Wirtschaft
anders denken.

Kampf um die Zeit – für ein besseres Leben aller

27.11.2023
Zeit

Nur wenn Zeit zur eigenen Verfügung steht, kann der Mensch  in die Lage gebracht werden, all seine Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Denn Zeit jenseits von Lohnarbeit zu haben, heißt noch lange nicht, über sie verfügen zu können. Das lehrt uns zum Beispiel die Verteilung von Care-Arbeit.

Die Kritik der politischen Ökonomie von Marx und sein kritisches Engagement für die Menschen und deren Befreiung aus den kapitalistischen Verhältnissen, in denen der stumme Zwang herrscht, läuft auch auf die Zeitfrage hinaus, die strukturell eng mit der Freiheit des Einzelnen wie der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verknüpft ist. Die Freiheit bestünde darin, möglichst viel ‚disposable time‘ zu haben, in individueller wie gesellschaftlicher Hinsicht – also Zeit dafür haben, den eigenen Interessen und Bedürfnissen nachzugehen, Zeit qualitativ gut zu verbringen.

Genau darum geht es: Souveränität, die Macht über die Art und Weise zu haben, die eigene Zeit zu verbringen, sei es in schöpferischer oder sonstiger Hinsicht, einschließlich des verruchten, verachteten ‚Faulseins‘. Kollektiv geht es darum, das Reich der Notwendigkeit effizient, zum Wohl aller zu organisieren, um damit das Reich der Freiheit so weit wie nur möglich auszuweiten. Der Zwang zur Lohnarbeit muss hierfür gebrochen, im besten Falle die kapitalistischen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit als solche aufgehoben werden.

Der Mensch kann nur so in die Lage gebracht werden, all seine Potenziale zur Entfaltung bringen zu können. Kreativität, das Ausleben der eigenen Bedürfnisse, Nachdenken etc. benötigen Muße, fernab des Stresses der Arbeit in kapitalistischen Verhältnissen, des alltäglichen Zwanges, den ‚Lebensunterhalt‘ zu verdienen, der nur in den glücklichsten Fällen dauerhaft mit einem Sinn, mit Resonanz verbunden ist. Die Aneignung, die Entdeckung, Erkundung der Welt benötigt Zeit. Insbesondere für Frauen und Mütter geht es darum, die Zeit, die sie für die Care-Arbeit (für Kinder, Angehörige, Haushalt etc.) unter kapitalistisch verfassten Bedingungen aufbringen müssen, sichtbar zu machen und radikal anders zu organisieren, um die Verfügbarkeit über die eigene Zeit möglich zu machen. Oder nehmen wir den Pflegebereich jenseits familiärer Beziehungen: auch hier wäre Zeithaben die Qualität, die es braucht, um den Gepflegten wie Pflegenden gerecht zu werden. Was auch für die akademische Welt gilt: nur gesicherte Verhältnisse führen in der Breite zu den politischen gewollten, ideologisch verhimmelten Fortschritten einer ‚Wissensgesellschaft‘.

Prinzipiell für die Welt der Lehre und Forschung gilt die Forderung: Gebt den Menschen die Zeit, sich um die Student:innen angemessen kümmern zu können, und zugleich den eigenen Forschungsneigungen nachzugehen. Nur so wird es die notwendige Zeit geben, den stetig wachsenden Bücherstapel wegzulesen (oder zumindest in einem Gleichgewicht zwischen Neuanschaffungen und dem gelesenen Material zu schaffen), die vielen PDFs auf deiner eigenen Festplatte zu sichten, den neuesten Stand des Wissens zu erfassen und nicht nur oberflächlich abzugrasen, und damit wirklich zur Kenntnis zu nehmen sowie die Debatten fokussiert zu verfolgen. Nur so kann die fortschreitende Digitalisierung als Fortschritt erlebt werden und nicht als ständige Hast und Zumutung. In der Gegenwart gehört hierzu der Kampf gegen die weiter nach hinten verschobenen Renteneintrittszeit – der Zwang zur fortwährenden Lohnarbeit ist der Raub der eigenen Lebenszeit. Man erinnere nur an die historischen Kämpfe – gegen Kinderarbeit, für den Achtstundentag und durch welche Hölle Generationen der Arbeiterbewegung gegangen sind (und welche Rolle solcherlei Verhältnisse in der globalen Gegenwart noch spielen jenseits des westlichen Erlebens, womit die Externalisierungsgesellschaft, wie sie Stefan Lessenich analysiert hat, in den Blick gerät).

