Wirtschaft
anders denken.

Kein Fall für den Exorzisten

11.10.2019
unsplash/Matteo Paganelli

Über das stabilisierte Ghetto des radikalen Rechtspopulismus der AfD, die Grenzen des Entlarvungs-Antifaschismus und was man aus Thomas Franks Beststeller »What’s the matter with Kansas?« lernen kann. Tagebuch des politischen Umbruchs (2)

1. Ein neuer Zwischenstand

Inzwischen sind die Ergebnisse der Landtagswahlen vom 1. September halbwegs verdaut. Die Blicke richten sich bereits auf den nächsten Wahlgang Ende Oktober in Thüringen, bei dem es um die Fortsetzung der einzigen LINKE-geführten Landesregierung in der Bundesrepublik geht. 

Am Beginn jeder Auseinandersetzung mit der AfD steht die Feststellung, dass sich diese Partei wahrscheinlich in der Tat zunächst einmal eingenistet hat. Mit dem radikal-nationalistischen Rechtspopulismus muss man sich unter der Annahme auseinandersetzen, dass er bundesweit mehr als ein nur vorübergehendes Phänomen ist und zudem vor allem in den neuen Bundesländern besorgniserregend starke Hochburgen ausgebildet hat. Daraus ergibt sich Bedarf an Diskussion und z.T. auch an der Revision bisheriger Herangehensweisen und Gegenstrategien, mit denen das Phänomen gedacht, kritisiert und bekämpft wurde. 

Zu lange wurden radikale rechtspopulistische Bewegungen und Parteien gedeutet als eine Art »Dämonenbefall«. Rechtspopulismus wurde diskutiert, als sei er eine Art politische Form von Besessenheit, die durch einen Exorzismus ausgetrieben werden muss. Die an sich guten westlichen bürgerlichen Gesellschaften werden demnach vom Rechtspopulismus »heimgesucht«, getriggert durch ein äußeres Ereignis oder die demokratiefremden Dispositionen ihrer Mitglieder. Im Zweifelsfalle sind rechtspopulistische Wahlerfolge Kollateralschäden »an sich« richtiger Entwicklungen wie Freihandel, Modernisierung, Globalisierung, Europäische Integration oder Individualisierung, die alle mit richtungsneutralen Begriffen diskutiert werden. Deren Spiegelbild voller negativer Zuschreibungen sind Protektionismus, Nationalismus, Rückständigkeit usw. 

Diese schlichte interpretative Gegenüberstellung hatte immer den praktischen Nebeneffekt, die bestehende Ordnung und ihre Eliten von jeder Mitverantwortung am Unheil freizusprechen. Allerdings ist diese Deutung nicht überzeugend. 

Wenn so unterschiedliche Gesellschaften wie die USA, Frankreich, Großbritannien, die Bundesrepublik, die postkommunistischen Länder Osteuropas und Skandinavien gleichzeitig von einem massiven Auftrieb rechtspopulistischer Kräfte erfasst werden, dann muss es gemeinsame Grundlagen in den Grundstrukturen der Gesellschaften geben, die den Herausforderern von rechts außen günstige Anknüpfungspunkte bieten. 

Eine scheinbar entgegengesetzte, aber letztlich ebenso fragwürdige Deutung legt nahe, dass der radikale rechtsautoritäre Populismus selbst der Agent des Exorzismus ist, während das ihm Auftrieb verschaffende Defizit aus einer Krise der Repräsentation entspringt. Diese »selbstkritische« Deutung hat die beruhigende Wirkung, dass man eine Selbstabschaffung des radikal rechten Populismus erwarten kann, sobald nur bestimmte seiner Themen abgearbeitet sind. Im Grunde ist diese Deutung nur vordergründig selbstkritisch, legt sie doch eine paternalistische Herangehensweise an die WählerInnen nahe. Es wird die Erwartung geschürt, dass die von Rechtsaußen zeitweise Verführten schon den Weg in den Schoß der etablierten Parteien und der Vernunft zurückfinden würden. 

Von einer Krise der Repräsentation kann allerdings in Deutschland keine Rede sein. Seit der Erfolgsserie der AfD Anfang 2016 ist die Wahlbeteiligung gestiegen. Im Gegenteil, man muss wahrscheinlich mit der unbequemen Tatsache leben, dass die Erweiterung des relevanten parteipolitischen Spektrums nach rechts einer größeren Repräsentativität für die Bürgerinnen und Bürger entspricht. Die AfD und die weiteren radikal rechten Bewegungen in ihrem Orbit sind zugleich als eigenständiges Phänomen, als Spielart des Typs radikal-rechtspopulistischer Parteien und schließlich auch als Ausdruck des tiefgreifenden Umbrucu begreifen, der die Parteiensysteme heute erfasst hat. Es muss nun darum gehen, jenseits von hoffnungsberaubtem Fatalismus und panischem Aktionismus die Lage zu prüfen und daraus Rückschlüsse für sinnvolle Gegenstrategien abzuleiten.

