Wirtschaft
anders denken.

»Im Grabe umdrehen!«: Marx-Zitatewerfen im Bundestag. Ein kurzer Lehrgang

05.05.2018
Tim Tregenza , Lizenz: CC BY-SA 3.0

Sie kennen die Sportart Marx-Zitatewerfen im Bundestag nicht? Das muss sich ändern! Unser Kurzer Lehrgang für Einsteiger, Fortgeschrittene, Besserahner und andere Marxologen. Oder, wie es so schön heißt: »Das wissen wir besser.«

Diese Disziplin der angewandten politischen Rhetorik ist schon älter, es sind zuletzt aber wieder mehr Athleten dazugestoßen. Bei der Sportart geht es darum, an meist völlig zufälligen Stellen beim Ablesen von langweiligen Politikerreden den Namen Marx anzuführen. Es haben sich hierbei in der Vergangenheit verschiedene Techniken etabliert, wie beim Hochsprung sozusagen, mancher macht den Marx als Frontalhocke, mancher als Fosbury-Flop, mancher als Wälzer. 

Marx-Zitatewerfen ist, das muss hier genderkritisch vorangestellt werden, immer noch eine weitgehend männliche Disziplin. Zuletzt hat sich darin unter anderem der Rechtsradikale Albrecht Glaser geübt. Der AfD-Abgeordnete führt dabei eine Unterart des Sports zu einer gewissen Performance: den Marx-Teufel. Der geht so: »Wer den neuen Menschen will – ich bin sofort am Ende meiner Rede, Herr Präsident –, wer den Kontinentalstaat oder den Weltstaat will, hat vielleicht Thomas Morus, vielleicht auch Immanuel Kant und Karl Marx gelesen, nicht jedoch George Orwell. Leute, die das ins Werk setzen, sind gefährlich . Sie beseitigen die Freiheit, die Demokratie und die Menschenrechte.« (Bundestag, 22. März 2018)

Ein Mann namens Götz Frömming, ebenfalls für die Rechtsaußenpartei im Parlament, hat das variiert – die Methode: Indem Marx neben eine Person gestellt wird, vor der sich zu Gruseln auch zum etablierten Wohlverhalten gehört, dient er als Warnmetapher. Das geht dann so: »Schulen, meine Damen und Herren, dürfen nach Auffassung der Alternative für Deutschland kein Ort für soziale Experimente oder für die Durchsetzung von Gesellschaftsutopien sein. In ihnen, füge ich hinzu, sollten allein die Vermittlung von Bildung und Wissen im Mittelpunkt stehen . Nicht Marx oder Honecker – Margot meine ich hier – dürfen in Bildungsfragen der heimliche Fixstern sein, sondern Humboldt und Goethe.« (Bundestag, 22. November 2017) Das ausgerechnet einer aus der Truppe »Vorläufer des Faschismus« sich auf Humboldt und Goethe bezieht, nun, denken Sie sich Ihr Urteil dazu.

Erweiterte Kenntnis aus unerwarteter Richtung

Aber man soll die Boten eines kommenden Unglücks nicht noch dadurch stärken, indem man sie ständig zitiert. Also zur nächsten Spielart im parlamentarischen Marx-Zitatewerfen: der erweiterten Kenntnis aus unerwarteter Richtung. Ein Meister darin darf der Unionsabgeordnete Matthias Zimmer genannt werden, von dem man annehmen darf, dass er den Alten aus Trier wirklich gelesen hat (was nicht für alle in der Union gilt, und nicht einmal für alle in der Linkspartei). Zimmer: »Eine zweite Herausforderung sehe ich in der möglichen Zerfaserung der Arbeitswelt. Karl Marx hat in der Deutschen Ideologie das Reich der Freiheit einmal konkretisiert als die Möglichkeit, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem Essen zu kritisieren, ohne jemals Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden . Eine wahrhaft noble Vision! Wir müssen uns aber heute eher der Gefahr erwehren, dass in absehbarer Zeit durch Internetplattformen ein Arbeitnehmer morgens Buchhaltung macht, mittags Sekretariatsaufgaben erledigt, abends Pflegedienste leistet und nach dem Essen die Akquise der Aufträge für den Folgetag macht, ohne jemals Buchhalter, Bürofachkraft oder Pfleger zu sein, weil man eigentlich soloselbstständig ist und die soziale Absicherung in weite Ferne gerückt ist. Das Reich der Freiheit wäre damit ebenso in weite Ferne gerückt wie verlässliche soziale Perspektiven. Das wäre das Aufkommen eines digitalen Prekariats, unfähig, sich als Gemeinschaft zu organisieren, zerfasert sowohl in der Arbeit als auch in der Arbeitsorganisation, die endgültige Reduktion des Einzelnen auf einen Kostenfaktor. Man muss ja die Vision von Marx nicht teilen. Aber der Sumpf der bloßen Notwendigkeit, der sich hier als Gefahr auftut, entspricht auch nicht unserem Menschenbild als christliche Demokraten. Zugegeben, eine düstere Vision. Aber schon heute tun wir ja so, als ob das Heil aller Arbeitnehmer darin liege, über Arbeit 4 .0 mehr Flexibilität zu haben, örtlich und zeitlich. Das halte ich für zu kurz gegriffen. Ein Zugewinn an Flexibilität ist nicht gleichzusetzen mit einem Zugewinn an Autonomie oder gar an Emanzipation.« (Bundestag 2. Juni 2017)

