Wirtschaft
anders denken.

Käse und eine andere Welt des Wirtschaftens

06.04.2017
Parmesan-Käse Laiber in einer Genossenschaft in Reggio Emilia.Foto: Pit WuhrerViele Parmigiano-Reggiano-Käsereien funktionieren als Kooperativen.

Wohl nirgendwo sonst in Europa gibt es eine solche Dichte an Genossenschaften wie in der norditalienischen Provinz Reggio Emilia – trotz der anhaltenden Krise, die viele Kooperativen verschlungen hat.

»Es ist, als wäre eine Bombe explodiert«, sagt Simona Caselli, »noch nie war die Lage so dramatisch.« Caselli ist normalerweise nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Die energische Frau war jahrelang Präsidentin des Genossenschaftsverbands Legacoop von Reggio Emilia gewesen, bevor sie als Agrarministerin in die Regierung der norditalienischen Region Emilia-Romagna berufen wurde; zuvor hatte sie als Direktorin des genossenschaftlichen Finanzdienstleisters CCFS gearbeitet. Sie hat also schon einiges erlebt und viele heikle Situationen gemeistert. Aber jetzt? »Auf die massiven und anhaltenden Umbrüche infolge der Finanzmarktkrise von 2008 haben wir keinen Einfluss«, sagt sie.

Die Krise ist nicht zu übersehen und hält bis heute an. Seit 2007 hat sich die Arbeitslosigkeit in Italien auf zwölf Prozent verdoppelt, über ein Drittel aller Jugendlichen sucht verzweifelt nach einem Job, das Bruttosozialprodukt liegt immer noch deutlich unter dem des Jahres 2007. Besonders dramatisch sieht es im Bausektor aus. Caselli schildert die Misere so: »Viele Banken geben keine Kredite mehr. Die Regierung hat schon vor Jahren einen Investitionsstopp verfügt. Und die Behörden bezahlen, falls überhaupt, erst nach Jahren für erbrachte Leistungen.«

Reggio Emilia: Genossenschaften erwirtschaften fast ein Drittel des regionalen Bruttosozialprodukts.

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Den Folgen der Krise ausgeliefert

Das bringt die stärksten Unternehmen ins Schlingern. Stark waren sie ja gewesen, die Baugenossenschaften in der Provinz Reggio. Doch in den vergangenen vier, fünf Jahren schlitterte eine Kooperative nach der anderen in die Insolvenz. Zuerst die Cooperativa Muratori Reggiolo (CMR) mit ihren 230 GenossenschafterInnen, dann das von ehemaligen Partisanen gegründete Bauarbeiterkollektiv Orion (500 Mitglieder), schließlich das auf Hafen-, Bahnstrecken- und Fabrikbau spezialisierte Unternehmen Coopsette (600 GenossenschafterInnen) mit noch etwa 350 Millionen Euro Umsatz (2013). Und jetzt wankt auch noch die 1904 gegründete Großbaukooperative Unieco mit ihren 1.500 Arbeitereigentümern, die vor Kurzem noch einer anderen Kooperative unter die Arme gegriffen hat – ebenfalls ein Unternehmen mit einem Umsatz von mehreren Hundert Millionen Euro.

Die Unruhe ist gegenwärtig beträchtlich. Dass sogar einst erfolgreiche Kooperativen wie die Industriegenossen­schaft CCPL ums Überleben kämpfen, hat viele verunsichert. Für die GenossenschafterInnen stehen nicht nur ihre Pflichteinlagen auf dem Spiel, sondern auch das Ersparte, das sie – wie in Italien oft üblich – der Kooperative zur Verfügung gestellt haben. Andere Genossenschaften bangen um ihre Unterstützungskredite. Und die RepräsentantInnen der Genossenschaftsbewegung fürchten um den Ruf ihres solidarischen Wirtschaftsmodells.

Den Folgen der Krise ausgeliefert und dennoch erfolgreich: Kooperativen der Reggio Emilia.

