Kein »Rückfall in Nationalismus« – ohne klar europäische Themen?
Von dieser Wahl ist kein großer Schub in Richtung Europäisierung deutscher Politik zu erwarten. Bei aller Betonung, wie wichtig »Europa« angesichts eines drohenden Zerfalls doch sei, spiegeln die Versäumnisse der vergangenen Jahre in den Wahlkampf zurück.
Die Wahl zum Europäischen Parlament 2019 findet in Deutschland am 26. Mai zeitgleich mit der Wahl zum Landesparlament im Stadtstaat Bremen und mit Kommunalwahlen in zehn Bundesländern statt. Bereits 2014 hatte die Zusammenlegung der Wahltermine von EP-Wahl und Kommunalwahl in fünf Ländern dort eine positive Wirkung auf die Wahlbeteiligung. Allein deshalb kann erneut mit einer höheren Wahlbeteiligung gerechnet werden.
Gleichzeitig stößt die EP-Wahl selbst bisher auf ein größeres Interesse als diejenige 2014. Die Ursachen hierfür betreffen vor allem (I.) die Veränderungen im bundesdeutschen Parteiensystem seit 2014 und (II.) die allgemeine Stimmungslage in der wahlberechtigten Bevölkerung, die auch von der Sorge vor einen »Rückfall in Nationalismus« getragen ist. Fraglich indes ist, ob und wie die Parteien daraus in ihren Wahlkampfstrategien Nutzen ziehen wollen (III.).
I. Zwischenetappe in der Neuformierung des deutschen Parteiensystems
Seit der letzten Wahl zum europäischen Parlament hat sich die politische Landschaft in Deutschland sehr stark verändert. Die Wahl 2014 brachte den politischen Durchbruch für die damals noch nationalliberal geprägte »Alternative für Deutschland«. Sie mobilisierte trotz einer deutlich niedrigeren Wahlbeteiligung absolut fast genauso viele Stimmen wie bei der Bundestagswahl einige Monate zuvor und konnte große Einbrüche in das konservative Wählerlager insbesondere in Südwestdeutschland und Ostdeutschland verbuchen. Seit Herbst 2014 gelang ihr eine Serie von einzigartigen, meist zweistelligen Wahlerfolgen, so dass sie aktuell in allen sechzehn Landesparlamenten vertreten ist und im nationalen Parlament die stärkste Oppositionsfraktion stellt. Auf diesem Weg radikalisierte sich die Partei zu einer autoritären nationalradikalen Bewegungs- und Mobilisierungspartei, die von der öffentlichen Aufmerksamkeit für beständige diskurspolitische Tabubrüche und die Selbstinszenierung als »verfolgtes Opfer« des politischen Establishments lebt. Ihr zentrales Thema sind die behaupteten drohenden Wohlstandsverluste durch Migration und »Überfremdung« (Islamophobie) und das angeblich mangelnde völkische Selbstbewusstsein der Deutschen aufgrund des nach der vernichtenden Niederlage 1945 von außen aufgezwungenen »Schulkultes«.
Die Frage, wie dieser fremdenfeindlichen und nationalistischen Mobilisierung erfolgreich zu begegnen ist, die in die Anhängerschaften fast aller Parteien – mit Ausnahme der Grünen – hineinwirkte und zu teils heftigen innerparteilichen Auseinandersetzungen und Abwanderung von Wählerinnen und Wählern führt, diese Frage bestimmte noch bis nach der Bundestagswahl 2017 die politische Debatte im Land und in den Parteizentralen. Mittlerweile haben sich alle Parteien darauf eingestellt, dass die AfD nicht nach einer Legislaturperiode wieder aus den Parlamenten verschwinden wird, dass sich nun auch in Deutschland wie in allen europäischen Ländern eine rechte Bewegungspartei ins politische System eingenistet hat und dass deren Mobilisierungsstrategie nicht durch Anpassung an Themen und Inhalte beizukommen ist. Zuletzt musste dies die bayerische CSU im Oktober 2018 schmerzlich erfahren.
