Fahrstuhl, Rolltreppe und Paternoster
Es mangelt nicht an Metaphern zur Erklärung der sozialen Klassen-Struktur im Umbruch. Was taugen sie?
In der jüngsten Vergangenheit fand das Thema der wachsenden Ungleichheit in Deutschland wieder mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Dazu hat Oliver Nachtweys Buch »Die Abstiegsgesellschaft« maßgeblich beigetragen, dessen Kernthese besagt, dass die Bundesrepublik in der »regressiven Moderne« aus einer »Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration« zu einer »Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung« geworden sei.
Den gesellschaftlichen Niedergang belegte Nachtwey allerdings nur partiell, etwa durch den Hinweis auf einen mit dem Dienstleistungs- wachsenden Niedriglohnsektor. Nachtweys Erklärung der Bundesrepublik zur »Abstiegsgesellschaft« führt schon deshalb in die Irre, weil Deutschland nach dem Krisenjahr 2009, das mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 5,0 Prozent endete, fast zehn Jahre lang wirtschaftlich floriert hat und selbst in der durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten Rezession nur einzelne Bevölkerungsgruppen vom sozialen Abstieg betroffen oder bedroht waren.
Das für die junge Bundesrepublik konstitutive Versprechen, dass mit einem sozialen Aufstieg und materiellem Wohlstand bis an sein Lebensende belohnt wird, wer sich anstrengt, fleißig ist und etwas leistet, gilt zwar längst nicht mehr, wenn man sich darauf überhaupt je berufen konnte. Obwohl der soziale Abstieg häufiger und der Aufstieg von ganz unten schwerer geworden ist, fällt Letzterer aber häufig steiler als früher aus, wenn man z.B. an erfolgreiche Start-up-Unternehmer in der digitalen Plattformökonomie denkt. »Abstiegsgesellschaften« sind höchstens Burkina Faso, Bangladesch und Burundi. Denn sie fallen als ganze Volkswirtschaften immer weiter hinter entwickelte Staaten des globalen Nordens zurück.
Der Soziologe Hans-Günter Thien kritisiert, dass Nachtwey eine Bestimmung der Klassenstruktur des Gegenwartskapitalismus schuldig bleibe, die »eigentümliche Melange« von Klassen und Schichten, die er den Leser(inne)n zumute, sowie das »arge Durcheinander zwischen den Begriffen Klasse und Schicht« im Hinblick auf die gesellschaftliche Mitte: »Letztendlich bleibt völlig unklar, um wen es sich denn bei dieser ‚Mitte‘ handelt; noch unklarer bleibt, ob die gleichfalls immer wieder für die offensichtlichen Veränderungen der Wirtschaft angesprochenen Transnationalisierungs- und Digitalisierungsprozesse Auswirkungen auf jene Mitte haben.«
Oliver Nachtwey hat das von seinem verstorbenen Münchner Fachkollegen Ulrich Beck (»Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne«) eingeführte Bild eines Fahrstuhls aufgegriffen, in dem Klassen und Schichten gemeinsam nach oben oder unten fahren. Bis in die 1980er-Jahre hinein seien Ungleichheiten zwar bestehen geblieben, Arm und Reich jedoch gemeinsam nach oben gefahren, meint Nachtwey, weshalb die sozialen Unterschiede an Bedeutung verloren hätten. Sowenig alle Gesellschaftsmitglieder, unabhängig von ihrer Klassen- und Schichtzugehörigkeit, »im selben Boot« sitzen, sowenig benutzen sie jedoch gemeinsam einen Aufzug. Denn ihre materiellen Interessen stimmen grundsätzlich nicht überein, sind vielmehr unterschiedlich, zum Teil sogar gegensätzlich.
Bei der sozioökonomischen Polarisierung im Finanzmarktkapitalismus handelt sich weder um einen »Fahrstuhleffekt«, den Beck zu erkennen glaubte, weil alle Bevölkerungsschichten im »Wirtschaftswunder« der Nachkriegszeit gemeinsam nach oben und im Zuge der Massenarbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise 1974/75 nach unten gefahren seien, noch um einen »Rolltreppeneffekt«, den Oliver Nachtwey beobachten zu können glaubte, weil Auf- und Abstiege eine kollektive und eine individuelle Dimension hätten.
