Wirtschaft
anders denken.

Jenseits der Kompetenzen 

11.05.2020
Mehr Demokratie, CC BY-SA 2.0

Das Bundesverfassungsgericht hat das Anleihekaufprogramm der EZB – kurz: PSPP – für kompetenzwidrig und eine Entscheidung des Europäische Gerichtshofs dazu als ultra vires, als eine Entscheidung, die außerhalb der Kompetenzen des EuGH erklärt. Ein Kommentar.

Die Konstruktion eines Ultra-Vires-Akts

Das Bundesverfassungsgericht hat zur Kritik des Public Sektor Purchase Programm der Europäischen Zentralbank EZB, dem Anleihekaufprogramm kurz: PSPP, zwei unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, die das gesamte Urteil durchziehen und die rechtliche Basis seiner Kritik an diesem Programm und damit an der EZB darstellen. 

Das ist einmal die Redewendung Ultra Vires, also jenseits der Kompetenzen oder Machtbefugnisse und damit in engen Zusammen der Begriff der begrenzten Eigenermächtigung. Diese Begriffe haben Tradition in der Kritik des Bundesverfassungsgerichts an Entscheidungen des EuGH. Hier ist gemeint, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit seiner Entscheidung vom 11. Dezember 2018, mit der PSPP als durch das Mandat der EZB gedeckt erklärt wurde, eigenmächtig gehandelt hat und dass diese Entscheidung eine begrenzte Eigenermächtigung des Gerichtshofs sei. Das Bundesverfassungsgericht erklärt damit einerseits, dass der EuGH nicht legitimiert ist, eine solche Entscheidung zu treffen und dass die hinter dieser Entscheidung stehende Selbstermächtigung ihre Grenzen im deutschen Verfassungsrecht findet. 

Es geht also darum, eine Grenze zu ziehen zwischen dem europäischen Recht und dem deutschen Recht, um herauszufinden, wo europäische Recht eine Lücke aufweist, in der deutsches Verfassungsrecht zur Anwendung kommen kann und kommen muss. Die entscheidende Frage ist daher, in welchen Aspekten das europäische Recht, hier der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) so offen ist, dass es durch nationale Gerichte überprüft und in Frage gestellt werden kann. Wenn es um die Aufgaben und Befugnisse des Europäischen Systems der Zentralbanken, also die Gemeinschaft von EZB und den nationalen Zentralbanken, und das Verhältnis zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken in der Währungsunion geht.

Wirtschafts- und Währungspolitik und die EZB

Die Arbeitsweise und die Befugnisse des Europäischen Systems der Zentralbanken im Allgemeinen und der EZB im Besonderen sind unter dem Titel VIII – Wirtschafts- und Währungspolitik – in den Artikeln 119-138 festgelegt. Dabei handelt es sich bei den Artikeln 120-126 um Fragen der Wirtschaftspolitik, 127-133 Fragen der Währungspolitik, 134 und 138 institutionelle Bestimmungen zur Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den europäischen Institutionen.

Die in der Öffentlichkeit bekanntesten Normen sind in Artikel 123 festgelegt, der sich im Kapitel über die Wirtschaftspolitik befindet. Das heißt, dass in den Europäischen Verträgen festgelegt wird, dass die Geldpolitik der EZB bzw. des Europäischen Systems der Zentralbanken unter Wirtschaftspolitik eingereiht wird. Die Kritik, die EZB betreibe mit ihrer Geldpolitik Wirtschaftspolitik, was nicht ihre Aufgabe sei, hat daher keine Basis im Europarecht, im Gegenteil. In diesem Artikel steht das Verbot der direkten Kreditvergabe des Europäischen Systems der Zentralbanken an die öffentlichen Gebietskörperschaften im Euroraum und der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln der Mitgliedsstaaten. Das Recht zum unmittelbaren Erwerb von öffentlichen Schuldtiteln wird dagegen öffentlichen und privaten Geschäftsbanken eingeräumt. Das hat dann in der Folge zur Trennung von Primärmarkt und sekundären Märkten geführt. Auf dem ersten erwirbt eine ausgesuchte Bietergruppe von Geschäftsbanken die Staatsanleihen, auf den zweiten handeln Banken, Investoren und auch Privathaushalte mit diesen Wertpapieren. Hier darf auch die EZB über ihre nationalen Zentralbanken Staatsanleihen erwerben und in ihre Bilanz nehmen. 

In der öffentlichen Diskussion sind auch die Normen des Artikel 127, die das Europäische System der Zentralbanken auf das Ziel der Sicherung der Preisstabilität verpflichten und, sofern dies nicht mit diesem Ziel in Konflikt gerät, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union zu unterstützen. Es ist also eine scharfe Trennung zwischen Geldpolitik und Wirtschaftspolitik nicht möglich, weil das ESZB auf beide Feldern agieren muss, um ihre Aufgaben zu erfüllen. In Artikel 130 wird die Unabhängigkeit des ESZB von Anweisungen der Institutionen der öffentlichen Gebietskörperschaften und sonstigen Organen der Mitgliedstaaten geregelt. Die EZB und ihre nationalen Zentralbanken, also auch die Bundesbank, dürfen den Anweisungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 explizit nicht folgen, was die vom Bundesverfassungsgericht erteilte Anweisung an die Bundesbank nach drei Monaten an diesem Programm nicht mehr teilzunehmen, geradezu skurril erscheinen lässt.    

