Wirtschaft
anders denken.

Hirse gegen Milch tauschen

28.01.2021
Bild von Couleur auf Pixabay

In der Sahelzone sind traditionell diverse Gemeinschaften zu Hause. Verschärfte Konkurrenz um Ressourcen führt zu verschärften Konflikten. Aus OXI 01/2021.

Von Ethnien wird am ehesten gesprochen, wenn es um Verhältnisse außerhalb von Europa geht, um nicht-weiße Menschen. Der Begriff weckt Assoziationen von Vormoderne, von archaischem Selbstverständnis; Hass scheint da jederzeit auflodern zu können, weshalb sich ein Konflikt, der ethnisch genannt wird, quasi von selbst erklärt. Er hat eine Plausibilität, die weiteren Wissens kaum bedarf.

Jede Vorstellung von Ethnizität bleibt tückisch, denn sie droht, eine besonders starke kulturelle Identität in Richtung Natur und Biologie abgleiten zu lassen, warnte der Soziologe Stuart Hall. Tatsächlich sind die vielfältigen und vielsprachigen Gesellschaften des globalen Südens im Umgang mit Differenz oft versierter und gelassener als jene des Nordens, die lange einem Ideal von Homogenität anhingen. Dies gilt auch für die Sahel-Staaten, wo in jüngster Zeit die Konkurrenz um Ressourcen dennoch ganze Gemeinschaften gegeneinander in Stellung bringt.

Die Klimakrise ist hier täglich spürbar. Dürren mehren sich, Regenfälle werden unkalkulierbar; es schrumpft der Boden, den Kleinbauern und -bäuerinnen ohne künstliche Bewässerung kultivieren können, während zugleich die Bevölkerung wächst.

Streit um Land, um Weide und Feld, um Wasser und Futter wird nun häufiger gewalttätig ausgetragen. Manchmal geraten benachbarte Bauern in ihrer Verzweiflung um ein Stück Feld tödlich aneinander. Am weitesten verbreitet ist indes eine Kollision zweier Ökonomien und Lebensweisen: Hier Ackerbau, auf kleinen, zersplitterten Flächen; dort Pastoralismus, eine Wanderweidewirtschaft, bei der die Viehherden auf der Suche nach Nahrung große Distanzen zurücklegen, über Landesgrenzen hinweg.

Früher zogen die Hirten auf den immer gleichen Routen durch den Sahel, und keinem Bauer wäre die Idee gekommen, auf solch einer bekannten Viehroute ein Feld anzulegen. Heute aber suchen die Hirten neue Strecken, weil Wasserlöcher versiegen, und die Bauern werden durch das Wachstum ihrer Dörfer gedrängt, ihre Äcker in Weideland hinein auszudehnen und in das Umfeld von Tränken.

Wenn sich Hirten und Bauern dann noch verschiedenen Ethnien zugehörig fühlen, die sie selbst womöglich nicht mit diesem Wort bezeichnen, aber aufgrund von Sprache, Gebräuchen und geschichtlichen Erzählungen als eine Gemeinschaft mit klaren Konturen empfinden, dann können sich Fronten verhärten, Konflikte fatal generalisieren.

So ist es in Zentralmali, in der Region Mopti, wo sich der Niger zum Binnendelta öffnet: Ein Landstrich reich an Zeugnissen von Weltkulturerbe – und heute die Zone mit den meisten Gewalttaten im Sahel. Täter wie Opfer finden sich gleichermaßen in den beiden großen Volksgruppen der Gegend: Die Peulh (auch Fulbe und Fulani genannt) sind Hirten und Viehzüchter, die Dogon in der Regel Bauern. Im nationalen Maßstab – Mali ist mit 30 Ethnien hochdivers – stellt keine der beiden Gruppen mehr als neun Prozent der Bevölkerung.

Lange galten die Ökonomien von Peulh und Dogon als komplementär; lokale Allianzen verbanden früher oft eine Bauern- und eine Hirtenfamilie: Sie tauschten Hirse gegen Milch. In einer malischen Redensart heißt es: »Jeder Dogon hat seinen Peulh, jeder Peulh seinen Dogon.«

Nun finden sich auf beiden Seiten bewaffnete Milizen; es kam zu Massakern mit Hunderten Toten, Tausende sind auf der Flucht. In Dörfern, wo beide Volksgruppen miteinander zu verkehren pflegten, beginnt eine Entflechtung, sobald Geflüchtete eintreffen, die von Gräueltaten anderswo berichten. »Eine Dynamik von Angst und Rache zwingt jeden, sich zugunsten des eigenen Lagers zu positionieren«, heißt es in einem Bericht der International Crisis Group vom November 2020.