Die einen fahren nach oben, die anderen nach unten
Treffender kann man von einem sozialen Paternostereffekt sprechen: Während die einen nach oben fahren, fahren andere nach unten, weil Armut und Reichtum strukturell miteinander verzahnt sind.[1] Noch immer gilt, was Bertolt Brecht in einem 1934 veröffentlichten Kindergedicht auf den Punkt gebracht hat: »Reicher Mann und armer Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.«
Einerseits dringt die relative (Einkommens-)Armut, bei der man laut einer EU-Konvention weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat – das sind für Alleinstehende 1.148 Euro pro Monat –, seit einiger Zeit in die Mitte der Gesellschaft vor, andererseits wird daraus im sozialen Kellergeschoss vermehrt absolute, extreme bzw. existenzielle Armut. Seit der Pandemie verstärken sich die Verelendungstendenzen im Milieu der Obdachlosen, Drogenabhängigen und Illegalisierten, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nimmt.
Die Zahl der Armen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens stieg während der Pandemie um 600.000 von 13,2 Millionen auf 13,8 Millionen (16,6 Prozent) im Jahr 2021. Unter dem Druck der Coronakrise, die Einkommensverluste durch Kurzarbeit, Geschäftsaufgaben und den Rückgang von Aufträgen oder Auftritten nach sich zog, kauften mehr Personen bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehörenden Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd noch reicher geworden sind. Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat sein Privatvermögen, das die Welt am Sonntag (v. 20.9.2020) auf 41,8 Milliarden Euro taxierte, im ersten Pandemiejahr laut dem US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes um 7,5 Milliarden Dollar gesteigert.
Die russische Ukraine-Invasion, die Wirtschaftssanktionen des Westens und die sich dadurch beschleunigende Inflation verstärken den sozioökonomischen Paternostereffekt: Während große Teile der Bevölkerung wegen der Teuerungswellen bei Haushaltsenergie, Kraftstoffen und Nahrungsmitteln nach unten fahren, werden andere gleichzeitig nach ganz oben befördert. Energie- und Ernährungsarmut haben das Zeug, zu der Sozialen Frage der 20er-Jahre zu werden.
Jahrzehntelang war in der politischen, Fach- und Medienöffentlichkeit allerdings nur vom Fahrstuhl die Rede, obwohl damit Illusionen hinsichtlich gleicher Interessenlagen von Armen und Reichen verbreitet wurden. Erst in jüngster Zeit benutzten die Soziologen Klaus Dörre, Andreas Reckwitz und Wilhelm Heitmeyer ebenfalls die Paternoster-Metapher, allerdings bloß der Letztere unter Bezugnahme auf den Verfasser.[2] Nach wie vor steigen bestimmte Teile der Bevölkerung (z.B. Mittelschichtangehörige durch berufliche Qualifizierung, neue Geschäftsideen oder größere Erbschaften) auf, fahren also sozioökonomisch und finanziell gesehen nach oben, während andere (z.B. prekär Wohlständige) absteigen, also nach unten fahren. Armut und Reichtum sind aufgrund des Übergangs zum digitalen Plattform- und Finanzmarktkapitalismus noch enger miteinander verzahnt, weshalb beide ihrem Ausmaß nach tendenziell zunehmen. Dadurch werden die Reichen in Zukunft womöglich noch reicher und die Armen zahlreicher, aber nicht unbedingt – wie Nachtwey in Anlehnung an eine beliebte Redensart schrieb – ärmer. Wer schon alles verloren hat und mehr oder weniger von der Hand in den Mund lebt, kann schließlich kaum noch tiefer fallen.
Während der Fahrt eines Aufzuges verharren alle Insassen unabhängig davon, ob sich dieser nach oben oder nach unten bewegt, auf derselben Ebene. Hingegen bleibt der soziale Abstand zwischen Kapitaleigentümern und lohnabhängig Beschäftigen nie konstant, ändert sich vielmehr zu jeder Zeit. In konjunkturellen Aufschwungphasen sprudeln die Gewinne, Renditen und Dividenden, ohne dass die Löhne und Gehälter damit Schritt halten. Nach dem Boom trifft die Krise beide Klassen ebenfalls unterschiedlich: Finanzspekulanten verlieren möglicherweise einen Großteil ihres Vermögens, Lohnabhängige jedoch womöglich ihren Arbeitsplatz und damit ihre Existenzgrundlage.