Die Wahlen zum europäischen Parlament gelten allen Bundestags-Parteien daher auch als Testfeld für veränderte Wahlstrategien in einem nachhaltig in Bewegung geratenem politischen Feld, deren Ausgang womöglich neue Konturen erkennen lassen wird.
Hierzu zählen der Niedergang nun auch der deutschen Sozialdemokratie, die in manchen Landesparlamenten nur noch eistellig vertreten ist und die gleichzeitige Stagnation der Linkspartei; der Aufstieg der Grünen, die hinsichtlich Themen, Positionen und Politikstil als Gegenpol zur AfD wahrgenommen und gewählt wurden. Insgesamt ist das Parteilager links der CDU in den vergangenen Jahren weiter geschwächt worden. Hierbei handelt es sich vermutlich um eine länger anhaltende strukturelle Schwäche, weil es auf die großen Fragen der beiden kommenden Dekaden: die Neuordnung der globalen Beziehungen, die erneute Automationswelle in der Arbeitswelt und dem Klimawandel keine soziale und demokratische Antwort gibt, die über den europäischen Tellerrand hinausreicht. Aber bereits Ende der 1970er Jahre wurde klar, dass die ethisch-sozialen Potenzen sozialer und demokratischer, auf Kooperation statt Wettbewerb setzender Politik in (west-)europäischen Staaten nunmehr in Antworten auf globale Ungerechtigkeiten liegen werden.
Die Grünen suchen angesichts der linken Schwäche verstärkt nach neuen Bündnisoptionen mit der Union. Zu den Veränderungen zählt auch, dass allgemein Regierungsbildungen auf allen institutionellen Ebenen deutlich schwieriger geworden sind. Teilweise werden lagerübergreifende Mehrparteien-Koalitionen erzwungen, um eine Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern und Minderheitsregierungen, die in Deutschland keine Tradition haben, auszuschließen. Der Kenntlichkeit und Unterscheidbarkeit der Parteien nutzt dies bisher nicht.
Die Veränderungen im parteipolitischen Feld sind nicht als einfache Rechtsverschiebung einzuordnen. Ihnen zugrunde liegen mehrfache Polarisierungen, die am Ende zu einer völligen Neuordnung des Parteiensystems führen könnten. Hierbei handelt es sich um harte Konflikte zwischen dem alten wertkonservativen Besitzbürgertum und dem immer zahlreicher werdendem neuen Bildungsbürgertum, der politisch vor allem als Kultur- und Wertekampf ausgetragen wird. Eine zweite größere Konfliktlinie entspannt sich entlang des deutschen industriell geprägten Exportmodells. Die dort Beschäftigten sehen sich einerseits beständig dem Weltmarkt-Wettbewerb ausgesetzt und haben andererseits gravierende Transformationsprozesse vor Augen: Handelskriege, neue Automationswelle, Konversion der deutschen Automobilindustrie. Die klassischen Berufswege, die auf mittleren Bildungsabschlüssen und Fachausbildungen beruhen, geraten unter Deklassierungsdruck. Zusätzlich gerät das Exportmodell unter Druck, weil mittlerweile in vielen Bereichen die damit verbundene Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur offensichtlich ist und andere Themen die politische Aufmerksamkeit bestimmen. Hier findet die AfD vor allem unter Industriebeschäftigten mit mittlerer Qualifikation in der zweiten Phase ihres Erwerbslebens überdurchschnittlich Anhänger. Eine drittes Konfliktfeld spielt auf der Ebene der Niedrigeinkommen und der Herausbildung eines neuen Dienstleistungsproletariat, dessen Alltag durch unzureichende Einkommen, prekäre Jobs, Tagelöhnerei und sich verschlechternde Zugänge zu Gesundheitsleistungen, Wohnungen usw. geprägt ist. Materielle Fragen verbinden sich mit Status-Fragen, nach sozialer Anerkennung für Jobs wie Paketauslieferer und einem Platz in der Gesellschaft, der mehr für das Leben bereithält als »das Mindeste«.