Die malische Öffentlichkeit hat auf die Bilder niedergebrannter Dörfer bestürzt und hilflos reagiert; interethnische Gewalt passt nicht ins Selbstbild. »Wir haben unsere Vergangenheit idealisiert, nach dem Motto: Wir sind eine große Zivilisation, wir haben keinen Rassismus, keine Probleme zwischen den Ethnien«, sagt Ousmane Sidibé, Präsident einer Wahrheitskommission, die Opfer befragt. »Das war nicht ganz falsch, doch die Verhältnisse ändern sich, Misstrauen und Kommunitarismus nehmen zu.«

Was ist Ursache, was ist Wirkung? Welche Faktoren entscheiden darüber, ob die Konkurrenz um Ressourcen in Gewalt umschlägt? Es hilft, einen genaueren Blick auf die beteiligten Communities zu werfen, auf ihre soziale Verfasstheit und inneren Zerklüftungen.

Die Dogon zogen sich vor Jahrhunderten in eine unzugängliche Felslandschaft zurück, um ihre an kosmogonischen Mythen orientierte Kultur vor der Islamisierung zu schützen. Das machte sie in der Kolonialzeit für Ethnologen interessant; der Franzose Marcel Griaule ließ hier sein berühmtes Buch »Schwarze Genesis« entstehen. Bereits er stahl seinen Gastgebern sakrale Objekte; aus den Dörfern wurde später fast alle Schnitzkunst abgeschleppt, die Meisterwerke der Dogon-Statuen stehen heute im Pariser Musée du quai Branly. Mittlerweile sind die meisten Dogon zumindest nominell Muslime. Für Touristen wurde gern ein verbliebener Animismus herausgestellt, während arabische Staaten neben den Dörfern Missionsmoscheen bauten, um einen sogenannten reinen Islam zu verbreiten.

Das Unvermögen, eine Kultur zu bewahren, um die herum einst eine besondere Identität entstand, illustrieren nun die Dogon-Milizen. Sie rekrutieren sich aus der Kaste der Jäger, kein Beruf, eher ein Amt: In lehmgefärbter Kutte, mit betagten Flinten gelten sie als Hüter animistischen, spirituellen Wissens; Initiierte, unverwundbar durch ihre Fetische. Nun haben Jäger Checkpoints eingerichtet, tragen zum Fetisch eine Kalaschnikow, und wer kein Dogon ist, weicht ihnen aus.

Auf der anderen Seite die Peulh: ein halb-nomadisches Volk von geschätzt 30 Millionen Menschen, verteilt auf ein Dutzend Länder zwischen Mauretanien und Kamerun. Seit Menschengedenken sind sie im Sahel die Viehzüchter und Viehhalter, ihre Lebensweise und ihre kulturellen Werte haben sich um diesen Kern herum entwickelt. In der kargen Landschaft wirken die dünnen Gestalten der Hirten mit ihrem charakteristischen kegelförmigen Hut aus Ziegenleder und Stroh fast asiatisch; mit einer langen Stange und tänzerischen Bewegungen dirigieren sie ihre Herden.

Allerdings gehören ihnen die Tiere meistens nicht. Die Peulh teilen sich in zwei Klassen: mittellose Hirten, wohlhabende Vieh- und Landbesitzer, eine Aristokratie, von der sich die Hirten seit Langem ausgebeutet fühlen. An dieser Stelle betreten malische Dschihadisten die Bühne: Seit etwa fünf Jahren intervenieren sie in den schwelenden sozialen Konflikt, sie gaben den Hirten Waffen, um die Aristokratie zu entmachten und sich auch von korrupten Staatsbeamten zu befreien.

Aus dieser inner-ethnischen Revolte wurde erst später ein zwischen-ethnischer Konflikt, ein Kampf Peulh gegen Dogon. Weil die leichte Verfügbarkeit von Schusswaffen den Streit um Ressourcen militarisierte. Und weil die Allianz einer Minderheit der Peulh mit dem Dschihadismus zur Stigmatisierung der ganzen Volksgruppe führte. Scharfmacher auf Seiten der Dogon schürten das Feindbild, jeder Peulh sei ein potenzieller Terrorist – so ließ sich alles, was die eigenen Milizen taten, als Selbstverteidigung deklarieren. Die malischen Streitkräfte verhafteten Hirten willkürlich und kooperierten mit Dogon-Milizen, ungeachtet deren eigener Verbrechen.

An diesem Punkt weist das Krisengeschehen erstmals ein klassisch rassistisches Element auf: Die Stigmatisierung der Peulh zog Kreise im ganzen Sahel. Im Senegal wurden sie 2017 verdächtigt, außer dem Terror auch das Ebola-Virus zu verbreiten; in Nigeria, Guinea und Burkina Faso haben sich bis heute die Ressentiments so vermehrt, dass Peulh-Aktivisten vor einem Genozid warnten und Frauengruppen mit Sit-ins protestierten.