2. Wahlpolitische Aussichten des radikalen Rechtspopulismus in Deutschland

Um die Herausforderung durch den Rechtspopulismus einzuschätzen, muss man zunächst einen Blick auf das Niveau seiner wahlpolitischen Unterstützung richten und anschließend fragen, auf welche Art von gesellschaftspolitischem Rückhalt er sich bereits verlassen kann.

Die Wahlerfolge der AfD in Thüringen und Sachsen versetzten viele in Alarmstimmung, weil die Rechtspopulisten vor dem Wahltermin zwischenzeitlich zur stärksten Partei zu werden drohten. Gegen die panische Reaktion und vorschnelle Analogien, bspw. wonach die neuen Bundesländer zu einem Gegenstück des US-amerikanischen »Deep South« würden, d.h. zu einer für Liberale und Linke uneinnehmbaren Bastion einer rassistischen politischen Rechten, sprechen sowohl quantitative wie qualitative Gesichtspunkte.  

(Zweit)Stimmen für die AfD/

Land

Europawahl 2014Landtagswahl 2014Bundestagswahl 2019Europawahl 2019Landtagswahl 2019
Brandenburg79.371120 077301.103238.417297 484
Sachsen164.263159.611628.048520 668595.530
AfD-(Zweit)Stimmenergebnis/

Wahlgang

BayernNiedersachsenNordrhein-WestfalenSchleswig-Holstein
Landtagswahl (vor Bundestagswahl)//626.756 (14.5.2017)60.990

(7.5.2017)

Bundestagswahl916.300422.362928.425140.362
Landtagswahl (vor Europawahl)687.238 (14.10.2018)235.863 (15.10.2017)//
Europawahl492.443297.385682.400100.258

Ein Blick auf die Ergebnisse der AfD bei den Wahlen seit 2017 in absoluten Zahlen wirft sowohl für Brandenburg und Sachsen, als auch für die vier westdeutschen Flächenländer Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ein anderes Licht auf die Situation (siehe Tabellen). 

So zeigt sich einerseits, dass allerorts die AfD am stärksten bei bundesweiten Wahlgängen abschneidet, dass es ihr aber andererseits in den erstgenannten Ländern nicht nur gelingt, einen deutlich höheren prozentualen Anteil insgesamt zu erzielen, sondern auch einen größeren Anteil ihrer WählerInnen zu nicht-bundesweiten Wahlen zu mobilisieren. In jedem Fall markiert die Bundestagswahl den bisherigen Höhepunkt der AfD-WählerInnen-Mobilisierung, gefolgt von einer wahlpolitischen Stagnation. Weitere Aufstiege gelangen bislang nicht. 

Ihre Skandale, wie die Ausschlüsse selbst führender Mitglieder und offen ausgetragene interne Konflikte gegenüber ihren AnhängerInnen scheinen der AfD jedoch in ihrer grundlegenden verfestigten Existenz nichts anhaben können, womit sich, fragt man nach dem warum, ein Vergleich mit Donald Trump aufdrängt. Trump startete mit geringeren Zustimmungswerten als alle US-Präsidenten der Nachkriegszeit, aber von seiner einmal erreichten Zustimmung von um die oder knapp über 40% scheint ihn bislang nichts und niemand herunterbringen zu können. 

Die erschreckende, aber zugleich an eine inzwischen markierbar gewordene Grenze stoßende wahlpolitische Unterstützung für die AfD ist wie bei Donald Trump Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Polarisierung. In den neuesten Bundesländern macht sie sich u.a. stärker bemerkbar, weil das überkommene Parteiensystem der Bundesrepublik dort nie solch eine gesellschaftliche Verwurzelung hatte wie diejenige, die ihm inzwischen auch in den alten Bundesländern abhanden gekommen ist.

Auch qualitativ stagniert die AfD, insofern ihr wahlpolitisches Ghetto weitgehend eine gesellschaftspolitische Ausgrenzung abbildet. Der ständige Rückgriff der Partei nach Mobilisierung auf der Straße, verschiedenen Formen rhetorischer Provokation und ihr Bespielen sozialer Medien sind einerseits nützlich, um die beträchtlichen parteiinternen Konfliktpotentiale zu überspielen. 

