Wirtschaft
anders denken.

Kleinster gemeinsamer Nenner

24.12.2018
Illustration: Created by Berkah Icon and Rudez Studio from the Noun Project

Warum taucht der »alte Hut« Wirtschaftsdemokratie ausgerechnet heute wieder auf? Über die Aktualität einer Idee, kritische Debatten zu verschiedenen Zeiten – und einen Rat des Herrn Keuner. Ein Beitrag aus dem Schwerpunkt »Wirtschaftsdemokratie« der OXI-Dezemberausgabe.

Unlängst konnte man in einer Wochenzeitung folgenden Dialog lesen: »Warum versucht niemand, eine Wirtschaftsdemokratie ins Spiel zu bringen?«, wurde da gefragt. »Das ist ja nichts wirklich Neues, aber es wäre eine Antwort auf Prekarität, Niedriglohnsektor und psychische Erkrankungen aufgrund der Erwerbsarbeit. In kollektiv geführten Betrieben würde viel vernünftiger gewirtschaftet, es ginge nicht mehr vorrangig um den Profit für wenige.« Worauf die Antwort lautete: »Eine Wirtschaftsdemokratie funktioniert nur ohne das Prinzip der Konkurrenz. Und das liefe auf eine Weltrevolution hinaus.«

Hier steckt fast alles drin, was einem zur Wirtschaftsdemokratie einfallen könnte. Die Hoffnung darauf, einen Weg aus dem kapitalistischen Laufrad gefunden zu haben. Die Skepsis, dabei doch nicht voranzukommen, weil der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse« so nicht überwunden werden könne. Die Erinnerung an eine alte Idee, die in Zeiten der großen Ideenlosigkeit attraktiv erscheint, weil es sonst nicht eben viele Ideen gibt. Die Spannung zwischen einer sich revolutionär deutenden Haltung, die auf ein vorgestelltes Morgen, ein befreites Danach gerichtet ist, und der Erkenntnis, dass man im Heute nicht tatenlos bleiben kann und die Zukunft das ist, was jetzt unter vorfindbaren Bedingungen »gemacht« werden müsste. 

Warum bewegt die Wirtschaftsdemokratie immer noch die Linken? Und warum bewegt sie nicht viel mehr Leute im progressiven Lager?

Möglichkeiten wirksamer Veränderung zu entdecken

Ein Sprung ins Jahr 2001. In den Debatten der gesellschaftlichen Linken ging es damals unter anderem um die »Suche nach Alternativen zu vorherrschenden Strategien der Anpassung an neoliberale Modernisierungskonzepte«. Das war »nach innen« gerichtet. Bezugspunkte waren die rot-grüne Regierungsagenda und »die peinlich wirkenden Versuche des DGB, die soziale Marktwirtschaft verteidigen zu müssen«.

»Warum taucht der ›alte Hut‹ Wirtschaftsdemokratie ausgerechnet heute wieder auf?«, fragte damals Wolfgang Hecker in einem Sammelband, der den »Flexiblen Kapitalismus« ausleuchtete, um dabei Möglichkeiten wirksamer Veränderung zu entdecken. 

Der Marburger Politikwissenschaftler verwies auf zwei Ursachen für die Wiederentdeckung: die programmatischen Abgesänge der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie sowie die Nachwirkungen der Implosion des autoritären Staatssozialismus. Man könne es nicht für verwunderlich halten, »dass ›Wirtschaftsdemokratie‹ für all jene als kleinster gemeinsamer Nenner erscheint, die nach Alternativen zum neoliberalen Credo«, zu Deregulierung, Flexibilisierung, Demokratieabbau und Ökonomisierung der Politik suchen – und für jene, die aus dem Konzept die Hoffnung »schöpfen, dass sich doch noch irgendwie der Weg zum Sozialismus öffnen ließe«.

Hecker blieb skeptisch und doch am Ball. Einerseits kann man nicht verbergen, dass »die chamäleonhaften Wandlungen« der Bedeutung von Wirtschaftsdemokratie, »mal als verbalradikale Übergangskonzeption zum Sozialismus, mal als Element der sozialen Demokratie«, einen einfachen »Anschluss« an die Tradition kaum als sinnvoll erscheinen lassen. 