Und die zur Verfügung stehende Zeit wäre auf höherer Ebene auch die notwendige Voraussetzung für die qualitative Auffrischung demokratischer Verhältnisse – sich mit den Verhältnisse, Prozesse beschäftigen zu können, sie zu durchdringen, in der Lage zu sein, Ideen entwickeln zu können, bis zur Frage der politischen Organisierungsmöglichkeit, in Form beispielsweise der Beteiligungen an konkreten politischen Bewegung und Parteien – weil man eben nicht vom Lohnarbeitsalltag und den anschließenden zu organisierenden sonstigen Alltäglichkeiten erschöpft ist. Dies zusammengenommen wäre der Kampf gegen Entfremdung, Verdinglichung und Ausbeutung, für die körperliche wie psychische Unversehrtheit, die Ermöglichung, Potenziale zu erforschen, ohne dies aber zu müssen, inbegriffen. Es geht um die Ermöglichung dazu. Denn der jetzige westliche Alltag ist nichts weiter als eine einzige Politikverhinderungsmaschine, die uns umfassend verschleißt, das gilt auch für den gegenwärtigen akademischen Raum, der auf den Wettbewerb ausgerichtet ist – auf den Kampf gegen die Zeit, gegen Deadlines, gegen die tiefreichende (strukturelle) Erschöpfung, und das eigene Altern: denn aktuell sind, politisch so gewollt und universitär umgesetzt, die Alters- und Zeitgrenzen schnell erreicht, zu denen man promoviert und habilitiert sein muss, um überhaupt potenziell eine professorale Dauerstelle zu erhalten. Anderenfalls beginnt der Kampf um knappe Förderungsgelder, die dann zeitlich je nach Projekt eng begrenzt sind.

Es geht darum, einen Mittelweg zwischen dem individuellen und dem kollektiven Ende des Spektrums zu finden, das Individuum kann nicht permanent überfordert werden. All dies hätte auch Auswirkungen auf die Qualitätsverbesserung – beziehungsweise überhaupt deren Realisierungsmöglichkeit – der umfassenden Beziehungsweisen, wie sie Bini Adamczak ausbuchstabiert hat. Um mit der Umsetzung überhaupt zu beginnen, müssen die verschiedenen bestehenden Initiativen und Bewegungen miteinander verkoppelt werden, aufeinander Bezug nehmen, gemeinsam agieren: #ichbinhanna #ichbinreyan für die Universitäten, die Wissenschaftler:innen zur Care-Arbeit, die verschiedenen Akteure der Viertagewoche (bei vollem Lohn) in Wirtschaft und Politik und den diversen radikaleren Akteuren. Es muss an den Alltag der Menschen angeknüpft werden, was doch eigentlich problemlos möglich ist.

Das Bewusstsein dafür, dass es hier um strukturelle Zusammenhänge geht, nicht um individuelle Verantwortlichkeiten, muss gestärkt werden. Aber selbst das Funktionieren der gegenwärtigen Verhältnisse wäre bei genauerer Betrachtung auf ein besseres Zeitregime angewiesen, um nicht permanent durch die eigenen Schwächen unterlaufen und auf Dauer unterminiert zu werden: Zeit zu haben, Gesetzesvorhaben zu durchdenken, umfassend zu diskutieren, Zeit zu haben, zu verschnaufen, das Leben zu genießen, nicht ständig darum zu trauern, Möglichkeiten verpasst oder auch erst gar nicht zu haben.

Auf höherer Ebene: Zeit zu haben, die Konsequenzen des Klimawandels intellektuell zu erfassen und diese wohl derzeit wichtigste Dimension der fortschreitenden Multiplen Krise politisch und gesellschaftlich zielgerichtet anzugehen, bevor die Kipppunkte erreicht sind – denn anderenfalls wäre es auch fast egal ob wir dann je mal Zeit haben, wenn die Welt schlicht nicht mehr dafür zur Verfügung steht, eine schöne Zeit hier zu verbringen (oder eben nur für die die, die reich und mächtig genug sind, womit die Klassenverhältnisse in den Blick geraten), sondern um das blanke Überleben zu kämpfen.

Geschrieben von:

Sebastian Klauke

Politikwissenschaftler

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