Andererseits aber sind sie auch Ausdruck mangelnder Politikfähigkeit und auf vielen Politikfeldern auch fehlender politischer Relevanz. Denn relevant sind Bewegungen und Parteien Ralph H. Turner und Giovanni Sartori zufolge nur dann, wenn sie entweder ein Drohpotential einsetzen können oder als Bündnispartnerinnen in Frage kommen. »Zünglein an der Waage« zu sein, kann z.B. bei knappen Mehrheitsverhältnissen sogar einer kleinen Fraktion erheblichen Einfluss zukommen lassen. Für die AfD trifft aber im parlamentarischen Raum bislang weder noch zu. Vielmehr wirkt die parlamentarische Stärke der AfD eher indirekt und gar nicht in jedem Fall in ihrem eigenen Sinne. 

Je stärker die AfD, desto eher kommt es zu »bunten« Koalitionen wie in Sachsen-Anhalt, voraussichtlich nun auch in Sachsen und Brandenburg. Durch die Beteiligung von Bündnis 90/Die Grünen, dem Gegenpol zur AfD, werden aber voraussichtlich viele erhoffte rechtspopulistische Erfolge neutralisiert. Restriktivere und schärfer ausgrenzende Migrationspolitik, die sich viele AfD-AktivistInnen und WählerInnen erhofft haben dürften, werden dadurch mitunter blockiert (allerdings haben, wie diverse Asylrechtsverschärfungen von vor 2015 belegen, die etablierten Parteien dazu noch nie die AfD als Vorwand benötigt). 

Ironischerweise blockiert sich die AfD damit auf der sachpolitischen Ebene (policy) selbst. Die AfD könnte nur dann von diesen Konstellationen profitieren, wenn die ‚bunten‘ Koalitionen hinreichend Frustration in der Wählerschaft hervorbringen und sie im Kontrast dazu als attraktive Alternative dagegen erscheint. Ihre angesprochene Stagnation macht das aber unwahrscheinlich; allenfalls geringere Mobilisierungskraft der anderen Parteien bzw. gleichbleibende Mobilisierung des AfD-Elektorats bei insgesamt sinkender Wahlbeteiligung könnte diese Hoffnung erfüllen. 

Der AfD könnte jedoch folgende verheerende Entwicklung zu Hilfe kommen: Die Parteien des Mainstreams haben die politischen Spielräume auf allen Ebenen, aber besonders deutlich bei Ländern und Kommunen, durch die Steuersenkungen vergangener Jahre sowie die Schuldenbremse selbst stranguliert. Föderalismusreformen, Ausdünnung von Bahn- und ÖPNV-Angeboten sowie Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen und der unzureichende Ausbau öffentlicher Wohnungsbestände haben politische Gestaltungsmöglichkeiten weiter beschnitten. Das verschärft angesichts anstehender Zukunftsaufgaben in nahezu allen vom Klimawandel betroffenen Bereichen (Wohnen, Energie, Verkehr) die wachsenden Verteilungskonflikte deutlicher als in solchen Staaten, die sich nicht selbst der Möglichkeit zur öffentlichen Kreditaufnahme, des öffentlichen Wohnungsbaus, der regulatorischen Eingriffsmöglichkeiten und Preissetzungsmacht beraubt haben.

3. Rückhalt für den radikalen Rechtspopulismus oder auf welche »Frage« antwortet die AfD? 

Inzwischen befindet sich ein radikal rechtes Milieu in Formierung, das vor der AfD-Erfolgsserie in verschiedene Gruppierungen gespalten und wahlpolitisch nie dauerhaft überregional erfolgreich war. Hier wirkt die AfD als organisierendes Zentrum und zieht diverse Intellektuelle, Bewegungen, Publikationsorgane und lokal basierte Zirkel in ihre Umlaufbahn. Allerdings gelingt es der AfD bislang kaum (und wird ihr auf absehbare Zeit auch nicht gelingen), dass sich der Mainstream der Zivilgesellschaft ihr gegenüber öffnet. VertreterInnen der AfD mögen aus Gründen der Pflichtschuldigkeit auf parteipolitisch zu besetzende Podien eingeladen werden, doch außerhalb einiger starker Hochburgen ist es sehr unwahrscheinlich, dass es gegen den »Cordon Sanitaire«, den nahezu alle wichtigen gesellschaftlichen Kräfte um die Partei und ihre Verbündeten herum errichtet haben, zu bedeutsamen und dauerhaften öffentlichen Öffnungen und Verbrüderungen kommt. 

