Wirtschaft
anders denken.

Keine faulen Kompromisse

20.08.2021
Auf einer Tafel ist mit Kreide ein Handschlag gezeichnet. Darunter steht "Partners".Bild: Gerd Altmann auf PixabayHandschlag zwischen Arbeiter:innen und Kapital: Der Klassenkompromiss

Die Verteidigung des Marxismus als Familienprojekt: Über die Keynesianismus-Kritik von zwei Paul Matticks. Aus OXI 8/21.

Für die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg und die durch den Wiederaufbau geprägten »Goldenen Jahrzehnte« bis Mitte der 1970er Jahre war keine wirtschaftspolitische Doktrin so prägend, wie die des britischen Ökonomen John Maynard Keynes. »Wir sind alle Keynesianer«, verkündete selbst der konservative US-Präsident Richard Nixon noch 1973 – ausgerechnet am Vorabend der Auflösung des Bretton-Woods-Systems, dessen Fixierung von Wechselkursen und der Goldbindung des US-Dollars eine der zentralen Säulen der »keynesianischen Revolution« gewesen waren. Und auch wenn Keynes‘ Ruhm in den »neoliberalen Jahrzehnten« bis zum Einbruch der großen Krise der Weltwirtschaft nach 2007 etwas verblasste, so war dies doch zumindest retrospektiv zweifellos richtig gewesen. Denn über staatliche Nachfrageerhöhungen, teilweise Verstaatlichungen der Infrastruktur, eine flexible Geldpolitik, Regulierungen des Finanzsektors sowie der Arbeitsmärkte und die, wenn auch zumeist vorsichtige Ausdehnung sozialstaatlicher Maßnahmen hatten sich in allen Industrienationen der westlichen Welt gesamtwirtschaftlich gesteuerte Volkswirtschaften entwickelt, die den Vorstellungen des 1946 Verstorbenen ziemlich nahe gekommen sein dürften. Und die zumindest für einige Jahrzehnte so krisenfest erschienen, wie er es prognostiziert hatte.

Politisch schlug sich dieser Konsens in den berühmt gewordenen »Klassenkompromissen« von Gewerkschaften, Sozialdemokratien und auch – zumindest dort, wo sie, wie etwa in Italien oder Frankreich, von nationaler Bedeutung waren – kommunistischen Parteien nieder. Nicht wenige marxistische Theoretiker:innen fanden sich bereit, diesen Weg mitzugehen. Dies galt zunächst für Großbritannien, wo die Labour Party bereits 1945 die Regierung übernommen hatte. Eine ihrer wichtigsten Beraterinnen, Joan Robinson, hatte diese politische Perspektive bereits einige Jahre zuvor auf den Punkt gebracht: »Augenscheinlich ist die Arbeiterbewegung nicht daran interessiert, auf der ganzen Linie einen Vorstoß auf den Sozialismus zu machen«, schrieb sie nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise. »Warum sollte sie dann nicht die Rolle eines Juniorpartners im Kapitalismus akzeptieren und ihn mit allen Kräften unterstützen, damit er prosperiert und Dividenden zahlen kann?«

Präziser noch forderte der ehemalige Marxist John Strachey in dem mit Sicherheit wichtigsten Werk dieser linkskeynesianischen Strömung, seinem 1956 erschienenen Buch »Contemporary Capitalism«, dass sich der »Anstieg des Arbeiter-Lebensstandards in einem zur Abwendung wirtschaftlicher und sozialer Krisen notwendigen Tempo fortzusetzen« solle. Denn nur diese Erhaltung der inneren Absatzmärkte könne dem Kapitalismus »das Fortbestehen« dauerhaft ermöglichen – und die Arbeitenden damit von dessen Zyklen unabhängig machen. So ersetzte das »gesamtwirtschaftliche Interesse« fortan in Praxis und Programmatik den Kampf der Klassen, der noch den älteren Reformismus, etwa eines Eduard Bernstein oder Rudolf Hilferding, geprägt hatte. Seinen wohl bekanntesten Niederschlag fand dies im Bad Godesberger Programm der SPD, in dem nicht nur der Marxismus und die Selbstbezeichnung als Arbeiterpartei suspendiert wurden, sondern nach dem fortan auch statt der Auseinandersetzungen mit den Unternehmern die »Wohlstandsmöglichkeiten durch eine vorausschauende Konjunkturpolitik auf Basis einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung« gefördert werden sollten.