Der AfD gelingt es bisher am ehesten, zwischen diesen horizontalen und vertikalen, sozial, kulturell und ökonomisch geformten Konflikten eine Verbindung herzustellen, zentral ist dabei die in das Gewand der Überfremdung und Islamophobie gekleidete Migrationsfrage. Ihr völkisch geprägter Nationalismus in Verbindung mit sozialen Verbesserungen nur für Deutsche knüpft bewusst an die nie versiegte geistig-moralische Unterströmung der deutschen »Volksgemeinschaft« des Nationalsozialismus an.
Während die anderen Parteien sich noch schwertun, sich auf die neuen gesellschaftlichen Konfliktlagen einzustellen, kommen aus der Zivilgesellschaft von Organisationen und Aktivisten getragene Antworten, die ein vielfältiges Bild einer hochgradig repolitisierten Gesellschaft ergeben. So gab es allein seit dem letzten Sommer eine Großdemonstration mit 250.000 Menschen gegen ein autoritäres, nationalistisches Gesellschaftsbild. In Bayern fanden mehrere große Mobilisierungen gegen ein verschärftes Polizei- und Sicherheitsgesetz statt. Der überraschende Erfolg eines Volksbegehrens zum Erhalt der natürlichen Artenvielfalt in Bayern zwang die regierende CSU zu einem scharfen Kurswechsel. Steigende Mieten in den großen Städten mobilisieren Zehntausende, plötzlich wird ernsthaft darüber debattiert, ob große Wohnungskonzerne nicht enteignet werden sollten. Die Wohnungsfrage bringt Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten und sozialmoralischer Milieus zusammen.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das – distanzierte – Verhältnis der jüngeren Generation zu den im Bundestag vertretenen Parteien sind die digitalen und analogen Mobilisierungen gegen die jüngst vom Europäischen Parlament beschlossene Urheber- und Leistungsrechtreform und gegen die halbherzigen Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels (»Fridays for Future«).
Schließlich hat sich die »Sorge um Europa« ausgebreitet. Die Zusammenarbeit in der EU wird nicht mehr als gegebene Selbstverständlichkeit angesehen.
II. Ungenutzte Spielräume für europäische Politik?
»Mehr Europa« hat unter den Wahlberechtigten in Deutschland eine hohes positives Mobilisierungspotential. Wer für eine »Verstärkung der Zusammenarbeit in der EU« eintritt erzielt deutlich höhere Zustimmungswerte als ein Kandidat oder eine Partei, die für einen »Austritt aus der EU« wirbt. Die Autoren einer breit angelegten Studie vom Sommer 2018 sprachen deshalb rückblickend auf die Bundestagswahl 2018 von einer »verpassten Mobilisierungschance« aller Parteien. Denn eine Gegenmobilisierung sei, anders als beim Thema Flüchtlinge, nicht zu befürchten. Diese positive Wirkung von »Mehr Europa« wird für die Anhänger von CDU/CSU, SPD und Grünen am stärksten gemessen, aber auch für Wähler der FDP und der Linken. Einzig bei den Wählern der AfD würde »Mehr Europa« eine leicht negative Wirkung erzielen. (Robert Vehrkamp/Wolfgang Merkel: Populismusbarometer 2018. Populistische Einstellungen bei Wählern und Nichtwählern in Deutschland 2018, Gütersloh 2018) Diese positive Grundstimmung unterstrich eine Umfrage, die nach Wahlsieg des »Pro-Europäers« Macron gegen die »Anti-Europäerin« Le Pen in Frankreich ermittelte, dass sich 55 Prozent der Deutschen vorstellen konnten, eine »Macron-Partei« zu wählen, wobei sie nicht an seine wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen dachten.