Gesellschaftspolitisch betrachtet ist die AfD ein Amalgam unterschiedlicher Sperrminoritäten, die sich vor allem in ihrer Ansprechbarkeit über nationalistisch aufgeladene Selbstverständnisse des »Deutschen« bzw. nationaler Zugehörigkeit, in menschenfeindlichen, vor allem rassistischen Ressentiments und Anti-Establishment-Agitationen überschneiden. 

Dabei verfügt nur der geringe Teil der AfD-WählerInnen bisher über eine kohärente, radikal-rechte ideologische Weltauffassung. Vielmehr hat die AfD wie ein Staubsauger diejenigen Leute in eine Wählerschaft zusammengeführt, die zwar (bspw. den Studien über »Deutsche Zustände« zufolge) schon vorher über menschenfeindliche Dispositionen verfügten, aber trotzdem keine radikal rechte Partei wählten. Und selbst aus dieser durchaus heterogenen Ansammlung erreichte die AfD vor Herbst 2015 nicht alle, sondern sah sich zwischenzeitlich den Umfragen zufolge in die wahlpolitische Bedeutungslosigkeit abrutschen. Ohne die so genannte Flüchtlingskrise wäre sie wahrscheinlich wie viele kurzzeitig erfolgreiche radikal rechte Parteien vor ihr geendet, die zumeist nach einer Reihe wahlpolitischer Erfolge an inneren Konflikten zerfielen und durch wiederholte Niederlagen wieder absanken. 

Der wichtigste Hegemonie-Effekt der AfD bestand darin, das vormals latente, immer nur vorübergehend wirkmächtige Reservoir an menschenfeindlichen und nationalistischen Einstellungen bei Teilen der Wählerschaft als Wahlmotiv zu einer dauerhaften Größe gemacht zu haben, mit der man wird rechnen müssen. Unter dem üblichen Vorbehalt, dass nicht die nächsten Wahlgänge die Tendenzen wieder umstoßen, die sich bis hierhin abgezeichnet haben, lassen sich einige Schlussfolgerung zu Qualität und Stärke der AfD-Unterstützung ziehen. 

Erstens ist die Deutung der AfD-Erfolge durch die Brille einer Faschisierungs-Diagnose nur sehr begrenzt brauchbar und führt auf falsche Fährten. Inzwischen kann zwar kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es wichtige und bemerkenswerte Gemeinsamkeiten zwischen den ideologischen Anrufungen, den Vorstellungswelten, den Sakralisierungen von Heimat, Kultur und z.T. Erbgut sowie den Vergemeinschaftungssehnsüchten im deutschen NS-Faschismus und dem Spektrum der AfD gibt, wie zuletzt Floris Biskamp gegenüber Cornelia Koppetsch geltend gemacht hat. 

Doch von ideologischer Verwandtschaft alleine auf eine den 1930ern ähnliche gesamtgesellschaftliche Bedrohungslage zu schließen hieße, das ABC des Materialismus völlig zu vergessen. Nicht nur verfügt die Bundesrepublik in der Politik über eine demokratische Rechte, die der Weimarer Demokratie noch fehlte. Nicht nur fehlt heute die Bedrohung durch den Sowjetkommunismus als Schreckgespenst, das die bürgerlichen Kräfte dem Faschismus sogar um den Preis der Selbstaufgabe politischer Rechte in die Arme treiben könnte. Nicht nur ist Deutschland heute nicht durch Gebietsabtretungen und Reparationsverpflichtungen in der Defensive und auch durch keine »Schmach von Versailles« ökonomisch wie symbolisch eingeschränkt, sondern im Gegenteil ist die Bundesrepublik heute DIE unangefochtene geoökonomische und geopolitische Macht in Europa, gegen deren Veto wenig auszurichten ist und deren Gewicht nach einem anstehenden Brexit noch steigen dürfte. Nicht nur ist die deutsche Sozialstruktur heute nicht zuerst durch Hyperinflation und später durch Heinrich von Brünings deflationäre Austeritätspolitik massiv beeinträchtigt. 

Nein, ökonomisch zieht die Bundesrepublik erhebliche Vorteile aus der weltwirtschaftlichen Lage und ihrem Status als Krisengewinnlerin. Die Deutschen jammern auf höchstem Niveau über geringe Guthabenzinsen und verzichten wegen ihrer ökonomisch kurzsichtigen Doktrinen der »schwäbischen Hausfrau« und der »schwarzen Null« auf günstigste Kredite. Was hierzulande plausibel beklagt werden kann an prekären Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt, sozialer Ungleichheit oder bei Zukunftsängsten ist selbst- und nicht fremdverschuldet. Auf dieser Basis kann die AfD nicht einmal ansatzweise eine Schlagkraft entwickeln, die gesellschaftspolitische Verankerung erreichen oder Bündnispartner finden, wie sie die Nazis hatten, von einem Militär als ihrem willigem Vollstrecker ganz zu schweigen. 