Auch das von dem französischen Soziologen Robert Castel stammende und von Nachtwey übernommene Bild einer Rolltreppe trügt, weil nun zwar die soziale Fallhöhe zwischen den einzelnen Personengruppen differiert, wenn sie auf unterschiedlichen Stufen stehen, die eingeschlagene Fahrtrichtung aber gleichbleibt.[3] Treffender ließe sich von einem sozialen Paternostereffekt sprechen: Armut und Reichtum sind im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem strukturell miteinander verzahnt, weshalb zur selben Zeit, in der bestimmte Personen(gruppen) nach oben fahren, andere nach unten gelangen. Bei genauerem Hinsehen hinkt jedoch auch dieser Vergleich, weil eine Kabine nach dem Wendemanöver im Keller die Richtung ändert und ihre Passagiere automatisch wieder nach oben befördert, während Armen der Wiederaufstieg nur selten gelingt, und weil die Fahrt nach oben die Benutzer/innen des Paternosters keine Mühe kostet, was für Arme ebenfalls nicht gilt.
Kritik an einer Kulturalisierung des Klassen-Begriffs
Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz spricht ebenfalls von einem »Paternostereffekt«, weil die Spätmoderne »durch eine Gleichzeitigkeit von sozialen Aufstiegs- und Abstiegsprozessen geprägt« und die Bundesrepublik zugleich »Abstiegs- und Aufstiegsgesellschaft« sei, je nachdem, welche Bevölkerungsgruppen man betrachte.[4] Hingegen lehnen der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler und die Dresdner Literaturwissenschaftlerin Marina Münkler den Paternoster als Bild für soziale Auf- und Abstiege ab, weil dabei keine politische Option hervorsteche: »Man kann ihn stoppen, doch dann verharren alle an dem Ort, den sie gerade einnehmen, oder man kann ihn in die umgekehrte Richtung fahren lassen, was auf das gleiche Ergebnis hinausläuft. Die Paternoster-Metapher steht für die Perspektivlosigkeit linker Gesellschaftskritik.«[5] Die beiden Eheleute verkennen dabei allerdings, dass man den Paternoster im Zuge eines Systemwechsels durch ein andersgeartetes Beförderungssystem ersetzen kann, bei dem niemand absteigen oder schlechtergestellt werden muss, wenn Menschen sozial aufsteigen oder zu einem größeren Wohlstand gelangen.
Ob sich die Mittelschichtangehörigen im Fahrstuhl, auf einer Rolltreppe oder im Paternoster befinden, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Entwicklung der Gegenwartskapitalismus in Zukunft nimmt, anders gesagt, ob sich die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, von Eigentum und Produktivvermögen fortsetzt oder ob gesellschaftliche Alternativkonzepte an Einfluss gewinnen und durch die Mobilisierung starker politischer Gegenkräfte in sich zuspitzenden Verteilungskämpfen wirkmächtig werden. Denn es gibt weder für alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen tragfähige Krisenlösungen noch individuelle Wege aus dem Dilemma, dass der gesellschaftlich erzeugte Reichtum vermutlich weiter zunimmt, aber nicht automatisch gerechter verteilt wird.
Vielleicht noch prominenter als Nachtweys Modell der »Abstiegsgesellschaft« sind die Konzeption einer »Gesellschaft der Singularitäten« und die Klassendefinition von Andreas Reckwitz. Dieser an der Humboldt-Universität lehrende Kultursoziologe hält die »Kulturalisierung und Singularisierung des Sozialen in der Spätmoderne« für den Beginn einer »neuen Klassengesellschaft«, die sich jedoch anders zusammensetze als die vergangene, mit der industriellen Moderne verschwundene.[6] Zwar sei die globale Ökonomie der Spätmoderne, wie Reckwitz sie nennt, eine im Kern weiterhin kapitalistische. Es handle sich heute aber um einen »postindustriellen« und »kognitiv-kulturellen« Kapitalismus, auf dessen Märkten nur erfolgreich sei, was über seine Funktion hinaus einen symbolischen Wert habe. Kognitiv sei diese Ökonomie, weil immaterielles Kapital, d.h. Urheberrechte, Patente, Netzwerke, Datenbestände usw. durch Wissensarbeit komplettiert werde. »Kulturell ist dieser Kapitalismus, weil unter den kognitiven Gütern jenen ein besonderer Stellenwert zukommt, die weniger funktionale Nützlichkeitsgüter sind, sondern von denen die Konsumenten einen kulturellen Wert und kulturelle Einzigartigkeit (Singularität) erwarten: von der Erlebnisreise über die Netflix-Serie und die Markenkleidung bis hin zur Bioernährung und zur Wohnung in ausgesuchter Lage.«[7]