Zu dieser positiven Grundstimmung tragen vordergründig drei mehr oder weniger subjektive Wahrnehmungen drohender Gefahren bei: (1) der mögliche Zerfall der europäischen Union (»Brexit«, nationalistische, »antieuropäische« Regierungen in Ungarn, Italien, Polen); (2) das Erstarken der autoritärer nationalradikaler Kräfte auch in Deutschland (Wahlerfolge der Partei »Alternative für Deutschland«); (3) die Zunahme globaler Spannungen durch die Politik von Donald Trump. Nach seiner Amtsübernahme glaubte statt zwei Drittel der Befragten zuvor plötzlich nur noch ein Viertel der Befragten, dass die USA ein vertrauenswürdiger Partner Deutschlands sei. China und Russland gelten seit über einem Jahr als vertrauenswürdigere Partner. Seit Jahren konstant hingegen halten neun von zehn befragten Deutschen das Nachbarland Frankreich mit Abstand für einen »Partner, dem man vertrauen kann«. Die deutsch-französische Partnerschaft ist den Deutschen sehr wichtig – und durch politisch formbar eine breite Zustimmung für den »Aufbau eines Kerneuropas«. Gut 70 Prozent der Befragten hielten das am Jahresanfang für eine Sache, der sie »voll und ganz« oder doch zumindest »eher« zustimmen würden. Diese Haltung beruht auf dem mehrheitlichen Wunsch, die Zusammenarbeit in der EU zu verstärken und vertiefen, und der Skepsis andererseits, ob dies angesichts der aufsteigenden Nationalismen in etlichen EU-Ländern möglich sei. Deshalb findet auch die Aufnahme neuer Staaten in die EU zur Zeit keine Mehrheit in der Bevölkerung.
Seit 2010 ist eine deutliche Mehrheit von bis zu 50 Prozent der Auffassung, dass die EU-Mitgliedschaft Deutschland mehr Vorteile bringt, nur ein gutes Sechstel sieht mehr Nachteile. Diese Sichtweise überwiegt bei den Anhängern fast aller Bundestagsparteien. Allein die Anhänger der nationalistischen AfD sehen mehr Nachteile als Vorteile. Bei einer etwas anderen Fragestellung, die versuchte affektive und rationale Motive zu unterscheiden, hielten 56 Prozent die EU-Mitgliedschaft für eine »gute Sache« und 14 Prozent für eine »schlechte Sache« für Deutschland, doch erkannten nur 37 Prozent auch »Vorteile für Deutschland. Eine »gute Sache« muss nicht unbedingt mit Vorteilen verbunden sein – die doch sehr deutliche Differenz in den Antworten spricht für ein erhebliches Potential in der deutschen Bevölkerung, welches für eine Politik des wirtschaftlichen und sozialen Ausgleichs in der EU politisch mobilisiert werden könnte. Indes ist dieses Potential unter den Befragten sehr ungleich verteilt. Am stärksten ist es bei den unter 30-Jährigen, unter den Rentnern und Rentnerinnen und Befragten mit höheren Bildungsabschlüssen. Am geringsten bzw. gar nicht vorhanden bei 40-60-Jährigen mit mittleren oder niedrigen formalen Bildungsabschlüssen, hier überwiegt in einigen Gruppen auch die Ansicht, die EU-Mitgliedschaft bringe mehr Nachteile als Vorteile.
Eine Mehrheit der Deutschen von mindestens 60 Prozent spricht sich bereits seit längerem mit Blick auf die Zukunft für eine »Vertiefung« der Zusammenarbeit in der EU aus, selten mehr als ein Viertel findet, Deutschland solle »wieder stärker allein handeln«. Diese Einstellung ist unter Anhängern der Grünen, der CDU/CSU, der Linken und auch der SPD überdurchschnittlich vertreten. Unter den AfD-Anhängern sprechen sich umgekehrt zwei Drittel für mehr nationale Alleingänge aus. Interessant für linke und sozialdemokratische Politik ist dabei der Blick auf die Parteikompetenzen. Wenn es um den Einsatz für die »Interessen Deutschlands in der EU« geht, liegt die CDU/CSU deutlich vor allen anderen Parteien. Wenn es hingegen um den für die »Interessen der arbeitenden Bevölkerung in der EU« geht, liegt die SPD vorne und die Linke gleichauf mit CDU/CSU. Mit einer »Vertiefung der Zusammenarbeit« in der EU wird in der Bevölkerung also Unterschiedliches verbunden.