Zweitens kommt man nicht umhin, die Wahlentscheidung und erst recht die offene Parteinahme für die AfD als von Ressentiments getrieben anzusehen. So wichtig die Begriffe »Rassismus« und »Nationalismus« als Problemmarkierungen in diesem Zusammenhang sind, so unzureichend bleiben sie zugleich. Man droht in die von Wolfgang Fritz Haug bereits Anfang der 1990er Jahre in der ‚Dialektik des Antirassismusskizzierte Falle zu tappen, einen einheitlichen Block wahrzunehmen und im Sinne selbsterfüllender Prophezeiung sogar ungewollt Homogenität mit zu schaffen, wo tatsächlich heterogene Einzelne und Gruppen wirken. 

Es gibt ein breites Kontinuum an menschenfeindlichen Dispositionen, die sich auf verschiedenen Achsen durchaus unterscheiden. So etwa hinsichtlich ihrer Reichweite – anhand welcher Merkmale, in welchen Lagen werden Menschen herabgesetzt und in welcher Konstellation »rassifiziert«? Oder anhand ihrer Tiefe – welche anderen Aspekte der Subjektivität derjenigen, die andere »rassifizieren«, werden durch ihren Rassismus dominiert oder verdrängt (z.B. ihre Zugehörigkeit zur gleichen Klasse, zum gleichen Geschlecht, Stadtteil, Betrieb wie diejenigen, die Zielscheibe der »Rassifizierung« sind)? Oder eben ihrer Radikalität – wie groß ist das Universum an Handlungen, das durch rassistische Dispositionen unbewusst ausgelöst und gesteuert oder bewusst begründet und angetrieben wird? 

Heute kann sich keine AfD-Wählerin, kein AfD Wähler mehr darauf berufen, von der menschenfeindlichen Schlagseite dieser Partei nichts gewusst haben zu wollen. Zugleich liegen aber zwischen der materiell relativ folgenlosen Stimmabgabe für die AfD und dem brutalen Angriff auf Andersfarbige oder dem Anzünden einer Flüchtlingsunterkunft noch etliche Stufen der Verrohung und Barbarisierung. Deswegen wird es künftig wichtiger werden, Rassismen und Nationalismen im Plural zu erkennen – auch zur Einschätzung, welche derzeitigen WählerInnen der AfD – vermutlich in langwierigen Prozessen – wieder abspenstig gemacht werden können.

Drittens ist dies den Klügeren unter den AfD-Vordenkern durchaus klar. »Es ist tatsächlich fast alles vorhanden für eine politische Wende in Deutschland«, resümierte der neu-rechte Vordenker Götz Kubitschek kurz nach den jüngsten Landtagswahlen, »Wähler, Unmut, Konturen eines Programms, Mandatsträger auf allen Ebenen, eine ins Tausend gehende Mitarbeiterschaft, ein sich ausdifferenzierendes Vorfeld, Theorie, Bücher und Zeitschriften, Initiativen, Stiftungen, Begriffe, vorzeigbare Gesichter.« Es mangele aufgrund der gesellschaftspolitischen Stigmatisierung der Partei an ausstrahlungsfähigen Leuten, die sich zu ihr bekennen sowie an Resonanzkörpern in der gesellschaftlichen »Mitte«, die durch normalisierendes Abbilden und Sprechen-Lassen des radikal rechten Spektrums faktisch als Hegemonieapparat der AfD wirken sollen. Im Prinzip muss die AfD nachträglich zu ihrer eigenen Unterfütterung aufwendig errichten, was frühere Parteien vor ihrer Gründung mindestens teilweise vorbereitet vorgefunden hatten. Die aus der ArbeiterInnenbewegung entstandenen Parteien beziehen ihre historische Mission aus der »sozialen Frage«, die Bündnisgrünen ihre Daseinsberechtigung aus der »ökologischen Frage« sowie der »Frauenfrage«, christdemokratische Parteien aus der »konfessionellen Frage« usw. Wenn die AfD Kubitschek folgt, wird sie versuchen, eine neue nationale, »deutsche Frage« plausibel zu machen, unter deren Gesichtspunkten gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Strukturen politisch zur Disposition gestellt werden sollen. 

