Wirtschaft
anders denken.

Kleine, große Wiederaneignung

16.03.2020
cherezoff/123RF

Dass Erneuerung und Ausbau der Infrastruktur nötig sind, ist inzwischen wieder recht breiter Konsens. Die Corona-Krise unterstreicht die Bedeutung einer neuen Fundamentalökonomie. Über linke Wirtschaftspolitik und kommunalen Sozialismus. Ein Text aus dem aktuellen OXI-Schwerpunkt.

Wenn Leute, aus deren Umfeld jahrelang für Privatisierung, Vermarktlichung und Rückbau öffentlicher Dienstleistungen getrommelt wurde, ihre Meinung geändert haben, reagiert man auf der gesellschaftlichen Linken meist skeptisch. Wem will man das schon verdenken. Aber manchmal wird dabei etwas übersehen: Was so eine Verschiebung im herrschenden Denken auch für Chancen eröffnen könnte. 

Milliardeninvestitionen in die Infrastruktur, Ausbau öffentlicher Sorgeleistungen, Korrektur von Budgetrestriktionen zur Finanzierung kommunaler Angebote, Diskussionen über das »Wiederanhängen« ländlicher Räume und die Rekommunalisierung einst verscherbelter Versorger, neue Ansätze in der Nahverkehrs- und Wohnungspolitik – in vielen wichtigen Fragen hat der Wind die Richtung geändert. 

Wann immer die Bewahrer der »alten Ordnung«, von links gern als »neoliberal« bezeichnet, weitere Terrainverluste fürchten und vor »DDR«, »Enteignung« et cetera warnen, sind das eher Töne des defensiven Rückzugs. Die Frage wäre dann, in welche Richtung die Offensive verläuft. Man kann für mehr Investitionen in die Infrastruktur auch deshalb plädieren, weil hier »der Staat« die Verwertungsbedingungen des Kapitals ermöglicht oder verbessert. Es liegt aber auch eine andere Chance darin. 

Eine Utopie, ein Plan, ein Programm

Dieter Klein erinnert in seinem jüngsten Buch daran, dass es von Belang ist, wie und warum über die Möglichkeit eines Endes des Kapitalismus gesprochen wird. Welchen Einfluss das sich darum drehende Denken und Reden »auf die real sich durchsetzenden Szenarien gesellschaftlicher Entwicklung« haben. Es geht also, mit Pierre Bourdieu gesprochen, darum, wie eine neue Politik »eigentlich erst mit der Aufkündigung« eines »charakteristischen unausgesprochenen Vertrags über die Bejahung der bestehenden Ordnung« beginnen kann. Wer die Welt verändern will, muss die Vorstellungen von dieser Welt verändern, muss dem Status quo und seinen Verteidigern »eine paradoxe Voraus-Schau«, eine Utopie, einen Plan, ein Programm entgegenhalten.

Hier müsste es um einerseits konkretere Ideen gehen, als mit der Parole »den Kapitalismus überwinden« gesagt werden kann. Andererseits wäre aus historischer Erfahrung zu lernen, dass starre Zukunftskonzepte und zentralisierte Gestaltungsanmaßungen dazu neigen, in autoritäre Richtung abzukippen. Verschiedene Veröffentlichungen der jüngeren Zeit suchen eine Lösung des Problems – und finden diese in Konzepten von Fundamentalökonomie und kommunalem Sozialismus. Um diese »kleine Wiederaneignung« (Sabine Nuss) soll es im Folgenden skizzenhaft gehen.

»Dieses Buch möchte vorherrschende Vorstellungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verändern«, so lautet der erste Satz in »Die Ökonomie des Alltagslebens – Für eine neue Infrastrukturpolitik«. Das Foundational Economy Collective, eine bunte Gruppe von kritischen WissenschaftlerInnen, hat es sich darin »zur Aufgabe gemacht, Wirtschaft anders zu konzipieren und jene großen Bestandteile des wirtschaftlichen Lebens, die in der offiziellen Wirtschaftspolitik unsichtbar oder nur teilweise erkennbar sind, ins Blickfeld zu rücken«: die Infrastrukturen im weitesten Sinne. 