Die aus diesem Recht resultierende Praxis, also das PSPP, sind durch den EuGH mit diesem Urteil vom 18. Dezember 2018, das auf einen Vorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts erfolgt ist, legitimiert worden. Das nennt das Bundesverfassungsgericht eine „begrenzte Eigenermächtigung“, die der EuGH vorgenommen hat und die einen so genannten Ultra-Vires-Akt darstellt.

Wenn wir diese Artikel 119 bis 138 insgesamt gelesen werden, so haben vier Institutionen die Möglichkeit, den Vollzug dieser Bestimmungen zu kontrollieren. Das sind der Europäische Rat, die EU-Kommission, das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof. Dieser hat daher mit seinem Urteil zum PSPP keine „Eigenermächtigung“ betrieben, wie das Bundesverfassungsgericht behauptet, sondern handelt im Rahmen seines Mandats, dass in diesen Rechtsnormen des AEUV festgelegt wurde. Auch die Rechtsfigur eines Ultra-Vires-Akts findet sich in diesen Normen des AEUV nicht.

Beide Begriffe sind konstruiert worden, um dem Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen, in europäisches Recht durch Urteile einzugreifen, obwohl dieses Recht nach den Verträgen ausschließlich dem EuGH eingeräumt wird. Faktisch wird damit behauptet, dass das europäische Recht in bestimmten Aspekten dem deutschen Grundgesetz entgegensteht, mit der Folge, dass das Bundesverfassungsgericht in die durch den AEUV definierten Befugnisse der EZB eingreifen darf. Das hat das Gericht gemacht und dieses Ankaufprogramm als unverhältnismäßig erklärt, weil bestimmte wirtschaftspolitische Folgen des Ankaufprogramms nicht ausreichend geprüft worden sind. Sachlich ist diese Behauptung falsch, weil sich die EZB mehrfach mit der Kritik an ihren Anleihekäufen auseinandergesetzt und auf die Einwände geantwortet hat.

Das deutsche Grundgesetz und der Artikel 88

 Absurd wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wenn wir einen Blick auf Artikel 88 Grundgesetz werfen. Dieser regelt die Zuständigkeiten der nationalen Zentralbank, also der Deutschen Bundesbank. „Der Bund errichtet eine Währungs- und Notenbank als Bundesbank. Ihre Aufgaben und Befugnisse können im Rahmen der Europäischen Union der Europäischen Zentralbank übertragen werden, die unabhängig ist und dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität verpflichtet.“ Artikel 88 Grundgesetz wird im Urteil auch erwähnt (S.108). Das Bundesverfassungsgericht stellt dazu fest, dass die aus seiner Anweisung sich ergebende Verpflichtung nicht an der Unabhängigkeit der Bundesbank scheitert. Deshalb wird es der Bundesbank untersagt, an der Umsetzung und dem Vollzug der Entscheidungen des ESZB mitzuwirken (S. 109).

Das Gericht verkennt hier offensichtlich die institutionelle Abgrenzung zwischen einer nationalen Zentralbank und ihrer Funktion im System der europäischen Zentralbanken. Die Bundesbank ist eine hybride Organisation. Sie ist in Fragen der Geldpolitik integraler Teil des ESZB und in diesem System muss sie den Entscheidungen der EZB und deren Organe folgen. Ein fiktives Anweisungsrecht nationaler Gerichte an die Bundesbank kann es daher nur in Fragen geben, die die Aufgaben der Geldpolitik nicht berühren, weil die Bundesbank hier als europäische Institution handelt und der EuGH als richterliche Kontrolle zuständig ist. In anderen Fragen, z.B. des Arbeits- oder Beamtenrechts unterliegt die Bundesbank den Entscheidungen nationaler Gerichte, hier also Arbeits- und Verwaltungsgerichten, nicht aber in den Fragen, die in den Kapiteln Wirtschaftspolitik und Währungspolitik und in Artikel 88 Grundgesetz geregelt ist. Das Bundesverfassungsgericht hat für sich ein Recht der unbegrenzten Eigenermächtigung geschaffen, dass sie über europäisches Recht zu setzen versucht. Daher ist völlig klar, dass die europäischen Institutionen diesem angemaßten Recht nicht folgen können und werden. Das ESZB steht nicht über dem Recht, aber es ist europäisches Recht, auf dessen Basis die Kontrolle der Entscheidungen des Systems der europäischen Zentralbanken zu erfolgen hat.

Das Gericht als Beute des Rechtspopulismus?

Das Bundesverfassungsgericht hat sich von deutschen Rechtspopulisten und dogmatischen Ordoliberalen kapern lassen und dabei neues Recht zu schaffen versucht. Ihm ist dabei das Mindestmaß an politischen Instinkt, für welche Zwecke es sich hier instrumentalisieren lässt, verloren gegangen. In einer Währungsunion mit unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Interessen, stellt sich die Frage der Unabhängigkeit der Zentralbank anders als bei einer rein nationalen Zentralbank. 

