Wirtschaft
anders denken.

Kleinstes Bundesland, große Erwartungen: über Rot-Rot-Grün in Bremen

02.07.2019
ScreenshotBei der Vorstellung des Koalitionsvertrages

Bremen bekommt die erste rot-rot-grüne Koalition im Westen – voraussichtlich. Wie sind die Reaktionen vor den noch anstehenden Entscheidungen in den Parteien? Und was gibt der Koalitionsvertrag her? Ein paar Anmerkungen.

Rot-Rot-Grün startet mit Schlagzeilen, die von dem politischen Bündnisprojekt eher ablenken: Der Rückzug des bisherigen Bürgermeister und Senatspräsidenten Carsten Sieling brachte noch einmal das schlechte Abschneiden der SPD bei den Wahlen in den Vordergrund, in der Berichterstattung steht die Personalie vor allem anderen. Das liegt unter anderem daran, dass sich nun alle Welt fragt, wer Sieling nachfolgt – wohl Andreas Bovenschulte. Außerdem bot die Personalie denen einen Punkt zur Mäkelei, die sich ohnehin eher über eine Jamaika-Koalition gefreut hätten und die rot-rot-grünen Verhandlungen schon von Anfang an als machtpolitische Verirrung eines Verlierers betrachteten. Von bloßem »Machterhalt« der SPD ist die Rede, mal wird stärker skandalisiert, dass die Grünen dabei helfen (soll heißen: ihr verspielt die Option Schwarz-Grün), mal wird eher über den Beitrag der Linkspartei für die sozialdemokratische Fortsetzung geklagt. Dabei malen die einen eher von rechts auf die Sache blickend das Drohbild einer grün-rot-roten Zukunft im Bund an die Wand, die anderen mögen sich als linke Kritiker der Koalition betrachten und beklagen die Rolle der Linkspartei als »Arzt am Krankenbett der SPD«. Beide eint: die Ablehnung von Mitte-Linksregierungen.

Die Häfen und die Wirtschaft

Dass bei der Bremer Vereinbarung über das rot-rot-grüne Bündnis ein zusätzlicher Senatsposten herauskam, um die verschiedenen Interessen auch personell in einem Kompromiss zu versöhnen, bot ebenfalls Angriffsfläche. Die »Frankfurter Allgemeine« setzt hier stellvertretend den Ton: »Das klamme Bremen löst die personellen Ansprüchlichkeiten der Parteien also, indem es sich einen Senatorenposten mehr gönnt als bisher und das alte Ressort Gesundheit und Wissenschaft aufspaltet.« Auch bei Radio Bremen spielt dieser Punkt in der Analyse eine Rolle: »Aus Proporzgründen gleich ein neues Senatsressort aus dem Boden zu stampfen, ist kein gutes Signal. Bremen ist das kleinste Bundesland, außerdem in einer Haushaltsnotlage.« Bisher obwaltete in Bremen ein Senator für Wirtschaft, Arbeit und Häfen. Rot-Rot-Grün hat sich nun auf eine Arbeitsteilung verständigt, bei der die Linkspartei das Ressort Wirtschaft, Arbeit und Europa übernimmt und die SPD das Ressort Wissenschaft, Häfen und Justiz. Noch einmal Radio Bremen: »Das neue Ressort kommt so gar nicht inhaltlich begründet daher. Häfen, Wissenschaft und Justiz, das wirkt nun wirklich komplett zusammengewürfelt. Was ist das für ein Zeichen, die Häfen aus dem Wirtschaftsressort herauszulösen? Es ist ein reines Zugeständnis an die SPD.«

Das mag so sein, lenkt aber von inhaltlichen Fragen ab: Was bedeutet es, dass die Linkspartei in ihrer ersten echten rot-rot-grünen Koalition im Westen das Wirtschaftsressort bekommt? Welche Rolle spielen die Häfen für die Ökonomie Bremens und was heißt es, wenn die SPD hier die politische Kontrolle beansprucht auch für die wirtschaftspolitische Beinfreiheit der Linkspartei in dem anderen Ressort? So oder so stellt die Übernahme des Wirtschaftsressorts durch die Linkspartei einen großen Schritt dar – und das nicht nur aus den Gründen, die die »Frankfurter Allgemeine« kolportiert: Die Strategie der Linkspartei »bei der Ressortvergabe war, dass die Partei keinesfalls Ressorts wie Finanzen oder Bildung bekommt, die zwar einflussreich sind, aber wegen der schlechten Finanzlage laufend schlechte Nachrichten produzieren«. Für progressive Politik ist es insgesamt von erheblichem Nachteil, dass sich der Satz »Linke können nicht Wirtschaft« festgegraben hat. Das hat einerseits mit der Hegemonie von Vorstellungen über »die Wirtschaft« zu tun, die Politik vor allem als Dienstleister für verbesserte Wettbewerbsbedingungen ansieht, statt als demokratische Möglichkeit, im gesellschaftlichen Interesse hier wenn es sein muss radikal einzugreifen. Man wird andererseits aber auch konstatieren müssen, dass auch der Linken eine wirtschaftspolitische Lernkurve noch bevorsteht. Dass Kristina Vogt und Christoph Spehr im Oktober 2018 ein ausführliches Papier für »eine integrierte und solidarische Innovations- und Wirtschaftspolitik des Landes« vorgelegt haben, war schon ein Vorgriff darauf.