Chance zur politischen Neudefinition

Erstens, weil es nicht »die Tradition« gibt, sondern eine Vielzahl. Zweitens, weil historische Voraussetzungen wie starke Bastionen der Gemeinwirtschaft und des öffentlichen Sektors erfolgreich unter Feuer genommen wurden. Drittens, weil die institutionalisierte Mitbestimmung in Betrieben heute mit anderen Bedingungen zu ringen hat, Stichwort globaler Strukturwandel, transnationale Unternehmensmacht. Viertens muss man sich nur den Stand von Steuerungsideen, Industriepolitik oder gar Planungsutopien in der veröffentlichten Meinung anschauen – es gab Zeiten, da konnte man an weit mehr Zustimmung dafür anknüpfen.

Und doch übt die Idee der Wirtschaftsdemokratie weiter einen Reiz aus. Dieser besteht nicht zuletzt darin, dass das Konzept »inhaltlich interpretationsoffen ist, was die Chance zur politischen Neudefinition zulässt«. 

An dieser haben sich über die Jahre immer wieder progressive Ökonomen und gesellschaftliche Linke versucht. Klaus Dörre etwa, der die Gewerkschaften aufforderte, nicht nur das Machbare, sondern auch das Unwahrscheinliche zu denken – und sich so aus der programmatischen Selbstfesselung zu befreien. Joachim Bischoff etwa, der Mitte der 1990er Jahre Thesen zur Wirtschaftsdemokratie formulierte, die auf »eine grundlegende Reform der kapitalistischen Wirtschaft« pochten, wobei der Begriff »Reform« hier noch eine wirkliche Umwälzungsperspektive beinhaltet: Veränderung der Machtverhältnisse und Eigentumsstrukturen. 

Hecker selbst machte sich für eine Neuinterpretation der Wirtschaftsdemokratie stark, weil er darin »ein beachtliches Tableau strategischer Fixpunkte« sah, an denen sich progressive Gesellschafts- und Ordnungsvorstellungen ganz aktuell diskutieren ließen. Noch bevor Colin Crouch mit dem Schlagwort der »Postdemokratie« eine populäre Kritik des Zustands westlicher Demokratien formulierte, galt zumindest in kleinerem Kreis ein wirtschaftsdemokratischer Neuansatz als Chance, das vorherrschende Primat der Ökonomie nicht nur zu beklagen, sondern auch Hebel zu finden, mit denen sich die Verhältnisse verändern lassen.

Wirtschaftsdemokratie als Transformationsstrategie

Ein Sprung ins Jahr 1928. Im Auftrag des Gewerkschaftsverbandes ADGB brachte Fritz Naphtali damals ein Werk heraus, das Diskussionen bündelte, weiter vorantrieb, konzeptionell konkretisierte: »Wirtschaftsdemokratie – Ihr Wesen, Weg und Ziel«. Zuvor hatten sich Gewerkschaftskongresse mit dem Thema befasst, das Heidelberger Programm der SPD hatte die »Ausgestaltung des wirtschaftlichen Rätesystems zur Durchführung eines Mitbestimmungsrechts der Arbeiterklasse an der Organisation der Wirtschaft« und die »Förderung der nicht auf Erzielung eines Profits gerichteten Genossenschaften und gemeinnützigen Unternehmungen« gefordert. Naphtalis Buch, dem eine hochkarätig besetzte Kommission vorausging, der unter anderem Fritz Baade, Rudolf Hilferding, Erik Nölting und Hugo Sinzheimer angehörten, begründete, wie durch eine Kombination von Verstaatlichung und Demokratisierung dem Kapital Schritt für Schritt die Verfügungsgewalt über die Produktion zu entziehen sei. Wirtschaftsdemokratie als Transformationsstrategie.

Der Historiker Ralf Hoffrogge hat später an den zeithistorischen Kontext erinnert. »Die Revolutionsfurcht war den Sozialdemokraten geblieben«, allerdings waren die sich links sehenden Strömungen der Arbeiterbewegung stärker geworden. »Das Projekt war ein historischer Versuch, die Fehler und Versäumnisse von 1918 zu überwinden und den Sozialismus durch parlamentarische und gesellschaftliche Reformen umzusetzen.« Zog man den Rahmen weiter auf, war die Idee der Wirtschaftsdemokratie auch eine Variante, die Leerstelle einer an Karl Marx orientierten Gesellschaftskritik zu füllen – der Alte aus Trier hatte auf konkrete Modelle künftiger Formationen verzichtet. 