4. »We’re not in Kansas anymore!«

Wenn man von einem mindestens mittelfristig, vielleicht langfristig bleibenden Phänomen ausgehen kann, dann gehört vieles aus der Auseinandersetzung mit dem radikalen Rechtspopulismus unbedingt auf den Prüfstand. Manches kann getrost schon verabschiedet werden. International, aber vor allem in Deutschland, hatten sich Schemata des Denkens über und des Vorgehens gegen die populistische radikale Rechte eingebürgert, deren Wirksamkeit heute zweifelhaft erscheinen. 

Das oben bemühte englische Zitat soll nicht auf den berühmten Film über den »Zauberer von Oz« anspielen, sondern auf Thomas Franks Beststeller »What’s the matter with Kansas?«. Der US-amerikanische Historiker und Journalist Frank versuchte seinen  Herkunftsbundesstaat analysierend zu zeigen, warum und wie eine einstmalige Bastion populistisch-fortschrittlicher Politik zum Kernland konservativer Republikaner hatte werden können. 

Frank bot ein Deutungsschema an, wonach lohnabhängige konservative WählerInnen von den »objektiven Interessen« abweichen, die ihnen äußere BeobachterInnen zuschreiben. Dafür wurden im Prinzip zwei parallel laufende Erklärungen angeboten: Einmal erscheint die Abweichung vom objektiven (eigentlich immer vor allem ökonomisch gedachten) Interesse als Ausdruck falschen Bewusstseins, Ausdruck eines erfolgreichen Priestertrugs durch republikanische PolitikerInnen, die ihre WählerInnen mit konservativ-reaktionären Wertedebatten und Angriffen auf stigmatisierte gesellschaftliche Randgruppen bezirzen, um dann – einmal an die Macht gekommen – doch nur die wirtschaftsliberale Agenda ihrer großkapitalistischen Unterstützer durchzuboxen. 

Andererseits bekommt die Wahlentscheidung den starken Hauch einer zumindest minimal »rationalen« Protestreaktion, weil das Elektorat damit die einstmals fortschrittlichen Kräfte abstrafe, die die originäre ArbeiterInnenklasse zugunsten besser situierter WählerInnensegmente verrieten, weil denen vor allem gesellschaftsliberale Öffnungen (für Anliegen von Frauen, ethnischen Minderheiten, Homosexuellen usw.), nicht aber die Brot-und-Butter-Themen am Herzen lagen, die vor der konservativen Verführung noch Kernanliegen und auch Kernerfahrung der Arbeiterschaft gewesen seien. 

Wenn LeserInnen jetzt stutzend denken »das kommt mir doch bekannt vor!«, dann liegen sie genau richtig. Denn Thomas Franks Argumentation bildet bis heute das grundlegende Schema, durch das nicht nur (wie ursprünglich beabsichtigt) die Erfolge religiöser-konservativer Ansprache in den USA, sondern auch rechtspopulistische Erfolge in allen betroffenen industriekapitalistischen Ländern durch etliche Feuilletons, Diskussionsrunden und Parteiversammlungen diskutiert und gedeutet werden. Selbst wenn sie in ihren Texten gegen einige der Grundannahmen dieser Auslegung ausdrücklich Stellung bezogen wie bspw. Didier Eribon gegen die Annahme »objektiver Interessen«, wurden er, Arlie Hochschildt und etliche andere für das angesprochene Interpretationsschema in Anspruch genommen. Die daraus erwachsende Diskussion hat der Auseinandersetzung mit dem radikalen Rechtspopulismus und insbesondere der linken Positionierung in diesem Zusammenhang merklich geschadet. 

So positiv es auch ist, dass die Befassung mit den Reservoirs an Erwartungen und Gefühlen der Wählerschaft gegen die bornierte (und immer schon unrealistische) Fiktion der »rationalen« und informierten WählerIn gewesen sein mag, so problematisch ist es doch, die auftretenden Unzufriedenheiten, von denen viele erst durch (partei)politische Ansprache eine sprachliche Form bekommen, für gleichberechtigte Ansprüche im Verhältnis zu stärker faktenbasierten politischen Forderungen zu erklären. 

Weiterhin geschadet hat die dem Deutungsschema entnommene Elitenschelte (bspw. über angebliche Ökonomie-Vergessenheit von Bill und Hillary Clinton oder über radikal liberalisierte Zuwanderungspolitik mitte-linker Mainstreamparteien), deren Behauptungen der nüchternen Faktenrecherche nicht standhalten, trotzdem aber zu einem aufgeheizten Wechselspiel innerlinker und inner(links)liberaler Selbstbezichtigungen geführt haben. Dabei geht es darum, zu erörtern, wer nun wann, wie und in welchem Umfang die (unausgesprochen als immer irgendwie »authentischer«, »wichtiger«, »unverfälschter« gedachten) Interessen der ArbeiterInnenklasse vernachlässigt oder verraten habe. 