Auch wenn dies nicht völlig unumstritten ablief, so ließ eine offensiv geführte Kritik an den Lehren von Keynes innerhalb der Linken doch auf sich warten. Es war ausgerechnet ein völliger Außenseiter, der dies 1969 nachholte: Der Ende der 1920er Jahre in die USA emigrierte deutsche Rätekommunist Paul Mattick. Seit Mitte der 1940er Jahre hatte sich der gelernte Schlosser, der sich zunächst in der Heimat und später in Chicago in Dutzende von Klassenauseinandersetzungen geworfen hatte, in einem Selbststudium nicht nur immer intensiver mit der Kritik der politischen Ökonomie, sondern auch den verschiedenen bürgerlichen volkswirtschaftlichen Schulen vertraut gemacht. Ausgerechnet die Folgen der Weltwirtschaftskrise – seine Arbeitslosigkeit bezeichnete Mattick später in einem Brief an einen Freund trotz aller Entbehrungen als »Geschenk des Himmels« – und das Ende der großen Streik- und Arbeitslosenbewegungen Ende der 1930er Jahre, nach deren Scheitern er sein Leben als Militanter am äußersten linken Rand der Arbeiterbewegung aufgrund zunehmender politischer Isolation beenden musste, hatten ihm ermöglicht, »erstmals systematisch Studien zu betreiben«. Vervollständigt hatte Mattick diese schließlich in Vermont, wo der proletarische Autodidakt seit 1951 für fast ein Jahrzehnt mit seiner Familie in einer selbst gezimmerten Blockhütte weitgehend subsistent lebte.

Als sein Lebenswerk unter dem unprätentiösen Titel »Marx und Keynes« dann erschien, lag eine fast 30 Jahre lange Vorbereitungszeit hinter ihm. Bereits im Juni 1940 hatte er gegenüber Freunden erstmals angekündigt, »die neuesten ökonomischen Argumente der Marx-Tötung« einer intensiven Kritik unterziehen zu wollen. Erste Erkenntnisse immerhin hatte der aufgrund seiner fehlenden akademischen Ausbildung häufig Belächelte bereits in einigen Artikeln für linke US-Zeitschriften, etwa die von ihm mitgegründete »Living Marxism«, veröffentlichen können. Im Nachhinein erwies sich diese überaus lange Vorbereitungszeit als Glücksfall. Und dies in dreierlei Hinsicht. Zunächst konnte Mattick nicht nur weitgehend ohne Zeitdruck einen relevanten Teil der Literatur sichten, an die der mittellose Gelegenheitsarbeiter durch das Schreiben von Rezensionen gelangte, sondern auch die Praxis keynesianischer Wirtschaftspolitik verfolgen. Zudem fand er durch die ersten wirtschaftlichen Krisenerscheinungen seit Ende der 1960er Jahre deutlich mehr Gehör für seine Kritik, und schließlich bescherten ihm die Jahre der Revolten einen Kreis junger Leser:innen, für die der Nachkriegskonsens ebenso wenig Gültigkeit hatte wie für ihn selbst.

Der zeitlose Wert der »Grenzen des gemischten Wirtschaftssystems«, so der Untertitel des Werkes, besteht darin, Keynes nicht einfach vorgeworfen zu haben, kein Marxist gewesen zu sein oder gar eine fehlende sozialistische Perspektive anzumahnen. Beides konnte, wer wollte, ohnehin in dessen Hauptwerk »Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes« nachlesen. Dort hatte der Brite nicht nur sein Ziel formuliert, »den Kapitalismus retten zu wollen«, sondern Marx‘ Theorien als »unlogisch, überholt, wissenschaftlich falsch und für die heutige Welt ohne Interesse oder Anwendungsmöglichkeit« bezeichnet. Vielmehr unterzog Mattick Keynes in dem 1971 auch ins Deutsche übersetzten und leider längst vergriffenen Buch zunächst einer immanenten Kritik und überprüfte dann das theoretische Gerüst anhand der vor allem US-amerikanischen Nachkriegsentwicklung.

Auch wenn einige Aspekte, etwa die Ähnlichkeit des »gemischten Wirtschaftssystems« mit dem von Mattick als »Staatskapitalismus« angesehenen damaligen Ostblock oder die Perspektiven der Dekolonialisierung, mittlerweile lediglich von historischem Wert sind, so bleiben die meisten Erkenntnisse überraschend aktuell. Dies gilt neben den außergewöhnlich kenntnisreichen Keynes- und Marx-Rezeptionen vor allem für die krisentheoretischen Implikationen, die für Mattick durch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und vor allem nach der Lektüre von Henryk Grossmanns »Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems« immer im Zentrum seiner Überlegungen standen. In einem erst kürzlich erschienenen Interview, das der mit Mattick befreundete Hannoveraner Politologe Michael Buckmiller mit diesem 1976 geführt hatte, verwies der 1981 Verstorbene darauf, dass ihn als »orthodoxen Marxisten« immer auch an Marx »nur dieser eine Gedanke« interessiert habe, nämlich »dass dieses System den Keim der Zersetzung in sich trägt und, ganz gleich, wie es sich entwickelt, immer zugleich seinem Untergang näher kommt«.