Auch für manche westlichen Experten sind die Peulh die Haupttriebkraft religiöser Radikalisierung – bestätigen sie mit ihren Verwandtschaftsverhältnissen über Landesgrenzen hinweg nicht bestens das Credo, Anti-Terror-Politik verlange schärfere Grenzkontrolle?

Die komplizierte Gemengelage in Zentralmali illustriert: Es gibt auf die Frage nach der Ursache für Gewalt keine einfache Antwort, vielmehr wirken eine Reihe Faktoren zusammen. Dazu gehört auch der längere Vorlauf, den Konflikte um Ressourcen haben können. Aus lange zurückliegenden Disputen um die Nutzung von Boden, erklärt der malische Soziologe Cheibane Coulibaly, seien sich widersprechende lokale Rechtsauffassungen entstanden, die noch nach Generationen einen Streit neu entfachen können.

Dafür dauerhafte Lösungen zu finden, hätte nach dem Ende der Kolonialzeit einer sensiblen Hand des Staates bedurft. Die neue Elite nach der Unabhängigkeit von 1960 war sozialistisch orientiert, sie machte keine ethnisch konturierte Politik, besaß aber auch keine positive Vision für die Vielfalt des Landes, fürchtete sie eher. Zu den strukturellen Schwächen des Staates, die in den vergangenen 60 Jahren nicht korrigiert wurden, gehöre seine »Unfähigkeit, auf die ethnische, religiöse, territoriale und philosophische Diversität der Malier zu antworten«, schreibt Moussa Mara, ein Reformpolitiker.

Dabei war bereits dem Mali-Reich des Mittelalters bewusst, wie wichtig das Management von Konflikten ist. Aus dieser Zeit stammt die Einrichtung der sogenannten Scherzverwandtschaft; Einheimische nennen sie »Senankunya«, auf französisch cousinage à plaisanterie. Es handelt sich um einen Bund zwischen jeweils zwei Communities; ein Netz von Paarverbindungen durchzieht auf diese Weise die Gesellschaft. Unter den Partnern einer Cousinage ist nicht nur Streit verpönt, sondern die eine Seite darf sich auch in die internen Streitigkeiten der anderen Seite als Mediator einmischen. Das wird heute noch praktiziert.

Als zwischen zwei Dogon-Dörfern die Konkurrenz um Ackerland tödlich eskalierte, holten die Bürgermeister von außerhalb eine Gruppe von Fischern der Bozo-Ethnie zu Hilfe. Sie verbindet mit den Dogon eine starke Cousinage-Beziehung. Die Fischer kamen als Schiedsrichter und erklärten, das umstrittene Land werde für eine bestimmte Zeit ihnen gehören. Alle Beteiligten wussten, was das bedeutet: Natürlich würden die Fischer nicht die Felder bestellen, sondern sie hielten die Hand darüber. Der Konflikt war dadurch nicht gelöst, aber die Spirale der Eskalation unterbrochen, und beide Parteien begannen zu verhandeln.

Wo indes mit Milizen gekämpft wird, haben die traditionellen Mittel alle Wirksamkeit eingebüßt. Die Moderne hat die alten Methoden geschwächt und zu wenig neue geschaffen. Sie zu entwickeln ist langwierig, aber nicht unmöglich.

In einer abgelegenen Gegend gaben sich zehn Dörfer ein Ortsrecht, das dem Schutz der natürlichen Ressourcen dient und ein Procedere für Konflikte zwischen Hirten und Bauern vorsieht. Dem Ortsrecht unterliegt, wer in der Gemeinde wohnt, wer seine Tiere auf ihrem Gebiet grasen lässt oder wer von auswärts kommt, um Brennholz zu schlagen – chronisches Streitthema in einem Land, wo nahezu alle mit Holzkohle kochen.

Wenn Rinder Hirsefelder ruinierten, wurden die Übeltäter in einem Kral, einem Tiergefängnis, festgehalten, bis der Besitzer der Herde anreiste, um die betroffene Bauernfamilie finanziell zu entschädigen. Mit Hilfe deutscher Entwicklungshilfe waren zuvor über viele Kilometer Länge Routen und Weidekorridore für die Viehherden kartiert und ausgeschildert worden, ein Modellprojekt.

Übrigens vertrauten die Dörfer die Überwachung der Regeln den Jägern an: weil sie die Natur am besten kannten, und weil sie im Ruf standen, moralisch unanfechtbar zu sein. Es waren eben jene Jäger, die sich andernorts, bei den Dogon, in Milizionäre verwandelt haben, bereit zum Morden.

Wie sich in einer patriarchalen Kultur traditionelle Autoritäten verhalten, das kann Gewalt mäßigen oder ihren Ausbruch beschleunigen. Im Milieu, das hier geschildert wurde, ist Täterschaft nahezu immer männlich – und folgt Vorbildern von Männlichkeit. Dem weiblichen Teil der Communities mehr Agency zu geben, könnte Wege weisen, die Ressourcenkrisen anders zu bewältigen.

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