Fragt man nach den wichtigsten Aufgaben, die der EU zugeordnet werden, und inwieweit diese Aufgaben erfüllt werden, ergeben sich erhebliche Lücken zwischen Erwartungen und Wirklichkeit. Die acht Erwartungen mit der größeren Lücken zur wahrgenommenen Realität sind in der Reihenfolge der Größe der Differenz: »Gerechtere Besteuerung internationaler Unternehmen durchsetzen«, »Gleiche Bezahlung von Frauen und Männern für gleiche Arbeit gewährleisten«, »Bürger vor Kriminalität schützen«, »Gemeinsam Terrorismus bekämpfen«, »einen effektiven Umweltschutz betreiben«, »die Arbeitnehmer vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes schützen«, »den Frieden in Europa bewahren« und »die Zuwanderung begrenzen«. Es sind soziale Gerechtigkeitsthemen und Sicherheitsthemen, wo deutlicher Nachholbedarf für die EU gesehen wird. Entsprechend positionieren sich die Parteien um Wahlkampf.
III. Wahlkampfstrategien: Europa?
Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind in Deutschland meist Wahlen, in denen sich Parteien und Wahlbevölkerung ehrlich machen. Die Wahlbeteiligung gibt Aufschluss darüber, wie verbreitet das politische Interesse an der institutionellen Ebene europäischer Politik und die Einsicht, bei Wahlen eine Entscheidung treffen zu müssen sind. Da nach der Wahl keine Regierungskoalitionen wie bei nationalen Wahlen gebildet werden müssen, entscheiden sich die Wählerinnen und Wähler ohne entsprechende wahltaktische Abwägungen allein nach ihrer aktuellen Parteipräferenz, zumal dann, wenn es wie bei der letzten und der bevorstehenden Wahl keine Sperrklausel gibt. Und die Parteien machen sich ehrlich, da sie entscheiden müssen, ob sie europäische Themen zur Wahl stellen oder anlässlich der Wahl zum EU-Parlament ihre nationalen Themen zur Wahl stellen.
Soweit die Wahlkampagnen zurzeit bekannt sind, werden die meisten Parteien den Erfolg mit Themen suchen, die auch in der nationalen Politik dominieren. Themen und Forderungen, die nur auf europäischer Ebene und nur durch europäische Institutionen bearbeitet und umgesetzt werden könnte, werden nicht prominent beworben. Immerhin die SPD betont: »Europa ist die Lösung«, nicht das Problem. Einzig die kleine DiEM25 tritt als europäische Partei an, alle anderen Parteien bestenfalls als Mitglieder eines europäischen Parteienbündnisses.
Insofern ist von dieser Wahl kein großer Schub in Richtung Europäisierung deutscher Politik zu erwarten. Keine der im Bundestag vertretenen Parteien scheint die Absicht zu haben, die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte in der EU zum zentralen Thema zu machen, die demographischen Verwerfungen oder die unterschiedliche, hierarchische Einbindung der nationalen Ökonomien in die europäische Arbeitsteilung; die Rolle, die die EU in einer sich verändernden Weltlage spielen sollte – und damit eben auch die notwendigen Veränderungen der deutschen Politik in der EU, um die Voraussetzungen für eine vertiefte Kooperation, wie von der Bevölkerung befürwortet, überhaupt herzustellen. Insofern spiegeln die Parteien, bei aller Betonung, wie wichtig »Europa« angesichts eines drohenden Zerfalls doch sei, die Versäumnisse der vergangenen Jahre in den Wahlkampf zurück: keine ausgearbeiteten Vorschläge für neue soziale Institutionen, europäische Instrumente zur Regelung von Markt und Steuern und Übertragung von Souveränitätsrechten, kein neues Verständnis von deutscher Europapolitik und europäischer Solidarität – vielleicht hier und da im Kleingedruckten.
