Wirtschaft
anders denken.

Interessen und Abhängigkeiten

26.08.2022
Neben dem Pokal der FIFA Fußballweltmeisterschaften liegt der offizielle Ball der WM 2018 in Russland. Im Hintergrund sieht man eine Stadiontribühne.Foto: Fauzan SaariNach Russland nun Katar: WM-Veranstalter halten sich nicht an Menschenrechte.

Wie kann die Sportindustrie für Menschenrechte einstehen, ohne auf lukrative Sponsorendeals zu verzichten? Aus OXI 8/22.

Der Fußball muss sich für die Weltmeisterschaft in Katar rechtfertigen, während die Wirtschaft seit Langem milliardenschwere Verbindungen zum Emirat unterhält. In Katar gibt es keine freien Wahlen und unabhängigen Medien. Homosexuelle müssen mit Verfolgung rechnen, gewerkschaftliche Strukturen werden streng kontrolliert. Gemessen an unseren Traditionen in Westeuropa, gemessen an Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Säkularismus dürfte es keine WM in Katar geben. Doch es geht nicht nur um unsere Traditionen. Der Weltfußballverband Fifa hat mehr als 200 Mitgliedsverbände. Die meisten von ihnen verbinden mit der WM in Katar Profit, Einschaltquoten, Party. Politische Themen bleiben in vielen Ländern Afrikas oder Asiens im Hintergrund.

Seit 2010 steht fest, dass die WM 2022 am Persischen Golf stattfinden wird. Doch erst 2021 sind Forderungen nach einem Boykott lauter geworden, vor allem in westeuropäischen Ländern wie Norwegen, den Niederlanden und Deutschland. Fans, Aktivisten und Wissenschaftler vernetzen sich im Bündnis »Boycott Qatar«.

Wir sollten den Kontext weiten. Ob Fifa oder Uefa, ob Real Madrid, Manchester City oder der FC Arsenal – etliche Verbände und Spitzenklubs erhielten und erhalten Millionen von den staatlichen Fluglinien in Doha, Dubai und Abu Dhabi. Die Regionalmacht Saudi-Arabien steht mit ihrer sportlichen Geopolitik erst am Anfang. Wichtige Sponsoren kommen zunehmend auch aus China oder Aserbaidschan, also aus nicht demokratisch regierten Ländern. Die Macht des Fußballs wandert Richtung Osten.

Rund zwei Milliarden Euro dürfte Katar in europäische Fußballklubs investiert haben. Gemessen an den Gesamtinvestitionen des Emirats eine überschaubare Summe. Die staatliche Qatar Investment Authority (QIA) soll in Dutzenden Ländern mehr als 350 Milliarden Euro angelegt haben. Gut ein Viertel in Großbritannien, den USA und Frankreich, drei ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats. Katar hält Anteile an Kapitalmärkten wie der Londoner Börse und an Banken wie Barclays und Credit Suisse. Es bestehen ökonomische und politische Beziehungen, die lange vor der WM-Vergabe 2010 etabliert wurden und auch das Jahr 2022 überdauern werden.

In Norwegen haben Fußballfans und Spieler besonders intensiv über einen Boykott der WM in Katar diskutiert. Was wohl nur wenige von ihnen wissen: Zwischen Norwegen und Katar gibt es ein Freihandelsabkommen. Norwegische Unternehmen haben fast neun Milliarden Euro in Katar investiert, unter anderem in Landwirtschaft und Meerestechnik. Diese Unternehmen spielen in der Debatte um Menschenrechte in Katar kaum eine Rolle.

In Deutschland fokussiert sich die Kritik auf den FC Bayern München. Der Fußball-Rekordmeister soll von der staatlichen Fluglinie Qatar Airways jährlich rund zwanzig Millionen Euro erhalten. Doch auch darüber hinaus ist der katarische Staatsfonds einer der größten Auslandsinvestoren in Deutschland, mit einem Volumen von rund 25 Milliarden Euro. Katar hält Anteile an Volkswagen, dem Träger des VfL Wolfsburg, und an der Deutschen Bank, dem Namenspaten des Frankfurter Fußballstadions. Zudem sind deutsche Konzerne an Großprojekten in Katar beteiligt: Die Deutsche Bahn und Siemens beim Aufbau der Nahverkehrsstrukturen, SAP bei der Digitalisierung.