Bremen hat hier also künftig eine besondere Rolle, zumal das Bundesland genau die großen Fragen in sich trägt, die von links beantwortet werden müssten: Wie lassen sich grüne und rote Ziele verbinden, wie lässt sich Strukturwandel politisch im gesellschaftlichen Interesse steuern, wie bekommt man demokratische Teilhabe, materielle Voraussetzungen für Freiheit und eine Idee von Stadtgesellschaft unter einen Hut? Und so fort. Interessant in diesem Zusammenhang ist vielleicht schon diese Kleinigkeit: »Bei der Pressekonferenz, auf der die Koalitionäre ihre Ergebnisse vorstellten, war kaum von der bremischen Wirtschaft die Rede«, heißt es bei Radio Bremen. Und weiter: »Viel ging es um ›Mindestlohn‹, ›Tarifbindung‹ und ›Ausbildungsfonds‹ – wenig um attraktive Rahmbedingungen.« Das war kritisch gemeint – und hier scheint noch das alte Bild von »die Wirtschaft« auf. Wenn die neue Landesregierung in spe zu den vorrangigen »Rahmenbedingungen« nun aber vorrangig jene zählt, die das Leben derer bestimmen, ohne die »die Wirtschaft« gar nichts wäre, ist das schon ein Schritt in die richtige Richtung. Besser jedenfalls als die Formulierung im Koalitionsvertrag, laut der »Unsere Unternehmen mit ihren starken industriellen Kernen… ebenso wie die Start‐Up‐ und Gründerszene eine starke und unverzichtbare Kraft in unseren Städten« seien. »Sie schaffen Mehrwert, der zum gesellschaftlichen Wohlstand beiträgt.« Nein, den Mehrwert schaffen nun wirklich nicht »die Unternehmen«, sondern jene, die dort lohnarbeiten. Aber Regierungsvereinbarungen sind ja auch keine Kapital-Lektürekurse.

Widersprüchliche Interessen, hohe Erwartungen

Die »Tageszeitung« bringt die Frage der Wirtschaft mit einer anderen zusammen – der nicht zuletzt symbolpolitisch wichtigen Vereinbarung, »wir werden unsere Innenstadt bis 2030 autofrei gestalten«. Letzteres, so die Zeitung, »beschäftigt gerade die vielen Auto-PendlerInnen im regionalen Oberzentrum und rundherum. Und es ist ein markantes Signal für alle, die wissen, dass Daimler der größte Arbeitgeber des Landes ist und Bremerhavens Häfen von der Verschiffung deutscher Autos in alle Welt abhängig sind«. Oder, wie es bei Radio Bremen mit anderer Akzentsetzung heißt: »Ohne Hafen, Logistik, Raumfahrt, Automobilbau und viele andere Branchen ginge in Bremen aber nichts mehr«, dies müsse »auch eine Links-Koalition anerkennen: Vor dem (Um-)verteilen und Geldausgeben kommt erst einmal das Geldverdienen«. Die Schwierigkeiten landespolitischer Gestaltung und die zum Teil widersprüchlichen Interessenkonstellationen sieht man hier ganz gut: Das Auto bedroht den Klimaschutz, ist zugleich Garant für Beschäftigung in einem Sektor, der vor einem radikalen Umbruch steht, und für die Entwicklung von tragfähigen Alternativen braucht man Zeit, das gilt etwa für Kursänderungen in der Nahverkehrspolitik.

Hier war nicht zuletzt die Linkspartei mit weitergehenden Forderungen in den Wahlkampf gezogen, eine Neuregelung des ÖPNV bleibt zwar Anliegen, aber erst einmal in der Form eines Prüfauftrages: »Die rechtlichen, finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen für die Einführung eines kostenfreien ÖPNV wollen wir klären. Dazu werden wir eine Machbarkeitsstudie beauftragen sowie Erfahrungen aus anderen deutschen und europäischen  Städten auswerten. Auf dieser Basis werden die Modelle des kostenfreien ÖPNV, des ticketlosen ÖPNV und des 365‐Euro‐Tickets ergebnisoffen geprüft«. Das ist einerseits nicht spektakulär, die »Tageszeitung« sieht es andererseits so: »Für die Haltbarkeit und Zusammenarbeit des künftigen Senats ist dieses Ball-Flachhalten eher ein Hoffnungszeichen: Nicht wenige ProvinzpolitikerInnen spielen bei solchen Gelegenheiten für die Galerie und präsentieren eine sensationelle Lösung, die sobald der Beifall abgeklungen ist, im Alltag versagt. Erst zu prüfen, welche der beiden Varianten die bessere ist, und sie dann umsetzen, ist ein vernünftiger Weg der politischen Gestaltung.«