Dafür verzeichnete das Bundestagsprotokoll dann »Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN«, was nicht oft vorkommt. Auch nicht in Sachen Marx, denn da gibt es eine dritte Spielart: den linken Besserwisser. Als eben jener Unionsabgeordnete Zimmer einmal über »das Leitbild eines eigenständigen, selbstverantwortlichen Menschen« sprach, was irgendwie als Argument gegen eine auskömmliche Mindestsicherung dienen sollte, da zeigte der Geheimdienstexperte Jörg-Diether Wilhelm Dehm-Desoi, den man von Reden kennt, in denen der Außenminister vorkommt, sein Können in dieser Teildisziplin: Auf Zimmers Vorhalt, »Marx und Engels würden sich da im Grabe umdrehen«, rief Dehm in den Saal: »Matthias, das wissen wir besser!« (Bundestag 19. Januar 2018)

Lagerübergreifende Marx-basierte Zustimmung

Soll heißen: Das ist unser Marx. Und man würde sich, denkt man kurz darüber nach, eigentlich auch gern im Grabe umdrehen. In eben jenem Schlagabtausch über die Mindestsicherung demonstrierte der Linkspolitiker Matthias W. Birkwald eine sympathischere Spielart: die lagerübergreifende Marx-basierte Zustimmung. Zimmer, schon wieder dieser Unionsabgeordnete, hatte das hohe Haus gerade daran erinnert, dass »für Marx und Engels … die Arbeit nicht nur Grundlage allen Reichtums, sondern Voraussetzung für das Menschsein schlechthin« gewesen sei. Worauf Birkwald etwas sagte, was zwischen Linkspartei und Union eher selten vorkommt: »So ist das!« Marx als verbindender Intellektueller sozusagen. 

Mit der Dehmschen Marx-Beanspruchung konkurriert eine weitere Spielart, bei der es darauf hinausläuft, den Namen Marx auszurufen, um zu zeigen, wie belesen man ist. Als der Unionsabgeordnete Johannes Selle einmal über allerlei Weltprobleme sprach und anmerkte, dass die Grundlagen zu ihrer Lösung eigentlich schon da, nur leider so schlecht verteilt sind, dass es eben nicht zur Lösung dieser Probleme kommt, rief der Grünenpolitiker Uwe Kekeritz laut in den Bundestag: »Das hat schon Karl Marx gesagt.« (Bundestag, 10. März 2017) Was richtig ist, aber im Grunde den Selleschen Gedanken nicht weiterführt, sondern ihm nur eine Plakette anheftet. Kann man machen. Muss man nicht.

»Ich habe schon früher in Debatten…«

Zur Familie der Marx-Besserwisserei gehört noch eine Teildisziplin, bei der es darum geht, anderen Abgeordneten die Kenntnis über den Alten aus Trier abzusprechen. Im folgenden Beispiel ist diese Spielart mit einer anderen Untergruppe kombiniert, bei der es darum geht, die eigene Marx-Kenntnis auch offiziell zur Protokoll zu geben. Nicht immer steht am Ende dann fest, wer die größere Sandform im parlamentarischen Buddelkasten hat. Aber hej, Marx im Parlament, was will man da meckern.