Im globalisierten Fußball hängt alles mit allem zusammen. Daher ist nicht verwunderlich, dass Proteste vor allem von NGOs und Fans kommen, nicht aber aus der Wirtschaft. Denn die Liste der Profiteure einer WM ist auch in Westeuropa lang. Sportartikelhersteller mit besseren Umsätzen, Fernsehanstalten mit höheren Quoten. Und die Industrie möchte mehr Autos, Flugzeuge und Maschinen an den Golf verkaufen.

2018 empfing Bundeskanzlerin Angela Merkel den katarischen Emir Tamim bin Hamad Al Thani zu einem Wirtschaftsgipfel in Berlin. Beide Regierungen unterhalten eine gemeinsame Wirtschaftskommission. Das Treffen wurde in den deutschen Medien kaum diskutiert. Anfang 2022 empfing US-Präsident Joe Biden den Emir im Weißen Haus. Biden lobte das Engagement Katars bei der Evakuierung Zehntausender Afghanen, nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul. Einige Wochen später war der Emir bei Bundeskanzler Olaf Scholz zu Gast. Nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine braucht die Bundesrepublik Katar als Gaslieferanten. Ein Crashkurs in Realpolitik, an den sich der Fußball noch gewöhnen muss.

Statt die Utopie eines Boykotts der WM zu diskutieren – wie wäre es mit einem pragmatischen Ansatz? Wie könnten europäische Profivereine ihre Soft Power nutzen, um konstruktiv auf die Menschenrechtslage in Katar einzuwirken, ohne auf das Geld des Emirats zu verzichten? Es sind Fragen, die für die Wirtschaft nicht neu sind, aber für den Fußball. Die Vereinten Nationen und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben schon vor Jahren die Verantwortung von Unternehmen für Menschenrechte im In- und Ausland im Detail beschrieben.

Als Grundlage dafür bräuchten auch Fußballvereine ein seriöses Menschenrechtskonzept. Gemessen an den UN-Leitlinien würde dies bedeuten: Eine Grundsatzverpflichtung zum Schutz der Menschenrechte, etwa in Vereinssatzungen. Eine Debatte mit allen Mitarbeitenden. Eine kritische Bestandsaufnahme aller Geschäftsbeziehungen, auch zu Sponsoren, Medienpartnern, Gastgebern von Trainingslagern. Eine selbstkritische Dokumentation von Missständen. Eine frühzeitige Zusammenarbeit mit externen Gruppen, mit Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Sozialeinrichtungen.

In den UN-Leitlinien zum Thema Menschenrechte wird nicht von grundsätzlichen Boykotts gesprochen. Insgesamt geht es darum, das Risiko zu reduzieren, an Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu sein. Die Umsetzung eines solchen Konzepts erfordert Fachwissen und Personalaufwand. Doch die meisten Verbände und Vereine sind in den vergangenen Jahren eher einen traditionellen Weg gegangen. Der FC Bayern zum Beispiel unterstützte angeschlagene Vereine bei Dutzenden von Benefizspielen. 2005 gründeten die Münchner den FC Bayern Hilfe e. V., einen gemeinnützigen Verein, in dem Spenden gesammelt und verteilt werden. 2015 stellte der FC Bayern eine Million Euro für Geflüchtete bereit. Das ist eindrucksvoll, aber reicht es?

Gesellschaftspolitik muss weiter reichen. Es geht nicht darum, wie Unternehmen einen Teil ihrer Gewinne an wohltätige Projekte weitergeben. Es geht darum, wie genau sie diese Gewinne erwirtschaften. Einerseits unterstützen fast alle großen Fußballvereine Bildungsinitiativen für benachteiligte Kinder. Andererseits machen sie sich von Sportartikelherstellern abhängig, die junge Näherinnen in Niedriglohnländern ausbeuten. Einerseits lassen etliche Klubs auf ihren Stadiondächern Solaranlagen installieren. Anderseits legen sie sich umweltschädliche Besonnungsanlagen zu, damit ihr Rasen auch im Winter wächst.

Die Vereine, die regelmäßig in der Champions League spielen, haben in der Regel mehrere hundert Mitarbeiter. Viele von ihnen sind mit Marketing und Expansion beschäftigt, insbesondere für die Märkte in Asien und Amerika. Die Jahresumsätze von Real Madrid, Manchester City oder FC Bayern übersteigen jeweils eine halbe Milliarde Euro. Viele dieser Klubs haben gemeinnützige Stiftungen für soziale Projekte eingerichtet, aber dabei handelt es sich meist um externe Organisationen ohne wesentlichen Einfluss auf den Kern der Fußballindustrie. Stattdessen sollten die Klubs eigene Abteilungen für Nachhaltigkeit einrichten, die sich mit dem Thema Menschenrechte, aber auch Klimaschutz, Diversität und Gesundheitsförderung beschäftigen.