Wahrscheinlich sagt diese Diskussion mehr über die Verunsicherung und Hilflosigkeit der Diskutanten, als dass sie Aussagekraft für das Diskutierte und die in Mithaftung genommene ArbeiterInnenklasse hat, die meist völlig gegenwartsfremd in den Bildern der Nachkriegszeit gedacht wird, so dass wahlweise gern Beschäftigte neuer Industrien oder aus Branchen mit hohem Dienstleistungsanteil übersehen werden. Im auf Thomas Frank folgenden Deutungsschema werten sich die SprecherInnen – ob gewollt oder nicht, gewusst oder nicht – deutlich über das nachweisbare Maß zu ausschlaggebenden Faktoren weitreichender gesellschaftspolitischer Umgruppierungen auf. Ungewollt und unbewusst spielen sie damit das Spiel der RechtspopulistInnen, deren nah an der Verschwörungstheorie sich bewegenden Situationsdeutungen immerzu auf Schuldzuschreibungen an Personenkreise abstellen. 

Für den radikalen Rechtspopulismus gibt es keine Zufälle, keine Vorgänge »hinter dem Rücken« der Betroffenen, keine schleichend sich vollziehenden politischen Umorientierungen, keine Gleichzeitigkeit von Benachteiligung bei unterschiedlich unterprivilegierten alteinheimischen und neu-deutschen, migrantischen Bevölkerungskreisen, keine Irrtümer und kein Unrecht durch relativ Benachteiligte an anderen Leuten, die selber (meist noch stärker) benachteiligt sind: Der beklagte gesellschaftliche und politische Verfall muss unbedingt einer Personengruppe zuzuschreiben sein, die bereits sichtbar ist oder die man mit der symbolisch negativ aufgeladenen Fiktion »kosmopolitischer Eliten« brandmarkend sichtbar machen muss. 

Eine Erklärung rechtspopulistischer Erfolge, die erfolgreiche Gegen-Aktion ermöglicht, benötigt eine andere ganz andere Struktur. Wahrscheinlich wird sie nicht spiegeln, was der Rechtspopulismus zum eigenen Erfolg an Erklärung anbietet, sondern eher quer dazu liegen.

5. Das Aktionsschema des Entlarvungs-Antifaschismus

Am 15. September veröffentlichte das ZDF ein Video, in dem der interviewende Journalist den Thüringer AfD-Spitzenkandidat und bekannten Neu-Rechten Björn Höcke in einer belehrungsartigen Situation stellen wollte. In eingespielten Clips wurde gezeigt, dass Parteifreunde Höckes aus dem Bundestag nicht in der Lage oder willens waren, Sätze aus dessen Mund von Zitaten aus Adolf Hitlers »Mein Kampf« zu unterscheiden. Das Gespräch wurde von Höckes Sprecher mittendrin abgebrochen, und Höcke selbst drohte dem Journalisten in fragwürdigen Formulierungen Konsequenzen an. 

Das Interview und die es gutheißenden Reaktionen gerade aus dem linken und linksliberalen Spektrum sind aufschlussreich, weil sie symptomatisch sind für eine dort weitverbreitete Herangehensweise. Man glaubt, durch Entlarvung kritik- und verabscheuungswürdiger Inhalte die Protagonisten des rechten Spektrums bloßzustellen und in den Augen des Publikums zu diskreditieren. In manchen Fällen mag dieses Vorgehen sinnvoll und gerechtfertigt sein, aber als allgemeine Schablone zur Konfrontation der AfD ist es schlicht ungeeignet. 

Der tatsächliche Aufklärungswert solcher Enthüllungsaktionen ist an den Folgereaktionen von ZuhörerInnen und ggf. von Institutionen der Politik und Rechtsstaates festzumachen. Vor jedem Entlarvungsversuch ist also zu fragen, wie groß der Neuigkeitswert tatsächlich ist und wer damit beeindruckt werden soll. Vor dem Start der AfD waren Entlarvungsaktionen naheliegender, als es antifaschistischen Kreisen etwa darum ging, in den Reihen von Unionsparteien oder der FDP radikale Rechte oder enge Kontakte zu solchen bloßzustellen und ihre Enthüllung gegen den Anspruch dieser Parteien auszuspielen, die »bürgerliche Mitte« zu vertreten. 