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Im Kern stabil

Doch Krisen bestimmen nicht das ganze Bild. Kleinere, hochspezialisierte Baukooperativen wie das 1890 von Malern gegründete Unternehmen Tecton (Marktführer bei der Restaurierung von Kirchen und Palästen) oder das Architekten- und Ingenieurskollektiv Sicrea zeigen sich trotz der Schwierigkeiten erstaunlich robust. Und andere Kooperativen können sowieso nicht klagen. Sicher: Bei den regionalen Konsumgenossenschaften wie Coop und Conad halten sich die Wachstumsraten in Grenzen, aufgrund der stark gesunkenen Einkommen; aber das Wachstum hält an. Die Kooperativen in anderen Branchen und vor allem im Dienstleistungssektor sind wirtschaftlich so stark wie eh und je.

Im Dachverband Legacoop Reggio Emilia – er wurde bereits 1886 gegründet – sind knapp 200 Konsum- und Produktionsgenossenschaften mit insgesamt etwa 600.000 Mitgliedern organisiert. Manche von ihnen sind – wie auch anderswo – im Handel und der Landwirtschaft tätig: Viele Parmigiano-Reggiano-Käsereien funktionieren als Kooperativen, ebenso wie große Weinkellereien, beispielsweise La Riunite, weltweit größte Lambrusco-Produzentin. Sie gehören allerdings nicht den Beschäftigten, sondern den Zulieferern, also den Milch- und Weinbauern. Andere hingegen befinden sich im Eigentum der Belegschaften. Es sind Theater- und Kulturinitiativen, Speditions- und Busunternehmen, Übersetzungsbüros, Fitnessstudios, Restaurantketten wie die Cooperativa Italiana Ristorazione (mit 5.500 GenossenschafterInnen), IT-Firmen, Landmaschinenhersteller, Reinigungs- und Wachdienste, Landvermessungskollektive. Dazu kommen kooperativ organisierte Altenheime, Behindertenwerkstätten, Gasthäuser oder Herbergen.

30.000 Beschäftigte, 30.000 Eigentümer

»Über 30.000 Beschäftigte arbeiten hier in den Produktionskooperativen. Und die gehören ihnen«, sagt Simona Caselli. Die Belegschaften wählen ihre Vorstände und Geschäftsführungen, fassen auf Vollversammlungen Beschlüsse zu den wichtigsten unternehmerischen Fragen, bestimmen über die Höhe der Einlagen und entscheiden über die Ausschüttung von Gewinnen; die Löhne sind auf dem Niveau der jeweiligen Branche, die Arbeitsplatzsicherheit ist auch in der Krise deutlich höher als in klassischen privatwirtschaftlichen Unternehmen. Und diese Kooperativen sind eng vernetzt: über das eigene Geldinstitut Cooperativo Finanziario per lo Sviluppo (CCFS) beispielsweise, das mittlerweile in ganz Italien aktiv ist, aber seinen Sitz unverändert in Reggio hat. Die Genossenschaft wurde 1904 ursprünglich gegründet, um eine regionale Eisenbahn zu bauen und zu betreiben. Heute verwaltet die CCFS die Überschüsse der 200 Genossenschaften und reicht sie mit einem minimalen Zinsaufschlag an Kooperativen weiter, die Kredite benötigen. Sie verfügt über Einlagen in Höhe von rund einer Milliarde Euro; ihr Verwaltungsaufwand ist minimal.

Auch die Kooperative Boorea wurde (im Jahr 2000) von allen anderen Kooperativen gegründet. Sie finanziert sich aus Beiträgen der Mitglieder und Spenden. Sie verfolgt allgemeine kulturelle und soziale Ziele: Sie fördert Projekte in Palästina, Mosambik oder Argentinien; organisiert in den Schulen der Region Unterrichtseinheiten, in denen SchülerInnen die Grundprinzipien kollektiven Wirtschaftens lernen; sie unterstützt die musische Ausbildung von Migrantenkindern und antifaschistische Erinnerungsarbeit. Aktivitäten, über die regelmäßig der — selbstverständlich genossenschaftlich organisierte — regionale TV-Sender Telereggio berichtet. Es gibt also in der Region eine ausgeprägte genossenschaftliche Kultur und Tradition.

Wachsen wie andere Unternehmen

Die Genossenschaften erwirtschaften heute rund ein Drittel des regionalen Bruttoinlandsprodukts. Viele von ihnen wachsen wie andere Unternehmen, produzieren und handeln nicht nur in der Region, sondern weit über sie hinaus. Und: In den vielen Jahren ist in der Region eine Kultur des Kooperierens entstanden: In den Kindergärten der Reggio-Pädagogik – die nach der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg und der Resistenza von Partisaninnen entwickelt worden war – lernen die Drei- bis Sechsjährigen spielend den Wert von Solidarität und Gemeinsinn kennen. In lokalen Schulen steht Gemeinwirtschaft auf dem Lehrplan. Und wer später mit einer Unternehmensgründung liebäugelt, findet bei Legacoop Rat.