Ein Zwiegespräch zwischen Wolfgang Gehrcke (Linkspartei) und Niels Annen (SPD): »Lieber Niels Annen,… Ich habe schon früher in Debatten mit dem Kollegen Kiesewetter immer gesagt: Natürlich muss eine Industrialisierung des Landes erfolgen. Schroffer gesagt: Die Einführung des Kapitalismus bringt ein Stück weit Befreiung mit sich, weil er in solchen Ländern andere Produktionsbedingungen schafft. Das ist klar. Das können Sie auch bei Marx lesen. Aber Sie lesen Marx ja nicht einmal… +++ Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Herr Annen, Sie haben das Wort zur Erwiderung. +++ Niels Annen: Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Geschätzter Kollege Gehrcke, ich muss als ehemaliger Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten Ihre Unterstellung, ich hätte Marx nicht gelesen, zurückweisen.« (Bundestag, 26. Januar 2017)

Der Ankauf von alten Lenin-Statuen

Das Protokoll vermerkt hier »Heiterkeit bei der SPD«, was nicht zum Lachen ist, wenn man sich vor Augen führt, welche Rolle ein an Marx anschließendes kritisches Denken zum Zwecke der Veränderung bei den Sozialdemokraten noch hat. Es ist woanders nicht besser, was der Abgeordnete Arnold Vaatz von der CDU eindrucksvoll vorführt – mit einem nun ja: Versuch sarkastischer Polemik mit Marx. Das wäre eine weitere Untergruppe der Zitatewerferei und sie geht so: »Seit langem beobachten wir, dass der Westen auf dem Weg in den Osten ist – geistig. Dafür gibt es jetzt ein leuchtendes Beispiel. Ich wollte gestern eigentlich einen Brief an den Oberbürgermeister von Trier schreiben; ich habe es aber unterlassen. Dort entsteht gerade eine Karl-Marx-Statue, von China bezahlt, 6,50 Meter hoch. Tolle Sache! Eigentlich wollte ich dem Oberbürgermeister dazu gratulieren und ihm den Vorschlag machen, dass die Stadt Trier, weil ja durch die Wiedervereinigung der Name ›Karl-Marx-Stadt‹ frei geworden ist, den Antrag stellt, sich in ›Karl-Marx-Stadt‹ umzubenennen.« (Bundestag, 30. September 2016)

Das ist natürlich ein großer Brüller, der zu »Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU« so naturnotwendig führen muss, wie im falschen Marx-Verständnis die Geschichte ins sozialistische Shangri-La. Vaatz fühlte sich ob der Wirkung seines Humors sogleich dazu aufgefordert, die Schraube noch ein wenig weiterzudrehen – bis es wehtut: »Vielleicht ist ja bei Frau Grütters auch noch ein bisschen Geld übrig. Dann könnte man ein Programm für den Ankauf von alten Lenin-Statuen machen. Die Polen sind froh, wenn sie sie loswerden. In mancher polnischen Scheune ist vielleicht auch noch eine alte Stalin-Statue unter Stroh und unter Säcken versteckt. Die könnte man aufkaufen und dann ein fantastisches Panorama in Karl-Marx-Stadt, früher Trier, errichten – Karl Marx im Kreise seiner Schüler.«

»Aber du hast ihn verstanden!«

Eine andere Spielart nutzt den Verweis auf Marx, um Gegenargumente von links zu entkräften. Omid Nouripour von den Grünen hat das einmal in einer Debatte über einen deutschen Militäreinsatz vor der Küste Somalias vorgeführt, wobei seine Parteifreundin Claudia Roth die Gelegenheit sogleich nutzte, noch eine weitere Technik der parlamentarischen Marxerei anzuwenden: die intellektuelle Adelung als Kritik eines anderen. Wie das geht? Nouripour antwortete auf einen Linkspolitiker: »Herr Kollege Dr. Neu, bei der Ursachenanalyse sind wir uns einig. Ich habe meinen Marx auch gelesen.« Worauf Claudia Roth ruft: »Aber du hast ihn verstanden!« (Bundestag, 7. Mai 2015) 

Bisher ist eine umfassende Analyse darüber, welche Rolle Marx im Bundestag spielt, noch nicht geschrieben. Dieser »Kurze Lehrgang« behilft sich denn auch hier zum Schluss mit sinnlos aneinandergereihten Auszügen aus dem Protokoll der vergangenen Jahre. Es kommen drin vor: Marx und die Bibel, lustig gemeinte Abwandlungen von Marx-Zitaten und der Charakter des Welthandels. 