Doch im Falle Björn Höckes hat nach dessen öffentlich gewordener Rede über den „afrikanischen Ausbreitungstyp“, oder seinem Angriff auf das Berliner Holocaust-Mahnmal als „Denkmal mal der Schande“ der Versuch, den Thüringer noch als NS-affin demaskieren zu wollen in etwa den gleichen Neuigkeits- und Aufklärungswert wie ein spektakulär hergeleiteter Nachweis, dass der Papst katholisch ist. Es mag dem Entlarvenden ebenso Genugtuung verschaffen wie dem Höcke ohnehin nicht freundlich gesinnten Teilen des Publikums. Doch eines gelingt damit sicherlich nicht: der AfD UnterstützerInnen abspenstig zu machen. 

Unter Gesichtspunkten der Aufklärung sind das ZDF-Interview vom September und ähnlich angelegte Aktionen eher Rückfälle im Vorgehen, betrachtet man im Vergleich dazu das letztjährige ZDF-Sommerinterview vom Thomas Walde mit Alexander Gauland. Der AfD-Chef konnte weder provokativ auftrumpfen, noch sich als Opfer darstellen, weil der Journalist konsequent die Themen aus dem klassischen Repertoire der AfD umging. Interessanter wäre es also gewesen, Björn Höcke seine meistens als agitatorische Andeutung gehaltenen Losungen ausbuchstabieren zu lassen, um deren (fehlende?) Substanz ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Inwiefern ist man in Deutschland tatsächlich »wehrlos gegenüber fremden Kulturen und Ideologien«, wie Höcke behauptet? Wie soll »die Wende geschafft« oder vollendet werden, von der er spricht? Wie hat Deutschland seine »Männlichkeit verloren«, und wie soll es sie zurückbekommen? Was soll damit gemeint sein, die AfD sei die letzte evolutionäre, friedliche Chance für Deutschland? 

Der bloße Abgleich mit NS-affinen Positionen ist hingegen stumpf geworden, wenn es nicht gerade um justiziable Fälle wie etwa Holocaust-Leugnung geht. Allen ihren Versuchen zum Trotz, das Label »bürgerlich« zu reklamieren ist die AfD in den Augen von fast niemanden mehr eine respektable eurokritische Professorenpartei, die einen Ruf zu verlieren hätte. Ist der Bedarf an Ruf erst liquidiert, hetzt es sich ganz ungeniert.

6. Ausblick: Verdichtung und Zuspitzung

An Schauplätzen der Auseinandersetzung mit der AfD wird es in den nächsten Jahren nicht mangeln. Zuletzt hat die AfD sich nun darauf festgelegt, auch beim Thema Klimawandel den öffentlichen Gegenpol zu den Bündnisgrünen zu besetzen. Auf diesem, wie auch auf anderen Feldern politischer Auseinandersetzung, die viel Aufmerksamkeit finden und emotional stark aufgeladen sind, sollte man nach zwei grundlegenden Vorgehensweisen Ausschau halten, mit denen sich die AfD als erkennbare Akteurin im Spiel hält. 

Als Trägerin radikal-rechtspopulistischer Politik wird sie, wenn sie schon nicht die materialen politischen Beschlüsse mitprägen kann, so doch zumindest Richtung und Temperatur der Debatte beeinflussen wollen. Dazu wird sie einerseits eine Arbeit der Verdichtung betreiben, d.h. bestimmte gesetzgeberische Vorhaben und Maßnahmenbündel zu Schicksalsfragen hochstilisieren, etwa den drohenden wirtschaftlichen Kollaps der Bundesreplik durch eine CO2-Besteuerung behaupten. Darauf aufbauend wird sich die AfD voraussichtlich um eine Arbeit der Zuspitzung bemühen, d.h. aktiv auf einen Showdown zwischen ihrem politischen Angebot und dem der Bündnisgrünen als behaupteter Speerspitze des drohenden Untergangs hinarbeiten. 

Auf diesem, ihrem selbstgewählten Terrain ist die AfD wahrscheinlich nicht besiegbar. Will die Linke aus der Tradition der ArbeiterInnenbewegung ihren wahlpolitischen Sinkflug und gesellschaftspolitischen Bedeutungsverlust aufhalten und umkehren, muss sie das Terrain selbst verändern, auf dem die Auseinandersetzung stattfindet. Wahrscheinlich wird sich die Linke dabei ein ganzes Stückweit neu (er)finden müssen, weil »die soziale«  Frage sich unter den Bedingungen massiver geopolitischer und geoökonomischer Machtverschiebungen, Migrationsbewegungen, zunehmend politisierter Reproduktions- und Sorgearbeit und natürlich ökologischen Notstands deutlich anders stellt. 

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