Keine gesellschaftliche Veränderung mit VWL
Die Wirtschaftswissenschaften finden auch auf die Corona-Krise keine Antworten, denn gesellschaftlicher Wandel kann nur durch Bewegungen losgetreten werden, meint Philip Blees.
Die „Krise als Chance“ ist in aller Munde. Kaum eine Zeitung hat nicht Ähnliches schon während der Pandemie getitelt. Die Debatte hat alle Disziplinen ergriffen: Auch an den Universitäten wird über die Folgen gesprochen. Neben der Bedeutung der Online-Veranstaltungen wird auch inhaltlich hinterfragt, wie es weiter gehen soll. Da kommt selbst so manch ein alteingesessener BWL-Professor auf die Idee, dass die Solidarität in solchen Zeiten besonders relevant ist und ihm fällt gar auf, dass in seiner Vorlesung – und denen der Kolleg*innen – über diese kein Wort verloren wird.
Öffentlich treten zudem wieder die Mainstream-Ökonom*innen gegen deren Kritiker*innen an. Zuletzt wurde in der FAZ. diskutiert: „Die Corona-Krise kann nicht spurlos an VWL und BWL vorbeigehen“. Die Schlussfolgerung? Für Deutschland ist sie der FAZ klar: Enge Lieferketten seien das Problem. Auf Unvorhergesehenes wie eine Pandemie müsse man sich vorbereiten. Kleine Taten sollen gegen große Krisen helfen. Anpassungen des existierenden Systems kommen explizit nicht in Frage.
Dass sich Lehre und Forschung in Krisenzeiten selbst hinterfragen, ist nichts Neues. Schon nach der Finanzkrise wurde lautstark die Standhaftigkeit und Legitimation der Neoklassik bezweifelt. Geändert hat sich seitdem nicht besonders viel. Das könnte auch noch etwas dauern: In den Jahren der europäischen Staatsschuldenkrise und danach haben viele Studierende genau wegen diesen angefangen, wirtschaftswissenschaftliches Interesse zu entwickeln. Viele wollen wirtschaftspolitische Zusammenhänge verstehen. Es reift eine kritischere Generation von Wirtschaftswissenschaftler*innen heran. Momentan werden sie von der existierenden Lehre bitter enttäuscht.
Das Dogma der Volkswirtschaftslehre – die Neoklassik – wackelt kaum. Krisen werden weiter durch externe Schocks erklärt, die nicht durch das Wirtschaftssystem selbst verursacht werden, sondern von außen kommen. Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind weiter idealisierte Modellannahmen. Daran hat die Finanzkrise nichts geändert und das wird sich auch nicht durch die Corona-Krise ändern. Letztere bieten zu viel Raum, um sie auf den externen Schock der Krankheit zu schieben, was nicht vollkommen falsch ist, jedoch strukturelle Ursachen vollkommen ausschließt. Da birgt schon das Lob der Ökonom*innen für das beschlossene Konjunkturpaket einen Schimmer Hoffnung und macht die Forderung nach der Absenkung des Mindestlohns Angst.
Mathematische Modelle ersetzen an der Universität immer noch die politische Diskussion. Die Methode steht über der Reflektion. Da helfen auch all die Beteuerungen nichts, dass man auch innerhalb der Neoklassik hinterfragen kann und dazu keine anderen Schulen einführen müsste. Gefühlt steht die ökonomische Diskussion damit schon weit hinter der gesellschaftlichen, die beispielsweise durch „Fridays for Future“ und viele anderen Bewegungen erschüttert wird.
Auf dieses monolithische Verständnis der Wirtschaftswissenschaften reagiert nun schon seit einigen Jahren die plurale Ökonomik. Vor allem aus studentischer Perspektive, mittlerweile aber auch vermehrt von Professor*innen wird gefordert, Lehrinhalte und Forschungsansätze zu überdenken und den einseitigen Fokus auf neoklassische Modelle um andere Sichtweisen zu ergänzen. Dazu gehören (post-)keynesianische Ideen genauso wie marxistische oder feministische. Ganz im Sinne des Spätkapitalismus wird für verschiedene Blickwinkel auf das gleiche Anschauungsobjekt plädiert. Alle Theorien haben hier einen Wahrheitsgehalt. Alle haben ihre Existenzberechtigung.
Das zeigt den Stand der kritischen Lehre. Statt fundamentale – manche würden „radikale“ sagen – Kritik zu formulieren, versuchen sich die Pluralen in die letzte Bastion des Meinungspluralismus zu flüchten. Bezeichnend ist dann auch die Diskussion der „Kritischen WirtschaftswissenschaftlerInnen Berlin“ mit Finanzminister Olaf Scholz (SPD) an der Freien Universität, die im Sommer letzten Jahres in ihrer Ringvorlesung zu Finanzkrisen stattgefunden hat. Wenn das schon die Kritik an der Mainstream-Ökonomik ist, steht es schlecht um sie.
Das soll nicht heißen, dass die plurale Ökonomie und ihre Netzwerke falsche Kritikpunkte formulieren oder per se zu verurteilen sind, sondern dass sie den Ausgangspunkt der Veränderung missverstehen. Dieser liegt in der Gesellschaft und nicht in der ökonomischen Lehre, die nur logisch auf die falsch eingerichtete Gesellschaft folgt. Kritische Ringvorlesungen und eine Ergänzung des Lehrplans sind zwar schön, gesellschaftliche Transformation ist aber besser.
Somit spiegeln die Wirtschaftswissenschaften – mitsamt allen Diskussionen – lediglich die Verhältnisse wider. Verantwortung – hier: Reflexion der öden Lerninhalte – wird auf das Individuum verlagert, über Kritik nur mal gesprochen, kaum praktisch umgesetzt. „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“, besagt das Sprichwort. Diese Situation wird sich nicht über eine Verschiebung im wirtschaftsakademischen Diskurs verändern, dafür benötigt es eine gesellschaftliche Veränderung, also die wirkliche Bewegung (Marx). Die „kapitalistische Ausbeutung als Lehrberuf“ – wie die BWL einmal von der Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ kritisiert wurde – kann man nicht dahingehend ausdifferenzieren.
Das lässt nur ein absolutistisches Urteil gegen die Wirtschaftswissenschaften zu. Mit ihnen ist keine gesellschaftliche Befreiung machbar, sie können höchstens als Anschauungsobjekt zur Ideologie des Spätkapitalismus dienen. Das gilt auch für die Reaktion auf die Corona-Krise. Man kann sie nur studieren, um sie zu überwinden. Auf der Website der FAZ. kommentiert ein gewisser Herr Stefan Staub passend: „Weg mit BWL und VWL.“
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