Bibel, Welthandel, Milchpreise

Dabei muss der Linksparteiabgeordnete Roland Claus besonders genannt werden, er gehört zu den eifrigsten Marx-Verweisern. Ein Beispiel: »Zum Schluss: In den Haushaltsberatungen wurden etliche biblische Weisheiten zitiert. Herr Kauder meinte gar, die Bibel gegen das Marxsche Kapital stellen zu müssen. Aber Marx war bibelfest, und ich will das auch belegen. So findet sich im Kapital – in Band 3; ich liefere alle Quellen nach – …« Was aber der Michael Grosse-Brömer von der Union gar nicht mag: »Lieber nicht!« (Bundestag, 27. November 2015)

Sein Parteifreund Artur Auernhammer in einer Debatte über ein Gesetz zur Änderung des Agrarmarktstrukturgesetzes: »Der Milchmarkt in Deutschland liegt am Boden. Die Agrarwirtschaft in unserem Land wird durch die aktuelle Preispolitik krank. Die Herren Engels und Marx würden heute wohl sagen: Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst katastrophaler Milchpreise.« (Bundestag, 28. April 2016)

Volker Kauder von der CDU in einer Haushaltsdebatte: »Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mich mit dem Haushalt und den Auswirkungen für unser Land beschäftige, möchte ich dem Kollegen Bartsch noch einen Hinweis mitgeben. Es ist sehr gut und freut mich, dass Sie offensichtlich mehr in die Bibel als in das Kapital von Karl Marx schauen. Das ist durchaus richtig.« Worauf Bartsch antwortet: »Das stimmt so nicht!« (Bundestag, 25. November 2015)

Hier sieht man, wie wankelmütig diese Union ist, wo eben gerade die Bibellektüre hochgehalten wird, wird an anderer Stelle zur Marx-Lektüre aufgefordert: Als der schon genannte Roland Claus anhob mit den Worten: »Ich will einmal die Bibel bemühen«, rief der ebenfalls schon genannte Grosse-Brömer dazwischen: »Zitieren Sie lieber Marx!« (Bundestag, 10. April 2014)

Aber was hilft das denn, wenn die Union keine Zitate versteht? Ja, nicht einmal die Idee der Kritik von Marx. Der Abgeordnete Johann Wadepuhl: »Wir sind die drittgrößte Schifffahrtsnation der Welt. Ich möchte dazu sagen: Es geht bei Schifffahrt und Welthandel auf See nicht darum, andere auszubeuten, wie es Ihrer Vorstellung entspringt. Möglicherweise prägt Karl Marx heute noch Ihr Denken. In einer globalisierten Welt ist Seehandel jedoch eine wichtige Voraussetzung dafür, dass es in Deutschland und in Europa wirtschaftliche Prosperität gibt.« Also geht es doch um Ausbeutung? Ach, Union. (Bundestag, 21. Mai 2015)

In der Debatte ging es um Afrika, und zu dem Thema hat auch Charles M. Huber einen Marx beizutragen. Irgendwie jedenfalls: »Wer jeden Ansatz in Richtung einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten, die diese wohlgemerkt dringend benötigen und auch explizit wünschen, in eine Grundsatzdiskussion ausarten lässt, der dokumentiert hier nur eines: dass er nämlich kein eigenes Konzept hat und hier lediglich versucht, seinem destruktiven Naturell eine objektive Legitimation zu verleihen. Als etwas anderes kann ich das nicht verstehen. Karl Marx hat es hier nicht gerichtet, und er wird es auch in Afrika nicht richten, schon gleich dann nicht, wenn die ehemalige Sowjetunion als potenzieller Handelspartner praktisch ausfüllt.« (Bundestag, 20. Februar 2014)

Huber saß für die Union im Parlament, aus der kommt auch die Gitta Connemann, die ihren Marx auch nicht gelesen, aber einen Sinnspruch fürs Poeisiealbunm auswendig gelernt hat: »Wenn du jetzt unterstellen willst, dass sich auch die EFSA und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dort in den Befunden, die über Jahre hinweg geliefert worden sind, und den vielen Gutachten, die vorliegen, getäuscht haben, kann ich nur sagen: Du machst dir so ein Stückchen deine Welt, wie sie dir gefällt. … Oder um es mit Karl Marx zu sagen: Niemand ist so taub, dass er es nicht hören will.« (Bundestag, 26. November 2015)

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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