Wirtschaft
anders denken.

Kartenleserei, Rätselraterei, Regelhuberei

06.03.2021
Keine Lockerungen in Sicht: Eine Nonne mit Gasmaske hält ein Kind auf dem ArmBild von Sarah Lötscher auf Pixabay

Fünf Schritte zu den Lockerungen, aber doch zählt nur die Eigenverantwortung – und Peter Sloterdijk. Teil 17 des Corona-Tagebuchs.

Wir haben versucht, gleich am Morgen danach, haben wir das, die Übersicht über die Öffnungsschritte bis zur Nummer fünf auswendig zu lernen. Nach fünf ist wieder Ministerpräsidentenkonferenz. Zum Glück. Uns zumindest in groben Zügen einzuprägen, was beschlossen worden ist, das haben wir versucht. Da war es noch fast dunkel draußen.

Und dann  – inzwischen war es hell geworden – haben wir uns gesagt: Besser ist, wir sind einfach weiterhin vorsichtig. Und wenn die Drogeriemarktkette dm wahrmacht, was sie ankündigt, können wir ja auch drei Mal am Tag einen kostenlosen Schnelltest machen. Zur Sicherheit. Falls es bei kontaktlosem Sport im Außenbereich eines Restaurants nach vorheriger Terminbuchung und vorausgesetzt, jedem Gast stehen mindestens 15 Quadratmeter Fläche im Freien zur Verfügung, zwingend vorgeschrieben sein sollte, einen negativen Schnelltest vorzuweisen. Man kann ja nie wissen. Die andere Variante ist, dass wir uns die fünf Öffnungsschritte in kleinem Format ausdrucken, dann laminieren und immer mit uns rumtragen. Falls wir mal unser Smartphone vergessen.

An sich – bitte nicht als Schimpfen verstehen – hat die Kleinteiligkeit oft auch Vorteile. Man muss sich nicht so viel Gedanken machen, weil alles irgendwie aufgeschrieben ist. Und all die Fragen, die eine manchmal beschäftigen – warum haben die Museen nicht schon längst auf? – sind obsolet. Denn die fünf Schritte werden ja begleitet von einer „Taskforce Corona“, gebildet von der Bundesregierung und mit der maßgeblichen Kompetenz unseres Verkehrsministers Scheuer zum Erfolg geradezu verdammt. Der wird ja wohl Tempo vorlegen und da kein Limit kennen.

Jenseits aller Häme und Ironie – die sich aufdrängt und anbietet und gerade billig zu produzieren ist, bietet das jüngste Bund-Länder-Treffen doch eine Steilvorlage, die in den blauen Himmel reicht – macht sich ein wenig Verzweiflung breit.

Insofern hat der Regierende Bürgermeister von Berlin schon Recht, wenn er sagt: „Jetzt kommt es auf die Eigenverantwortung der Bürger an.“ Aha (Ausruf, nicht Regel)! Was war denn bloß vorher, als es – nimmt man die Aussage ernst – nicht darauf ankam? Aber vielleicht hat er Recht. Jetzt, da offensichtlich viel Latein verbraucht ist, müssen andere klug und planvoll sein. Am besten, wir machen das.

Auf der Webseite geschichtedergegenwart.ch erklärt der Soziologe Felix Römer eine Unterlassung. Man wisse zwar, dass die Pandemie die Ärmeren eher trifft, aber im Gegensatz zu Großbritannien oder den USA gebe es dazu so gut wie keine Daten: „Eine Auswertung der internationalen Literatur am Robert Koch-Institut (RKI) ergab im Sommer 2020, dass bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland erst eine einzige Studie zum Thema Ungleichheit und Covid-19 entstanden war. Noch dürftiger ist das Angebot der amtlichen Statistik. Die Website des Statistischen Bundesamtes zu den ‚Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesellschaft‘ enthält keinerlei Analysen nach Einkommen oder ähnlichen Indikatoren der Ungleichheit – als ob diese in der Pandemie hierzulande überhaupt nicht existiere.“