Der berühmte Satz von der »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« ließ sich aber mit Blick auf eine Demokratisierung der Wirtschaft weiterspinnen. In einer immer komplexer werdenden kapitalistischen Welt schien die »Sackgasse zahlreicher Kommunen- und Genossenschaftsexperimente« immer offenkundiger; die damals entstehenden Konsumgenossenschaften »ermöglichten den Arbeitenden Rabatte durch Großeinkäufe und eine politische Bündelung ihrer Macht als Konsumenten – aber es blieb unklar, ob und wie diese Macht politisch eingesetzt werden sollte«, so Hoffrogge. 

Naphtalis Buch suchte diese Frage zu beantworten und ging dabei über die Strömungen in SPD und Gewerkschaften hinaus, die schon damals die Einforderung von mehr Mitbestimmung für ausreichend hielten. Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie bog von einem nur sozialpartnerschaftlichen Weg ab. Doch ohne Kritik von weiter links blieb auch Naphtali nicht. 

Eine ganze Reihe von Widersprüchen

Auch das hat mit zeitgenössischen Debatten zu tun. Als »demokratischer Weg zum Sozialismus« war das Konzept der Wirtschaftsdemokratie vielen Kritikern des »Reformismus« ein Dorn im Auge. Hier wurden Teilschritte und Übergangsforderungen zusammengefasst wie die nach dem Ausbau von Mitbestimmungselementen auf allen Ebenen, die Stärkung öffentlichen Eigentums, Verstaatlichungen, Ausbau von Konsumgenossenschaften und Eigenbetrieben der Arbeiterbewegung sowie Ausbau von Arbeitsrechten, sozialstaatliche Garantien und eine Demokratisierung des Bildungswesens. Von »Revolution« hatten viele sich revolutionär Deutende aber eine ganz andere Vorstellung.

Für den Historiker Hoffrogge barg die von Naphtali beschriebene Wirtschaftsdemokratie zudem »eine ganze Reihe von Widersprüchen in sich«. Für Betriebskämpfe und Räte sei kein Platz gewesen, es habe »große Angst vor ›Betriebsegoismus‹ und Verselbstständigung der Basis« geherrscht. Die bürokratischen Mittelebenen dominierten.« Darin sei auch die »sehr repräsentative, funktionärslastige Vorstellung von Demokratie« der SPD zum Ausdruck gekommen. 

Mehr noch habe die Debatte damals »jede Kritik an den Funktionsformen des Kapitalismus« vernachlässigt: »Es fand sich wenig Kritik an der Lohnform, der Konsumentenrolle, der verselbstständigten Geldwirtschaft, der Unmöglichkeit eines unendlichen Wirtschaftswachstums.« Auch gern von links betont wurde, dass die Idee, den Staat als neutrale Instanz zu begreifen, ein Irrtum sei. August Thalheimer veröffentlichte 1928 eine Art Gegenschrift zu Napthalis Buch – in der die Wirtschaftsdemokratie als »sogenannte« bezeichnet wird.

Natürlich gründete »der Optimismus des Konzeptes« damals auch auf der Erfahrung sozialer Reformen und Verstaatlichungen, mithin der Annahme, dass die Ausweitung wirtschaftsdemokratischer Praxis innerhalb des Kapitalismus möglich sei. 1929 folgte die große Wirtschaftskrise und es war erst einmal eine Weile nicht mehr so viel von der Idee die Rede.