Gleichwohl, alle Parteien stellen ein positives Europa-Bild ins Zentrum, darin der Stimmungslage in der Bevölkerung Rechnung tragend. »Unser Europa macht stark«, verspricht die CDU/CSU. Bei anderen Parteien wird für Aufgaben geworben: »Europas Versprechen erneuern« kann man mit den Gründen, »Europas Chancen nutzen« mit der FDP. Bei der SPD wird es anstrengend: »Kommt zusammen und macht Europa stark!« lautet das Motto ihres Wahlprogramms, bei der Linkspartei werden Bedingungen formuliert: »Europa nur solidarisch«. Die AfD – »Ein Europa der Nationen – Vielfalt statt Gleichmacherei« formuliert als einzige Partei Forderungen nach einem Austritt aus dem Euro (und der EU), wenn nicht ihre Reformverschläge umgesetzt würden. Offen fordert keine Partei ein Ende des Euro oder einen Austritt aus der EU.
Die CDU/CSU nutzt die Wahlkampagne für den Versuch, ihre neue Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer als legitime Nachfolgerin von Angela Merkel innerparteilich zu inthronisieren. Dafür werden wertkonservative, patriarchale Positionen wieder diskurspolitisch unterstützt, um Wähler von der AfD zurückzuholen. Thematischer Schwerpunkt des Wahlkampfes wird das Urthema des Konservatismus, die Sicherheitspolitik sein: Schutz der EU-Außengrenzen und eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik – das einzige wirkliche Zugeständnis an die Macron-Initiative für eine europäische Erneuerung durch deutsch-französische Initiativen. Mit Sicherheitsversprechen soll auch das Thema Migration befriedet und ein Kapitel abgeschlossen werden, an dem die Europapolitik der Union zu zerbrechen drohte: Die unterbliebene Grenzschließung im Sommer 2015 wird nun als Teil das demnächst abgeschlossenen Regierungszeit Merkels behandelt (historisiert). Öffentlich wird die Union, wie wohl die gesamte deutsche Parteienlandschaft, jeden Versuch vermeiden, daran zu erinnern, dass eine Grenzschließung im Sommer 2015 zur Folge gehabt hätte, Griechenland mit den Flüchtlingen allein zu lassen, was vermutlich das kurz zuvor unterzeichnete dritte Memorandum obsolet gemacht und damit die jahrelange »Rettungspolitik« und den Euro zum Einsturz gebracht hätte. Über die Rückkehr der deutschen Austeritätspolitik in Europa in Gestalt der »Flüchtlingswelle« via Griechenland nicht zu reden, hat fatale Auswirkungen. Die für europäische Politik Deutschlands notwendige Empathie, nämlich die Ereignisse auch durch die Augen des Partners zu betrachten, wird wieder nicht in der deutschen Öffentlichkeit unterstützt, d.h. die Chancen auf Mehrheiten für einen Finanz- und Solidarausgleich werden nicht besser. Stattdessen lässt sich aber trefflich über die mangelnde europäische Solidarität etwa Ungarns, Polens usw. räsonieren, also eine Position moralischer Überlegenheit einnehmen. Abwehr der Migration, gemeinsame europäische Sicherheitspolitik und gemeinsames Agieren auf dem Weltmarkt – entlang dieser Linie haben CDU und CSU ihren harten Streit beendet und auf dieser Grundlage platziert sich die bayerische CSU nun plötzlich als dezidiert proeuropäische Partei – was auch eine radikale Wende in der Auseinandersetzung mit der AfD ist. Die letzten Stimmungsbilder bewerten die Union mit gut 30 Prozent, leicht stärker als das Ergebnis 2014.