Andere Dinge existieren aber schon. Die Bundesregierung, speziell deren Abteilung Inneres und Heimat hat einen Gesetzentwurf „zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ vorgelegt. Damit sollen, heißt es, „hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlagen zur Regelung des Erscheinungsbilds“ von Beamtinnen und Soldaten geschaffen werden. Redundanz ist schon was Feines. Aber konkret geht es unter anderem um das zulässige Ausmaß von Tätowierungen. Das ist irgendwie nicht klar geregelt bislang und verbieten kann man die Körpermalerei auch nicht, weil es zu sehr ins Persönlichkeitsrecht eingriffe. Irgendwie war das in dieser Woche ein beruhigendes Nebengleis. Man denkt ja: Solange auch solche Sachen gerade besprochen, geregelt, verregelt, verkompliziert oder einfach nur auf den Stand gebracht werden, scheint die Welt nicht aus den Fugen.

Das ist natürlich ein Scheinargument. Auf der Titanic haben sie ja auch Musik gemacht, obwohl der Eisberg schon gerammt war.

Man könnte auf Peter Sloterdijk verweisen, der 2015 in einem Aufsatz für das wunderbare Buch „Das Anthropozän Zum Stand der Dinge“ (Jürgen Renn/Bernd Scherer Hg.) schrieb:

„Das traditionelle Wissen hat wesenhaft einen Rückstand auf die Wirklichkeit – ja, man könnte sagen, es trifft prinzipiell verspätet ein. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, ob aus der gewöhnlichen Verspätung des Wissens gefolgert werden muss, dass es auch in Bezug auf unsere künftigen Probleme notwendigerweise zu spät komme. Glücklicherweise sind wir in der Lage, die Frage verneinen zu können. Es gibt eine prognostische Intelligenz, die sich genau in der Lücke zwischen ‚spät‘ und ‚zu spät‘ geltend macht. Diese Intelligenz ist es, die sich künftig energischer artikulieren sollte. Während bisher für einen Großteil des menschlichen Lernens das Gesetz galt, dass man allein ‚aus Schaden klug wird‘, muss die prognostische Intelligenz klug werden wollen, bevor der Schaden eingetreten ist – ein Novum in der Geschichte des Lernens.“

Das Novum ist bis heute nicht eingetreten, aber der Optimismus des anstrengend klugen Sloterdijks tröstet ein wenig. Zumal er ganz sicher nicht gemeint hat, dass die Politik jene prognostische Intelligenz in der Lage sein wird, zu entwickeln, es sei denn – jetzt ist die Autorin mal optimistisch – sie tut sich zusammen mit jenen, die es können. Davon gibt es einige, was schwer zu glauben ist angesichts der Tatsache, dass die Bundesregierung auf eine sehr überschaubare und stets gleiche Kohorte von Experten (und ein paar -innen) zurückgreift. Da ist sie wie Anne Will, der man sonntags nicht beim besten Willen noch zuhören mag, wie sie die immer gleichen Leute befragt. Hat Altmaier eigentlich schon ein Feldbett im Studio?

Sloterdijk verweist in seinem Text auf den Philosophen und Epistemologen Jean-Pierre Dupuy, der in einer Studie erklärte, dass nur erfahrene Apokalyptiker vernünftige Zukunftspolitik betreiben können, weil sie mutig genug seien, auch das Schlimmste als reale Möglichkeit zu bedenken.

Jetzt mag uns allen sofort Lauterbach einfallen, aber das meint es nicht. Der Mann scheint Angst zu haben, die möglicherweise hin und wieder die Oberhand über prophetische Vernunft gewinnt, die ihm wahrscheinlich auch zur Verfügung steht.

Es hatte keiner prophetischen Gabe bedurft, zu wissen, dass die großen Energiekonzerne für „entgangene Gewinne aus und umsonst getätigte Investitionen in Atomkraft“ fürstlich entschädigt werden. 2,4 Milliarden sollen es nun sein. Erfahrene Apokalyptiker mögen an dieser Stelle sagen: Es hätte schlimmer kommen können. Entgangene Gewinne sind Zukunft und dagegen sind die Gewinne, die zuvor gemacht wurden, ein Fliegenschiss, der nicht verrechnet werden darf. Also nochmal: Es hätte schlimmer kommen können.

Auf diesen Satz haben wir uns an dem Morgen, als wir versuchten, die fünf Schritte weiterer Lockerungen zu verstehen, auch geeinigt. Froh zu sein bedarf es noch immer wenig.

Geschrieben von:

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

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