Manche der von Reckwitz erkannten und (neu) benannten, vornehmlich mit Aufmerksamkeit heischenden Begriffen versehenen Entwicklungstendenzen sind allerdings uralt. Das gilt beispielsweise für den von ihm erwähnten Umstand, dass Immobilien in einer außergewöhnlich attraktiven Lage sehr begehrt sind und exorbitant hohe Preise erzielen, genauso wie für die von ihm als weiterer Beleg angeführte Tatsache, dass mit Nike-Sportschuhen überteuerte Prestigeprodukte gekauft werden. Um ihren Sonderstatus zu demonstrieren, haben Menschen, die es sich leisten konnten, immer schon auf ostentativen Konsum gesetzt. Rolex (Luxusuhren) und Rolls-Royce (Nobelautomobile) gibt es seit dem Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts, und auch die beiden Modemarken Chanel und Gucci sind nicht viel jünger. Schon erheblich länger träumen Philatelist(inn)en aus aller Welt von der Blauen Mauritius – nicht etwa, weil diese Briefmarke einer britischen Kolonie besonders schön wäre, sondern ausschließlich deshalb, weil sie eine Rarität und berühmt ist wie keine zweite, ohne dass in diesem Zusammenhang bisher jemand vom »Singularitätskapital« gesprochen hätte – ein modisches Label der Kultursoziologie à la Reckwitz. Wenn aus Gründen der Profitmaximierung mit geeigneten Marketingstrategien für ein Vordringen des kommerzialisierten Markenfetischismus bis in die Unterschicht gesorgt worden ist, hat das nichts mit einem neuen Stadium oder einer neuen Qualität des Kapitalismus, sondern nur mit der Raffgier und Raffinesse seiner transnationalen Konzerne zu tun. Ebenso gut könnte man von einem karitativ-konsumistischen Kapitalismus sprechen, weil sich der Bismarck’sche Sozial(versicherungs)staat ansatzweise zu einem Fürsorge-, Almosen- bzw. Suppenküchenstaat gewandelt und der Stellenwert des privaten Konsums erheblich zugenommen hat.
Reckwitz distanziert sich von der marxistischen Klassentheorie ebenso wie von »Einseitigkeiten« der Lebensstil- und Milieuforschung, indem er die Relevanz spezifischer kultureller Lebensformen für die Konstitution von sozialen Klassen stärker akzentuiert, ohne die Bedeutung der ungleichen Ressourcenverteilung völlig zu leugnen: »Klassen sind mehr als sozialstatistische Einkommensschichten und auch mehr als alltägliche Lebensstile. Klassen sind kulturelle, ökonomische und politische Gebilde zugleich. Als Klasse teilt eine Gruppe von Individuen eine gemeinsame Lebensführung samt den entsprechenden Lebensmaximen, Alltagsvorstellungen und Praktiken.«[8]
Etwas anderes hat weder Marx noch Engels behauptet. Zwischen ihnen und Reckwitz ist jedoch die Reihen- bzw. Rangfolge zwischen der sozioökonomischen, der politischen und der kulturellen Dimension des Klassenbegriffs strittig. Und an dieser zentralen Stelle irrt Reckwitz gründlich. Einen berühmten Satz aus der Dreigroschenoper von Bertolt Brecht abwandelnd, kann man nämlich formulieren: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Kultur. Das gilt für die Menschheitsgeschichte ebenso wie für die Biografie jedes einzelnen Individuums. Sobald die materiellen Existenzgrundlagen eines Menschen gesichert und damit die Voraussetzungen für seine halbwegs angstfreie Betätigung auf geistigem Gebiet entstanden sind, gewinnt die Kultur zwar an Bedeutung für ihn, bleibt aber weiterhin von Ersteren abhängig. Dies mussten Kreative, Künstler/innen und Kulturschaffende zuletzt während der Coronakrise leidvoll erfahren: Als wegen der Pandemie und der staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen (Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen) viele ihrer Aufträge oder Auftritte storniert wurden, stand die Sicherung der nackten Existenz für alle Betroffenen im Vordergrund ihres Handelns.[9]
Folgt man Reckwitz, hat sich aus der Erbmasse einer »allumfassenden Mittelschicht der industriellen Moderne« durch Postindustrialisierung und Bildungsexpansion eine »Dreier-Struktur der Klassen« entwickelt: »Auf der einen Seite ist eine hochgebildete, urbane neue Mittelklasse emporgestiegen – das neue Leitmilieu der Spätmoderne –, auf der anderen eine neue prekäre Unterklasse vor allem von Mitgliedern eines Dienstleistungsproletariats nach unten abgerutscht. Zwischen beiden verharrt die traditionelle, an Ordnung und Sesshaftigkeit orientierte Mittelklasse.«[10]Dies zeigt laut Reckwitz, dass sich die Beziehungen der Klassen zueinander nicht auf materielle Ungleichheiten reduzieren lassen, der kulturelle Faktor einer symbolischen Auf- bzw. Abwertung vielmehr grundlegend ist.