Den Prozess der Krisenhaftigkeit durch die von Keynes vorgeschlagenen Maßnahmen aufhalten zu wollen oder gar in einen »dauerhaften Quasi-Aufschwung« zu überführen, war für Mattick lediglich eine »große Illusion«. Zwar habe Keynes mit den empirisch unhaltbaren »Gleichgewichtsmodellen« gebrochen, die die klassische Theorie bis dahin dominierten, aber seine These, bei Krisen handle es sich einfach um einen »Mangel an effektiver Nachfrage«, unterschätze, dass im Kapitalismus nicht einfach für den Konsum produziert werde, sondern immer »das grüne Licht der Gewinnträchtigkeit« aufleuchten müsse, um die Räder in Rollen zu bringen. Insofern sei Keynes‘ Begriff »nur ein anderer Ausdruck für einen Mangel an Kapitalakkumulation und keine Erklärung für sie«. Dagegen beharrte Mattick darauf, dass die von Marx entdeckte Überakkumulation von Kapital zu einem »tendenziellen Fall der Profitrate« führen müsse, die die eigentliche Ursache der Krisen sei, wofür er sich nicht zuletzt auf umfangreiches Datenmaterial stützen konnte.

So war für ihn konsequenterweise die in der »Allgemeinen Theorie« vorgeschlagene Politik einer »effektiven Nachfragesteuerung«, das bekannte deficit spending in Krisenzeiten zur Gewährleistung der Vollbeschäftigung, trotz kurzfristiger Erfolge langfristig ebenso untauglich wie etwa die Senkung der Zinssätze für die Erhaltung der »Grenzleistungsfähigkeit« (Keynes) bzw. »Profitabilität« (Marx) des Kapitals. Denn diese Argumentation übersehe, dass neben der Senkung der Löhne »nur eine beschleunigte Kapitalbildung die Prosperität ermöglichen kann, und dass als Vorbedingung dazu schwere Krisen und eine umfangreiche Zerstörung von Kapitalwerten notwendig« seien. So habe etwa erst der Zweite Weltkrieg die Basis für den ungewöhnlich langen Aufschwung der Wiederaufbauperiode geschaffen. Die Erhöhung von Steuern oder der Staatsverschuldung zur Finanzierung von Konjunkturpaketen müssten die Profitabilität entweder aktuell oder zukünftig weiter senken und so die Krisen entweder weiter verschärfen oder lediglich verschieben – eine Prognose, die die in den kommenden Jahrzehnten Bestätigung fand.

So wichtig Matticks Erkenntnisse für viele junge Sozialisten waren – und ihm selbst immerhin einen bescheidenen Ruhm als marxistischer Theoretiker samt kleinerer Lehraufträge in Roskilde und Mexiko-Stadt bescherten –, als nach der großen Krise von 2007ff. eine neue Renaissance des Keynesianismus einsetzte, waren sie längst wieder vergessen. Da traf es sich gut, dass mit dem Sohn Matticks schon der nächste Kritiker gleichen Namens auf der Matte stand. »Der Keynesianismus wird als Retter nicht nur des Kapitals, sondern auch der Arbeiter gefeiert«, hatte der Senior gewarnt. Und die zu neuem Leben erwachte politische Linke propagierte diese Ideen gleich tausendfach. »In den meisten Ländern bezeichnet man als ›die Linke‹ mittlerweile einfach die politischen Kräfte, die keynesianische Maßnahmen und Einkommensverteilung befürworten«, heißt es in dem 2011 erschienenen Buch von Paul Matticks Jr.

Vor allem ihrer Kritik war »Business as Usual«, so der Titel der Studie gewidmet, in der der in New York lehrende Philosoph und Ökonom in einem an Dichte der Argumentation kaum zu überbietenden Tempo auf die immer engeren Grenzen der Kapitalakkumulation und die daher rührende Desorientierung der divergierenden Schulen der Wirtschaftslehre hinweist. Das Instrumentarium ist vom Vater entlehnt, etwa wenn die Aufschwünge seit dem Zweiten Weltkrieg als »ein immer schwächeres Scheinbild von Prosperität« bezeichnet werden, das »nur um den Preis wachsender Verschuldung« überhaupt noch habe überleben können. Und auch, dass mittelfristig ein neuer Aufschwung nur über die Stabilisierung der Profitraten, also auch soziale Angriffe führen könne, eint Vater und Sohn. Angesichts des steten Scheiterns vor allem linkskeynesianischer Regierungen, einerseits dauerhaft die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen zu verbessern und andererseits Krisen zu vermeiden – zuletzt etwa in Griechenland oder Spanien zu beobachten –, drängt sich aller Schwäche des zeitgenössischen Marxismus zum Trotz das Fazit aus »Marx und Keynes« auf: Dass im Kapitalismus »zwar bewusst die Politik beherrscht werden kann, aber nicht die Ökonomie«.

Paul Mattick: Marx und Keynes. Die Grenzen des ›gemischten Wirtschaftssystems‹ Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1971.

Paul Mattick: Business as Usual. Krise und Scheitern des Kapitalismus Edition Nautilus, Hamburg 2012.

›Die Revolution war für mich ein großes Abenteuer‹. Paul Mattick im Gespräch mit Michael Buckmiller herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Christoph Plutte und Marc Geoffroy. Unrast-Verlag, Münster 2013.

Geschrieben von:

Axel Berger

Historiker

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