Damit eine bestimmte Nation, hier Deutschland in seiner rechtspopulistischen Variante, sich in wichtigen wirtschafts- und geldpolitischen Fragen nicht über andere Mitgliedsländer in der EU stellen kann, ist die Unabhängigkeit der Zentralbank unverzichtbar. Die deutsche Bundesregierung hat sich in wichtigen finanzpolitischen Fragen in den vergangenen fast drei Jahrzehnten eine hegemoniale Position erobert und damit die Krisen der Europäischen Währungsunion verstärkt. 

Ein deutsches Gericht, dass sich durch Eigenermächtigung über den EuGH stellt, ist nicht nur eine Provokation für die europäischen Institutionen, sondern verstärkt die bereits seit der Eurokrise 2010-12 aufgekommene Kritik an der gerade nicht wohlwollenden deutschen Hegemonie in Europa, die sich mit der Blockade von Euro- bzw. Coronabonds, also gemeinsamer europäischer Staatsanleihen deutlich zeigt. 

In dieser historischen Konstellation ist es politisch instinktlos, wenn dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts von linker Seite, wenn auch mit Einschränkungen unterstützt wird. So hat der linke Jurist Andreas Fisahn, der schon die LINKE in Verfahren gegen Entscheidungen des EZB vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten hat, dort aber unterlegen war, den deutschen Verfassungsrichtern ein juristisch überzeugendes Urteil bescheinigt, zugleich aber zugestanden, dass das Urteil „ mittelfristig möglicherweise problematische Konsequenzen“ hat. Er sieht in dem Urteil jedoch die Chance zu einer notwendigen Änderung der europäischen Verträge, mit denen es möglich wird, „alte deutsche Dogmen über Bord zu werfen“. 

Diese Hoffnung überrascht, weil das Gericht gerade dabei diese alten deutschen Dogmen, die die EZB mit ihrer Geldpolitik ignoriert hat, wieder zu bekräftigen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Kritik an den Anleihekäufen der EZB exakt die Punkte aufgegriffen, die zu den Ordnungsprinzipien oder -tugenden des stabilitätspolitischen Handelsmerkantilismus Deutschlands gehören: Die Staatsanleihenkäufe, die das Ziel haben, das Zinsniveau niedrig zu halten, würden den notwendigen Bemühungen, die Staatshaushalte zu konsolidieren, entgegenstehen. Sie würden in der Tendenz die Sparer enteignen, seien nachteilig für die Versicherungswirtschaft und würden sogenannte „Zombieunternehmen“ künstlich am Leben halten. Zusätzlich wird die Gefahr von Blasen auf den Aktien und Immobilienmärkten aufgeführt. 

Damit wollen sie erreichen, dass höhere Zinsen wieder die Funktion einer Marktbereinigung bekommen, ein zentraler Gedanke der neoklassischen Wirtschaftsdogmatik. Alle kritisierten Phänomene, niedrige Zinsen, Aktien- und Immobilienblasen zeigen internationale Prozesse, die auch außerhalb des Euroraums existieren und deshalb nicht kausal auf die Geldpolitik der EZB zurückgeführt werden können. Auch zeigt das BVerfG mit dieser Kritik, dass es die internationale Diskussion über eine Geldpolitik der niedrigen Leitzinsen und der Anleihekäufe nicht kennt. 

Die überzeugende juristische Argumentation, die von anderen Europarechtlern wie Franz Mayer vernichtend kritisiert wird, ist daher ein bloßes Glasperlenspiel, das die ökonomische Wirklichkeit weitgehend ausblendet. 

Der Zweck der Anleihekäufe, die Zinsen für Staatsanleihen der Euroländer niedrig zu halten, damit den Ländern das Begeben von Staatsanleihen weiter möglich ist – in der Regel werden Staatsanleihen durch den Verkauf weiterer Staatsanleihen getilgt – wird vom Bundesverfassungsgericht gerade nicht positiv gewertet, obwohl diese Verfahren für den Erhalt der Währungsunion und eine weitere Integration Europas notwendig sind. Sie sichern damit funktionsfähige öffentliche Haushalte, was für viele Länder, in denen Sozialleistungen mit öffentlichen Mitteln finanziert in einer Wirtschaftskrise von elementarer Bedeutung ist. 

Die linke Kritik schert das nicht, weil sie in einem konservativen Gericht und den rechtspopulistischen Antragstellern vermutlich Verbündete sieht, nicht nur in der Kritik an EZB und EuGH, sondern auch beim Versuch europäisches Recht zu demokratisieren und sozialer zu machen. Diese Verbündeten wollen aber im Resultat das Zurückdrehen der europäischen Integration und, was die meisten Antragsteller betrifft, das Ende der Europäischen Währungsunion.

Geschrieben von:

Michael Wendl
Michael Wendl

Mitherausgeber von »Sozialismus«

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