Als weitere Abstraktionsebene neben »Klasse« führt Reckwitz im Anschluss an die Lebensstilstudien des SINUS-Instituts das Milieu ein. Den von ihm für wichtig gehaltenen Klassen – die nur am Rande erwähnte, als heterogen charakterisierte »Oberklasse« gehört offenbar nicht dazu – ordnet Reckwitz die zehn SINUS-Milieus zu: das »liberal-intellektuelle«, das »sozialökologische«, das »expeditive« und das »Milieu der Performer« der neuen Mittelklasse; das der »bürgerlichen Mitte«, der »Adaptiv-Pragmatischen« und der »Konservativ-Etablierten« der alten Mittelklasse sowie die »Prekären» i.e.S., Teile der »Traditionellen« und die »Konsum-Hedonisten« der neuen Unterklasse, wodurch er sein Konzept bestätigt sieht und verfeinern zu können hofft: »Mit Hilfe der Milieustudien lässt sich […] das Drei-Klassen-Modell insgesamt differenzieren, und zugleich ermöglichen sie eine Schätzung der quantitativen Klassenstärken. Nun sehen wir (auch im historischen Vergleich), dass sich die spätmoderne Gesellschaft zu einer Drei-Drittel-Gesellschaftentwickelt hat.«[11] Allerdings bleibt hier unklar, warum bei der Binnendifferenzierung dieser Klassenstruktur subjektive Befindlichkeiten und durch Einflüsse von Zufallsbekanntschaften, Freund(inn)en und Nachbar(inne)n geprägte Bewusstseinsinhalte statt objektiver Kriterien maßgeblich sein sollten. Schließlich werden einer soziologischen Willkür damit Tür und Tor geöffnet.
Reckwitz verkennt, dass Milieus und Mentalitäten nicht an eine bestimmte Klassenzugehörigkeit gebunden sind. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil Reckwitz‘ Ansatz die überragende Bedeutung der sozioökonomischen Basis für Kreativität, Intellektualität und Spontaneität negiert, hat das bürgerliche Feuilleton seinen diffusen, kulturalistisch deformierten bzw. verkürzten Klassenbegriff mit Begeisterung aufgenommen. Auf eine sehr viel geringere Resonanz in der (Medien-)Öffentlichkeit stoßen hierzulande marxistische Theorieansätze, selbst wenn sie die Fortentwicklung bzw. Modifikation der Sozialstruktur im Gegenwartskapitalismus umfassender und fundierter reflektieren.
Christoph Butterwegge ist prominenter Armutsforschung, Professor an der Universität Köln und hat zuletzt mit Carolin Butterwegge ein Buch zum Thema Kinderarmut in der Corona-Pandemie veröffentlicht.
Fußnoten:
[1] Siehe zuerst: Christoph Butterwegge, Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik, Opladen 1999, S. 124
[2] Siehe Klaus Dörre, Über Ulrich Beck hinaus. Öffentliche Soziologie und die Suche nach der besseren Gesellschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2015, S. 93; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, a.a.O., S. 282; Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung I, Berlin 2018, S. 81 f.
[3] Vgl. Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat, Hamburg 2005, S. 45 (Fn. 13); Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, a.a.O., S. 126 f.
[4] Siehe Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, 4. Aufl. Berlin 2020, S. 72
[5] Herfried Münkler/Marina Münkler, Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland, Berlin 2019, S. 179
[6] Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, S. 175
[7] Ders., Das Ende der Illusionen, a.a.O., S. 141
[8] Ebd., S. 67 f. (Hervorh. im Original)
[9] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona, Weinheim/Basel 2022, S. 100 ff.
[10] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen, a.a.O., S. 25
[11] Ebd., S. 125 (Hervorh. im Original)
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