Gegen theorielosen Pragmatismus und Praktizismus

Ein Sprung ins Jahr 1977. Fritz Vilmar, einer der engagiertesten Streiter für Wirtschaftsdemokratie in der Bundesrepublik, hatte sich für eine Konferenz über Eduard Bernstein dessen Beitrag zu einer Theorie der Wirtschaftsdemokratie vorgenommen. Vilmar spann den Faden von der »Industrial Democracy« der britischen Fabier um Sidney und Beatrice Webb zu Bernstein, dem verkannten Vordenker, und von dort zu »Feststellungen einer kritischen Reflexion der sozialistischen Theorie: Erstens, dass es eine operationale, handlungsleitende Theorie der ökonomischen Transformation nicht gibt, und zweitens, dass es eine integrale Theorie der sozialistischen Arbeits- und Wirtschaftsordnung bisher, von Ansätzen abgesehen, nicht gibt.« 

Das könnte man heute immer noch so sagen. Vilmars Kritik richtete sich dabei nicht nur gegen einen »sterilen Marxismus« der bloßen Theorie, sondern mehr noch gegen den »überhaupt theorielosen sozialdemokratischen Pragmatismus und Praktizismus«. Seiner Meinung nach führte das Fehlen eines solchen Programms zu fatalen Versäumnissen der Arbeiterbewegung – etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, »als man wiederum, bis in die CDU hinein, eine breite antikapitalistische Veränderungsbereitschaft im Volk hatte, aber nicht fähig war, die Massenbasis im Interesse eines klaren wirtschaftsdemokratischen Konzepts zu gebrauchen«. 

Über die Zurückweisung von »linksdogmatischen« Vorstellungen, nach denen es sich bei der Wirtschaftsdemokratie um eine »rechtssozialdemokratische Ersatzbefriedigung der Arbeiter« handele, wird man diskutieren können – Vilmar hat in späteren Texten selbst immer kritisch darauf hingewiesen, dass unter der Fahne der Wirtschaftsdemokratie vielfach bloße Reduktion auf mitbestimmungspolitische Aspekte verfolgt wurde. 

Kann man das aber der Idee selbst vorwerfen? Zur Diskussion heute mag anregen, was Vilmar über die Aporien wirtschaftsdemokratischer Konzepte schrieb: »Insbesondere gibt es natürlich immanente Widersprüche zwischen den Teilstrategien Planung – ökonomische Machtkontrolle – Mitbestimmung«, etwa was das Verhältnis zwischen gewerkschaftlicher Verhandlungsautonomie und zentraler Rahmenplanung angeht. Hinzu kommen heute noch viele weitere Punkte, die eine neue Debatte zu berücksichtigen hat.

Eine Liste all der Fragen

Es gibt diese Debatten. Unter dem Stichwort »neue Wirtschaftsdemokratie« etwa hat Helmut Martens auf die Schwächen von Naphtalis Konzept hingewiesen, die »Unterschätzung der Krisenanfälligkeit des ›organisierten Kapitalismus‹, demokratietheoretische Leerstellen, Überschätzung von Planungsvorstellungen und Geringschätzung der Beschäftigten«. 

Nimmt man die Kritik an der Wachstumsideologie ernst, werden auch ökologische und Aspekte der Nachhaltigkeit und der Reproduktion von Gesellschaftlichkeit heute eine viel größere Rolle spielen müssen. Angesichts der transnationalen Realität der Produktionsweise gilt das auch für die »Räumlichkeit« der Wirtschaftsdemokratie – als bloß nationale ist sie kaum noch denkbar. Alex Demirovic´ hat vor einiger Zeit zudem auf die Frage der »doppelten Souveränität« aufmerksam gemacht, die in der Wirtschaftsdemokratie steckt: »Welches demokratische Gremium, das der Wirtschaft oder das der Politik, wäre dem anderen übergeordnet?« Und die Liste ist hier noch längst nicht am Ende. 

»Warum versucht niemand, eine Wirtschaftsdemokratie ins Spiel zu bringen?«, so hieß es in dem eingangs zitierten Dialog. Die möglichen Antworten liegen jenseits des Hinweises auf die Notwendigkeit einer »Weltrevolution«. Und es wäre noch keine Lösung gefunden, würde man nun die Idee der Wirtschaftsdemokratie als allein seligmachendes Konzept ausrufen. 

Vielleicht hilft aber Fritz Vilmars Erinnerung an Herrn Keuner, den Bertolt Brecht sinngemäß sagen lässt: Es wäre gut im Interesse linker Ideen und des praktischen Veränderungswillens, einmal eine Liste all der Fragen aufzustellen, die wir nicht beantworten können. 

Illustration: Created by Berkah Icon and Rudez Studio from the Noun Project

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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