Schätzungen dürfte Milei im Kongress letztlich etwa ein Drittel der Abgeordneten hinter sich versammeln. Mit der Kettensäge allein wird er also nicht weit kommen. Zwar könnte er zunächst versuchen, möglichst viel mittels Dekreten durchzusetzen. Diese müssten zu einem späteren Zeitpunkt allerdings vom Kongress ratifiziert werden. Auch hat Milei im Wahlkampf angedeutet, über bestimmte Entscheidungen Referenden anzusetzen. Auch diese müssten laut gültigem Recht allerdings durch das Parlament bestätigt werden. Er ist also darauf angewiesen, auch mit politischen Gegner:innen zu verhandeln. Dies aber könnte schnell dazu führen, dass Milei sein Versprechen, den Staat radikal zu minimieren, nicht wird halten können und an Popularität verliert. Und selbst ohne die institutionellen Schranken dürften Vorschläge wie die Dollarisierung der Wirtschaft samt Abschaffung der Zentralbank kaum umsetzbar sein. Aktuell zirkulieren in der argentinischen Wirtschaft viel zu wenige Dollar und bisher hat noch kein Land, das den US-Dollar übernommen hat, die Zentralbank abgeschafft.

Mileis brachiale Rhetorik gegen den Staat und die gesamte politische Klasse könnte also am Ende in einer neu verhandelten Variante neoliberaler Politik münden, wie sie in Argentinien bereits mehrfach gescheitert ist, die aber nicht so weit geht wie Mileis diffuser »Rechtslibertarismus«. Um sich dauerhaft in der argentinischen Politik zu etablieren, müsste Milei seinen Einfluss in den Institutionen stärken und eine soziale Basis aufbauen, die über die reine Ablehnung der aktuellen Politik hinausgeht.

Für die ärmeren Bevölkerungsteile, soziale Bewegungen und (Mitte-)links-Politiker:innen heißt es nun zunächst, das Schlimmste zu verhindern und eine glaubhafte linke Alternative zu entwickeln. Dann könnte Milei bald schon wieder Geschichte sein. Doch bis dahin stehen Argentinien mindestens vier verlorene Jahre bevor.

Geschrieben von:

Tobias Lambert

Freier Journalist

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