Ein anderer: Wohlstand für alle

In seinem Vorwort beschreibt Wolfgang Streeck, worum es geht: um den »alltäglichen Kommunismus, der unserem alltäglichen Kapitalismus unterliegt und ihn überhaupt erst ermöglicht. Gemeint sind die großen Netze der physischen und sozialen Infrastruktur, die moderne Gesellschaften zusammenschließen und ihre Mitglieder produktiv machen. Zu den Ersteren zählen die fest installierten Leitungs- und Schienensysteme, die uns mit Wasser, Strom, Heizung und Transportleistungen versorgen; zu den Letzteren kollektiv institutionalisierte Leistungsbeziehungen, die Gesundheit, Bildung, Pflege und soziale Sicherheit liefern.« 

»Kommunistisch« sind diese in einem sehr alten Sinne dieses Wortes, das freilich von der historischen Realität mehr als überschattet wird: »Zum einen schaffen sie Wohlstand durch Anschluss, durch Mitgliedschaft, durch Inklusion – also ›Wohlstand für alle‹«, so Streeck. »Zum anderen erfordern sie, um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten, einen Umgang mit ihren Kunden, oder besser Klienten, nach Maßgabe gesellschaftlicher Solidarität, auf der Grundlage und als Ausdruck der Anerkennung ihrer Bedürfnisse und Rechte als Mitmenschen, also nicht als Mittel zum Zweck einer nach oben offenen Steigerung kapitalistischer Profitabilität.«

Was vom Foundational Economy Collective als »Fundamentalökonomie« bezeichnet wird, hat also nicht bloß eine praktische Funktion, es liefert nicht nur Strom oder ermöglicht Bildung, sichert Gesundheit und bietet Mobilität. Es wohnt dem eine Potenz kollektiver Praxis inne, bei der »die Gesellschaft als Gesellschaft gleicher Bürger« aufgefasst wird, eine, in der neue Formen des Gemeinsamen die einzelwirtschaftliche Produktivität steigern, wobei dies eben nicht im Rendite-Interesse geschieht, sondern »als humaner Selbstzweck«. Basierend auf stark ausgeweiteten Formen des Demokratischen, neue Wege der Aushandlung konkurrierender Interessen gehend, könnte in der »Rückbesinnung auf eine gemeinnützige Fundamentalökonomie« ein »Ausgangspunkt« zur Erneuerung einer demokratischen Linken liegen. 

Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft

Auch die linkssozialdemokratische Zeitschrift »spw« hat sich in einem Schwerpunkt den »Gesellschaftlichen Infrastrukturen« zugewandt und ist der Frage nachgegangen, wie man »von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie« kommen könnte. Es geht auch hier bei dem Thema nicht bloß um eine Renaissance öffentlicher Dienstleistungen, nicht nur um das Verlassen des lange beschrittenen Weges der Kommodifizierung und Privatisierung gesellschaftlicher Voraussetzungen, sondern um, wie es etwa Arno Brandt und Uwe Kremer nennen, einen »Schlüssel für einen modernen Sozialismus«.

Die Autoren knüpfen dabei an einen in einer früheren spw-Ausgabe formulierten Gedanken an: »Die Wiederaufnahme des Themas der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft unter Einschluss der Sozialisierung, des Gemeineigentums und der gesellschaftlichen Verfügungsgewalt sollte in Verbindung mit progressiven Strukturreformen ›mittlerer Reichweite‹ erfolgen. Derartige Reformen dienen nicht der Modifikation im Grundsatz vorhandener Strukturen und Mechanismen, sondern sind auf einen grundlegenden Umbau von Strukturen und Mechanismen in den großen gesellschaftlichen Bedarfsfeldern ausgerichtet. In jedem dieser Felder wäre durchzubuchstabieren, in welcher Weise Vergesellschaftung im Sinne einer alternativen Logik wie auch im Sinne öffentlicher und gesellschaftlicher Verfügungsgewalt und Eigentumsformen wirksam werden könnte.«

Eine solche Agenda könne »drei übergreifende Stoßrichtungen« haben: »namentlich eine öffentliche Infrastrukturökonomie, eine gesellschaftlich beherrschte Fondsökonomie und eine demokratische Mitwirkung«. Es gehe in erster Linie darum, »das übergreifende Verständnis einer öffentlichen Infrastrukturökonomie zu entwickeln, die in allen relevanten gesellschaftlichen Bedarfsfeldern für die wirtschaftliche Um- und Durchsetzung öffentlicher Zielsetzungen und demokratischer Mitwirkung sorgt – von ›klassischen‹ Feldern wie der Wohnungs- und Siedlungswirtschaft oder der Energiewirtschaft über die ›Care Economy‹ bis hin zur Internet- und Datenwirtschaft«. Dieser »Brückenschlag zwischen der aktuellen Infrastrukturkrise und der öffentlichen Infrastruktur als Dreh- und Angelpunkt« könne Basis einer »Strategie progressiver Strukturreformen« werden. 