Für die Sozialdemokraten der SPD sind die Wahlen zum europäischen Parlament ein erster Test für ihre neue Strategie, mit sozialen Themen wie Grundrente, Pflege, Arbeitslosenunterstützung, soziale Kindersicherung einen polarisierenden Unterschied zum Koalitionspartner Union zu machen. Ob ihre Vorschläge für den Einstieg in einen europäischen Finanzausgleich durch eine Europäische Arbeitsversicherung und Mindestlöhne eine prominente Rolle spielen werden, ist noch nicht abzusehen. Vermutlich wird das vom weiteren Verlauf der Stimmungslage abhängen. Denn mit Blick auf die kommenden Landtagswahlen geht es für die SPD vor allem um die nationale Bedeutung des Wahlergebnisses: kein weiteres Abrutschen gegenüber dem historischen Tief der letzten Bundestagswahl. Und auf sozialdemokratischer Seite fehlt es am politischen Offensivgeist, dafür »Europa als Lösung« anzusehen. Die SPD liegt in den aktuellen Stimmungsbildern mit 16-18% deutlich unter ihrem Vorwahlergebnis (27,3 Prozent).
Die Linkspartei befindet sich in einer ähnlichen Lage wie die SPD und wird Schwierigkeiten haben, ihr Vorwahlergebnis (7,4 Prozent) zu halten. Infolge der schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen um die Migrationspolitik, die »Sammlungsbewegung Aufstehen«, nach dem Verzicht von Sahra Wagenknecht auf Führungsämter geht es vor allem darum, nicht (zu viel) zu verlieren. Auch hier ist die Europa-Wahl nicht mehr als ein Testlauf für eine wahlstrategische Orientierung, die einerseits auf die klassischen sozialen Themen setzt und andererseits versucht, bei den Themen Klima und Kultur eine Abwanderung jüngerer Anhänger zu den Grünen zu verhindern. Die Plakat-Kampagne arbeitet mit Themen – Mindestlöhne, Konzernsteuern, Mieten, Frieden usw. – denen kein ausdrücklich europäischer Charakter anhaftet, mit denen kein ausdrücklich europäisches Projekt verbunden ist; sie wären auch bei jeder anderen Wahl einsetzbar. Eine gewisse Ausnahme stellt nur das Plakat »Menschen retten – sichere Häfen schaffen« dar.
»Kommt, wir bauen das neue Europa« lautet die wiederkehrende Losung auf den Wahlplakaten der Grünen. Gegen Nationalismus und für eine ökologische Erneuerung bilden Schwerpunkte der Kampagne und greifen aktuelle Sorgen und Anliegen gerade auch der jüngeren Generation auf. Für die Grünen geht es am Ende darum, die Europawahl zu nutzen, ihr erneutes Hoch (bis zu 205) in den Umfragen endlich einmal in Wählerstimmen umzusetzen und zweitstärkste Partei zu werden, als Basis für die im Herbst anstehenden Landtagswahlen.
Der AfD wird in den Umfragen mit 10-12 Prozent bewertet, die FDP mit 7 Prozent. Erneut könnte wegen der fehlenden Sperrklausel eine Reihe kleiner Parteien mit einem Mandat ins europäische Parlament einziehen.
Selbstverständlich sind für die kommenden Wochen bis zum Wahltermin Überraschungen und jähe Wendungen nicht auszuschließen – siehe z.B. Brexit, Italien, … Vielleicht ist auch das ein Grund, warum der Wahlkampf für das Europäische Parlament in Deutschland zwar im Grunde weitgehend proeuropäisch, aber – aus der Perspektive demokratischer und sozialer Politik – defensiv geführt wird.
Der Text erscheint auf Englisch als Länderbericht auf der Webseite des linken Netzwerkes Transform!Europe – wo sich eine Reihe weiterer interessanter Länderberichte zur politischen Situation vor den Wahlen zum Europäischen Parlament findet. Außerdem ist er auf dem Blog von Horst Kahrs auf Deutsch erschienen.
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