Anders wirtschaften auf Italienisch: In den vielen Jahren ist in der Region eine Kultur des Kooperierens entstanden.

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Luca lori ist unzufrieden mit der Stimmung: »Die Genossenschaftsbewegung hat längst ihre Ideale verloren. »Früher habe es zwei Arten von Kooperativen gegeben: die sozialistischen der Arbeiterbewegung, also die roten, und die weißen Kooperativen, welche in Konkurrenz dazu von der katholischen Kirche gegründet worden seien. Jahrzehntelang habe es, so Iori, »deutliche Unterschiede zwischen den beiden Traditionen gegeben«. Diese seien heute verschwunden. Der Grund: Alle Kooperativen, ob einst rot oder weiß, »orientieren sich allesamt viel zu sehr am Markt und haben dessen Regeln übernommen.«

Genossenschaften auf der Suche nach neuen Idealen

Dass es auch anders gehen kann, erläutert Iori am Beispiel von Mag6, einer Finanzgenossenschaft, die er vor etwa dreißig Jahren mitbegründet hat. Mittlerweile gehören rund 1.400 Menschen dieser Kooperative an, die bisher etwa 2,5 Millionen Euro an knapp 200 politische und kulturelle Initiativen verliehen hat. In den Genuss dieser zinsgünstigen Kredite kommen – wie beim großen genossenschaftlichen Finanzdienstleister CCFS – nur Gruppen oder Betriebe, die bei Mag6 selbst Mitglied sind. Anders als CCFS vergibt Mag6 jedoch Gelder nur an Projekte, die keine finanziellen Interessen verfolgen und die, so Iori, »hierarchiefrei sind, selbstverwaltet funktionieren und sich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aller einsetzen«. Seine Kritik an den großen Kooperativen: Sie setzten schon zu lange und zu sehr auf Wachstum.

Für Chefs nur das 3,5-Fache des niedrigsten Gehalts

Da will Simona Caselli nicht widersprechen: »Wir haben uns zu sehr darauf verlassen, dass alles so weitergeht wie in den vergangenen Jahrzehnten.« Zu sehr auf ein Mehr des bereits Bestehenden gesetzt. Das ändere sich jedoch seit einigen Jahren: So biete beispielsweise die Coop-Supermarktkette inzwischen an Schulen und Hochschulen Bildungsprogramme für soziales und ökologisches Konsumieren an. Die Bau-Kooperativen konzentrierten sich stärker auf den Bau von günstigeren und energiesparenden Wohnungen. Und CCFS wolle künftig in allen Branchen vor allem nachhaltige Entwicklungen finanzieren.

Noch aber steht das traditionelle Geschäft im Vordergrund. Dass auch das unverändert mit Erfolg betrieben werden kann, zeigt die Großgenossenschaft Coopservice, deren Mitglieder Gebäude und Krankenhäuser reinigen, Wachdienste schieben, Geld transportieren, und in der Arzneimittellogistik tätig sind. Vor drei Jahren hat Coopservice in Reggio ein modernes Medikamentenlager aufgebaut, um mit dem zentralen Einkauf und Vertrieb von Arzneimitteln die Kosten für das regionale Gesundheitswesen zu senken.

»Das nützt den Spitälern und sichert uns Hunderte von Arbeitsplätzen«, sagt Luca Barracchi, der Leiter des Verteilzentrums. »Die Jobs sind gut bezahlt. Und die obersten Chefs verdienen maximal das 3,5-fache des am schlechtesten entlohnten Arbeiters.« Das funktioniert? Besser als in Unternehmen, die sich auf die Rendite konzentrieren, meint Barracchi: »In den letzten beiden Jahren ist unsere Gesamtbelegschaft von 16.000 auf beinahe 18.500 angewachsen.« Und: Von ähnlichen Zuwächsen berichten auch die meisten anderen Genossenschaften von Reggio.

 

Dieser Beitrag erschien in OXI 3/2017. Mehr vom Autor zum Thema.

Geschrieben von:

Pit Wuhrer

freier Journalist

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