Strategie progressiver Strukturreformen

Die Politökonomin Sabine Nuss schlägt in ihrem Buch »Keine Enteignung ist auch keine Lösung« eine ähnliche Richtung ein und spricht von »kleiner Wiederaneignung«. Hier geht es nicht um eine schon im Vorhinein begrenzte reformpolitische Perspektive, sondern im Gegenteil um eine zukunftsoffene Idee – für Nuss bleibt dies die »große Wiederaneignung«. Aber »um ein so komplexes System wie den ›Kapitalismus‹ durch ein alternatives sozioökonomisches System zu ersetzen«, müsste es, noch mal Bourdieu: eben »eine paradoxe Voraus-Schau« geben, die über den Stand gedanklicher Vorstellungen hinausgreift und gesellschaftlich praktisch wird. 

Auch wenn das eine »nicht von heute auf morgen zu haben« ist, bliebe die Herausforderung, etwas heute zu tun, mit dem das Morgen ermöglicht, mit dem die Möglichkeiten dazu erweitert werden. Nuss: »Im Rahmen von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, von sozialen Kämpfen, in der Praxis müsste die Verwirklichung einer kooperativen Ökonomie und gesellschaftlichen Eigentums konkrete Formen annehmen. Zentraler Bestandteil eines solchen Prozesses ist dabei die Offenheit für Kritik, Selbstreflexion und ständige Korrekturschleifen.« Die Verlegerin und Eigentumsexpertin hält es »deswegen« für »sinnvoll, zunächst einmal im Rahmen demokratischer Aushandlungsprozesse um Formen einer ›kleinen Wiederaneignung‹ zu ringen, das heißt um Sphären gesellschaftlicher Produktion, die man bereits im Hier und Heute der Marktlogik entziehen kann.«

In »Keine Enteignung ist auch keine Lösung« werden auch in der staatsskeptischen Linken übliche Vorbehalte diskutiert: Wenn für die »kleine Wiederaneignung« im Hier und Heute »der Staat« zum Partner von Veränderungen werden soll, wäre dann nicht auch dessen »Eigenlogik« zu berücksichtigen, »die dem Ziel der ›großen Wiederaneignung‹ zuwiderläuft«? Nuss sieht im »Staat als potenzielle Alternative zur Privatwirtschaft« widersprüchliche Momente, nicht zuletzt jene »unproblematische Eigenlogik« staatlicher Institutionen, die als Resultate des Status quo zu den (eher einschränkenden) Bedingungen von Veränderung gezählt werden müssen: kapitalistisches Ökosystem, bürokratisierte und hierarchische Ordnung, betriebswirtschaftliches Denken, »neoliberale« Mind-sets und so fort.

Halbinseln gegen den Strom

Das ist so richtig, wie Nuss darauf ebenso richtig hinweist, dass wir es hier mit »umkämpftem Terrain« zu tun haben. Eine »bloß funktionale Sichtweise« auf »den Staat« übersieht das »gesellschaftsverändernde Potenzial«, das hier natürlich nicht einfach »wirkt«, sondern entfesselt werden müsste. Wie? Durch Demokratisierung, durch ein Verständnis, dass »kleine Wiederaneignung« als »gesellschaftliche, nicht staatliche Aneignung« begreift. Und durch die stete kritische Einsicht, dass noch jeder Aufbruch, noch jedes Experiment, noch jeder Versuch, »Halbinseln gegen den Strom« (Friederike Habermann) zu ermöglichen, mit einem »Außen« konfrontiert sind, das »nicht ohne Einfluss auf das Innen« bleibt.

Aber was wäre die Alternative? Zurück zu einem letzten Endes unpolitischen Beharren auf Positionen eines radikalen Unmöglickeitsdenkens, dem bei »jedem Schritt wirklicher Bewegung« bloß ein »aber der Kapitalismus, aber der Staat« einfällt? 