Angesichts der hohen Summen, die im Fußball zirkulieren, könnten diese Abteilungen einen Etat von 10, 15 oder 20 Millionen Euro haben. Für Sachmittel und für Angestellte, für Menschenrechtsexperten, Sozialarbeiter, Kulturschaffende. Mit direkter Anbindung an den Vorstand, verzahnt mit allen anderen Abteilungen. Dann könnten die Klubs ihre Partnerschaft mit Qatar Airways oder Emirates ausführlicher begleiten, etwa mit einem differenzierten Austausch mit Arbeitsmigranten oder Frauenrechtlerinnen. Sozialpolitik und Kommerz müssen sich nicht ausschließen. Mit den richtigen Konzepten könnte man damit sogar neue Fans und Sponsoren gewinnen.

In Wirtschaft und Kultur geht es mitunter um höhere Summen, dennoch steht der Fußball unter größerer Beobachtung. In der Außenpolitik gilt ein Austausch auf Augenhöhe mit nicht demokratischen Staaten als Diplomatie, in der Wirtschaft als Expansion. Im romantisierten Fußball spricht man dagegen vom Ausverkauf der Werte. So zynisch es klingen mag: Erst durch den Fußball ist Europa auf tote Gastarbeiter am Persischen Golf aufmerksam geworden.

Nach den Maßstäben Europas, dessen Gewerkschaften sich über Generationen herausgebildet haben, ist Katar rückständig. Nach den Maßstäben der Golfregion, die Arbeiterbewegungen nicht kennt, ist Katar ein Zukunftsmodell. Saudi-Arabien lässt weniger Einmischung von außen zu als Katar, das internationalen Organisationen für Arbeitsrechte Zugang ermöglicht. Früher war das undenkbar. In wenigen Jahren gab es einige Reformen , doch sie können nur spürbare Wirkung haben, wenn sich das ganze System weiterentwickelt und Kontrollmöglichkeiten zulässt, durch Gewerkschaften, Medien und Zivilgesellschaft.

Neunzig Prozent der katarischen Bevölkerung sind Einwanderer. Ob sich bei den Einheimischen irgendwann die Einsicht durchsetzen wird, dass Gastarbeiter mehr sein können als billige Hilfskräfte? Dass sie Kultur, Konsum und Gemeinwesen bereichern können? Konservative Kreise in Katar bereuen inzwischen sogar ihre Gastgeberrolle bei der WM. Sie fühlen sich vom Westen gemaßregelt und an die Kolonialzeit erinnert.

Erst die WM 2018 in Russland, nun in Katar, demnächst womöglich in China – auf den Fußball werden weiter große Herausforderungen zukommen. Die europäischen Fußball-Ligen könnten Menschenrechtskonzepte und eine Umsetzung in Etappen zu einer Bedingung für Spiellizenzen ihrer Vereine machen. Doch darauf brauchen andere Interessengruppen nicht zu warten. Vereinsmitglieder könnten Anträge stellen, überregionale Netzwerke knüpfen oder ihr eigenes Verhalten reflektieren, etwa Auswärtsreisen in nicht demokratische Staaten überdenken, auch den Kauf von Trikots, die in Niedriglohnländern produziert wurden, oder die Nutzung von multinationalen Wettanbietern und Bezahlsendern. Fans könnten auf Sponsoren zugehen oder die Abgeordneten ihrer Wahlkreise auf das Thema hinweisen. Viele NGOs haben ein Portfolio zu Sportthemen entwickelt. Sie bieten Broschüren, Workshops und Internetspots an – leider wird ihr Wissen zu selten verbreitet. Rund um die WM in Katar werden zahlreiche Bücher und Dokumentationen zum Thema entstehen, Konferenzen stattfinden. Darin liegt eine Chance, um mehr zu erreichen als die Pflege des moralischen Gewissens in Europa.

Ronny Blaschke ist als Journalist und Buchautor auf politische Hintergründe im Sport spezialisiert. Zuletzt erschien von ihm im Werkstatt-Verlag 2020: »Machtspieler. Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution«.

Geschrieben von:

Ronny Blaschke

Sportjournalist

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