Schuldenbremse und linkes Mitregieren

Mitte-Linksregierungen werden freilich nicht nur daran gemessen, ob sie vernünftige Wege beschreiten – das hat etwas mit dem guten utopischen Überschuss zu tun, der auch realpolitische Praxis immer an weitergehenden Horizonten misst, das hat aber auch etwas mit der schlechten Angewohnheit zu tun, linksreformerischer Politik immer und zuerst zu unterstellen, sie bringe ja doch rein nichts außer Ablenkung und Anpassung. Aus dem in dieser Tradition stehenden Flügel Linkspartei hört man, bei Rot-Rot-Grün sei das »gepflegte ›Weiter so‹ unter dem Diktat von Schuldenbremse und den politischen Vorgaben aus Berlin und Brüssel« zu erwarten. Vor allem die Abschaffung der Schuldenbremse gehört zum Inventar von Linkspartei-Forderungen, und das sehr zu recht. Allerdings sind die entsprechenden Regelungen nicht mal eben bei Koalitionsverhandlungen in einem Bundesland aus der Welt zu schaffen, man bräuchte schon eine verfassungsändernde Mehrheit im Bund. Soll man sich bis dahin auch landespolitisch auf Opposition beschränken?

Dass die Linkspartei in Bremen diese Frage nicht mit Ja beantwortet, sieht mancher als Treibstoff für seine Skepsis »was Gestaltungsmacht und -willen der Linkspartei betrifft«. Aber würde man denn mehr Gestaltungswillen erkennen, wenn unter Hinweis auf (schlechte) bundespolitische oder europapolitische Regelungen darauf verzichtet wird, (bessere) linke Politik in den verbleibenden Spielräumen zu machen zu versuchen? Andererseits bleibt richtig: Angesichts der Haushaltsnotlage des Landes und der wahrscheinlich aus konjunkturellen Gründen schlechter werdenden Einnahmesituation wachsen die Bäume nicht gerade in den Himmel: »Die neuen finanziellen Spielräume, die Bremen ab 2020 zur Verfügung hat (rund 480 Millionen Euro), werden da jedenfalls nicht ausreichen«, so Radio Bremen mit Blick auf den Katalog der Koalitionäre. »Die Koalitionäre sind sich darüber allerdings auch voll im Klaren und gehen offensiv damit um. Die Vokabel ›Priorisierung‹ fällt da immer wieder und ›erstmal anfangen‹. Spannung versprechen die ersten Haushaltsberatungen dieser neuen Koalition. Dann werden Träume platzen.«

Ökologisch, sozial, gemeinsam

So geht es nicht nur Mitte-Linksregierungen, die Frage ist, ob diese anders damit umgehen können. Die Liste der zu bevorzugenden Vorhaben kann eine Variante dieses anderen Umgangs sein: Schulneubau, energetische Sanierung, bezahlbarer Wohnraum, Beschleunigung der Verkehrswende, sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, Begleitung des Strukturwandels in den Wirtschaftssektoren. Was in der Passage des Koalitionsvertrages zur Haushaltspolitik als »prioritäre« Politikfelder aufgelistet ist, entspricht dem, was Rot-Rot-Grün als Botschaft ihres Bündnisses wahrscheinlich auch gern stärker in den Medien am ersten Tag nach der Vereinbarung gesehen hätten.

Man kann dieses Selbstverständnis konzentriert in der Präambel nachlesen: »alles Nötige zu tun, um die ökologische Krise zu bewältigen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, soziale Ungleichheit zu bekämpfen sowie Rahmenbedingungen für die gute ökonomische Entwicklung des Landes sowie einer nachhaltigen Haushaltspolitik zu schaffen. Dafür werden wir ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame politische Praxis entwickeln. Unser Kompass ist die Wahrung und der Schutz der Menschen‐ und Bürgerrechte.« Dass eine Landesregierung erklärt, ihre Politik vor allem unter der Maßgabe zu entwickeln, das Klimaschutzabkommen von Paris und die dort formulierten Ziele zu erreichen, und dies an zweiter Stelle mit einem sozialpolitischen Anspruch verbindet, ist bisher nicht so oft vorgekommen. Wie die Ziele erreicht werden, was an zivilgesellschaftlicher Mobilisierung dabei die Regierung per Druck vorantreiben könnte, wie sich widersprüchliche Interessen so bearbeiten lassen, dass am Ende trotzdem etwas Progressives herauskommt – all das sind Fragen, zu denen Antworten erst die Praxis zeigen wird. Blauäugig wird niemand die bundesweit vierte Landesregierung mit Linkspartei-Beteiligung beobachten. Dass manche bereits wissen, wie es ausgeht, gehört zur politischen Debatte dazu.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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