Der sozialistische Soziologe Erik Olin Wright, der vor einem Jahr starb und eine große Lücke hinterlässt, hat in seinem letzten Buch daran erinnert, dass nur eine Strategie des kollektiven Lernens und Ausprobierens wirkliche Veränderung ermöglicht. Wo möglich unterstützt vom Staat, wo denkbar in Kooperation mit dem Bestehenden – wenn der Kompass bleibt, dass es darum geht, die Räume des Alternativen zu vergrößern und zwar zulasten der Dominanz kapitalistischer Verkehrsformen. Oder in Wrights Worten: »Die Erosion des Kapitalismus als Strategie beruht auf der Idee, die dynamischsten emanzipatorischen Spezies nicht-kapitalistischer ökonomischer Aktivitäten in das Ökosystem des Kapitalismus einzuführen. Diese würden gedeihen, indem wir ihre Nischen schützen und Wege suchen, ihr Habitat auszudehnen. Letztlich wäre die Hoffnung, dass diese fremden Spezies aus ihrer Nische ausbrechen und das Ökosystem als Ganzes verändern können.«

Auch Wright sieht hier kommunale und infrastrukturelle Bereiche als jene an, in denen zukunftsfähige Experimente angestrebt werden könnten. Auch er pocht ausdrücklich darauf, dass diese »nicht ausschließlich um den Staat zentriert« sein und politische Parteien nicht »die einzigen kollektiven Akteure« sein sollten. 

Worum es geht? Hoffnung möglich zu machen

Ganz ähnlich klingt das beim Foundational Economy Collective: »Wir gehen hier von der Einsicht aus, dass öffentliche Politik zur Erneuerung der Fundamentalökonomie zu wichtig ist, als dass man sie allein den von der Verfassung vorgesehenen Regierungsinstitutionen überlassen könnte, die sich gegenwärtig ohnehin in einer (strukturell und ideell) schwachen Position befinden«, heißt es in ihrem Vorschlag. 

Und doch bleibt es dabei: Wenn es darum geht, »Hoffnung möglich zu machen«, dann sei »das fundamentalökonomische Experiment verlockend«. Anknüpfend an Roberto Mangabeira Unger verweist das Foundational Economy Collective auf die Notwendigkeit und Nützlichkeit politischer Experimente, die »der gesellschaftlichen Innovation dienen und Lösungen für Probleme liefern« könnten, »die weder der Staat noch der Markt bewältigen kann. Diese Lösungen sollen über die herkömmlichen Therapievorschläge progressiver Liberaler und linker Sozialdemokraten hinausgehen.« 

Diese »Experimente in kleinem Maßstab«, bei Nuss »kleine Wiederaneignung« genannt, in der »spw« als Teil »progressiver Strukturreformen« gesehen, sind bei Licht betrachtet gar nicht so »klein«. Es geht hier um »Großes«: Um ein Verständnis öffentlicher Infrastrukturökonomie als Dreh- und Angelpunkt einer gesellschaftsverändernden Perspektive, die »in allen relevanten gesellschaftlichen Bedarfsfeldern für die wirtschaftliche Um- und Durchsetzung öffentlicher Zielsetzungen und demokratischer Mitwirkung sorgt«. Oder, wie der linke Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey es formuliert: Es geht um eine konzeptionelle Herangehensweise, welche »die Perspektiven einer auf Verteilung ausgerichteten Politik zu einer Politik der Infrastrukturen, der vergesellschafteten Ökonomie« verschiebt. »Mit solch einer Strategie könnte die Linke am Alltag der Menschen ansetzen.« Und das in einer Weise, die das nicht nur rhetorisch behauptet.

Dieter Klein: Zukunft oder Ende des Kapitalismus. Eine kritische Diskursanalyse in turbulenten Zeiten VSA Verlag Hamburg 2019, 326 Seiten, 19,80 Euro. 

Foundational Economy Collective: Die Ökonomie des Alltagslebens – Für eine neue Infrastrukturpolitik Suhrkamp  Berlin 2019, 263 Seiten, 18 Euro.

Sabine Nuss: Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Die große Wiederaneignung und das vergiftete Versprechen des Privateigentums Karl Dietz Berlin 2019,  136 Seiten, 12 Euro.

Erik Olin Wright: Linker Antikapitalismus im 21. Jahrhundert. Was es bedeutet demokratischer Sozialist zu sein, 126 Seiten, VSA Verlag Hamburg 2019, 12,80 Euro.

Gesellschaftliche Infrastrukturen – Von der Kapitallogik zur gemeinwohlorientierten Infrastrukturökonomie, Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, Heft 235 (2019).

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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