Kommende Zeiten: Über Planungspolitik und die Gegenwart des Morgen
»Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt«, so ist es vom Science-Fiction Autor William Gibson überliefert. Was aber heißt das für Linke? Über falsche Versprechen, Hoffnungsrhetorik und gegenwärtige Zukünfte.
Niemand erinnert sich an den Koalitionsvertrag der vergangenen Regierung. Sein Titel war: »Deutschlands Zukunft gestalten«. Er präsentierte sich als Wimmelbild einer »guten Zukunft« – zukunftsweisend und zukunftsorientiert sollte dieses Deutschland sein, zukunftsfest und zukunftsfähig allemal und angefüllt mit Zukunftschancen-, aufgaben, -strategien, -projekten, und -investitionen. Dazu passend wurde im Bundeskanzleramt eine millionenschwere politische Arbeitslinie etabliert.
Zwischen 2008 und 2016 schwappten immer mal wieder neue Zukunftswellen übers Land. Es begann mit einer Zukunftswerkstatt, wuchs sich aus in ein paar Hundert Dialoge und Tagungen mit »Kernexperten« und Bertelsmann und Essaywettbewerben und Internetdebatten und diversen Auftritten der Kanzlerin in Sachen gutes Leben.
»Deutschlands Zukunft« im Format einer Wellness-Talkshow
Doch dann, niemand bemerkte es so richtig, endete der ganze Zukunftsschwung vor ein paar Monaten. »Deutschlands Zukunft« verlief sich in ein Buch und ein Indikatorensystem zur Wohlfahrtsmessung. Das war’s. Es reichte eben noch zu Angela Merkels Erklärung am Ende der TV-Vorwahlsession mit Martin Schulz, dass man »jetzt die Weichen für eine gute Zukunft stellen« müsse. Wozu also das ganze Geplätscher? Warum ist im Wahljahr ein solcher mit den Hoffnungen der Menschen spielender expliziter Zukunftstalk fast komplett verschwunden?
»Deutschlands Zukunft« wird hier im Format einer Wellness-Talkshow inszeniert: ständige Versprechen und Hoffnungsrhetorik sollen politisches Wohlgefühl verbreiten, das die eigene Zukunftsarmut und die der jeweiligen Zielgruppe überdeckt. Offenbar jedoch greift ein merkeliges Zukunftsrauschen dann nicht mehr so recht durch, wenn Ignoranz, Langeweile und Hassrhetorik sich ausbreiten oder sogar katastrophale Veränderungen das Zukunftsthema ganz anders auf die Tagesordnung setzen würden.
Doch: »Die Zukunft ist schon da, sie ist nur noch nicht gleichmäßig verteilt«. Das soll der Science-Fiction Autor William Gibson, der einst den Begriff Cyberspace erfunden hatte, vor gut einem Vierteljahrhundert gesagt haben. Über die aktuelle (oder zukünftige) Verteilung der Zukunft schwieg er sich damals allerdings aus. Wo also ist sie denn geblieben?
Klassische Praxen zukunftsbezogenen Handelns
Zumindest in ihrer uralten Schrumpfform der Vorhersage finden wir Zukunft etwa in Oberhausen, zunehmend verbreitet ist sie aber auch in den Schweizer Kantonen Zürich, Aargau und Baselland, ebenso in München, Nürnberg, Karlsruhe und Stuttgart oder Berlin. In Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Hessen wurde sie weiterentwickelt und in Baden-Württemberg hat sie es in Form einer weiterführenden Projektstudie sogar bis Ende April 2019 geschafft. Die Abkürzung der 100.000 Franken teuren Software zur Kriminalitätsvorhersage »Precobs« (pre crime observation system) des Oberhausener Instituts für musterbasierte Prognosetechnik soll natürlich an den Film Minority Report erinnern, in dem drei Kriminalitätsorakel (»precogs«) Morde vorhersehen.
Der Algorithmus dieser Vorhersagesoftware identifiziert zwar noch nicht wie andere Programme Personen oder Personengruppen (»Gefährder«), sondern errechnet bloß die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Kfz-Delikte, Raubüberfälle oder Tageswohnungseinbrüche. Auf Wunsch pusht sie die Ergebnisse über Zeit, Ort und daraus folgender Tatwahrscheinlichkeit auf das Smartphone möglicherweise Betroffener, um auch ihnen vorsorgende, vorbeugende (Prävention) oder gar aktiv verhütende (Präemption) und verhindernde Reaktionen zu ermöglichen – allesamt klassische Praxen zukunftsbezogenen Handelns.
Auch das Projekt der »Global Database of Events, Language, and Tone« (GDELT) beansprucht diese Fähigkeit zur Vorhersage der Zukunft. Es hat mittlerweile gut eine Viertelmiliarde Aufzeichnungen in Googles Plattform Big Query abgelegt, und als im Januar 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo der arabische Frühling eingeläutet wurde, ist über GDELT und Big Query die Aufruhrintensität gemessen und mit anderen Aufruhrverläufen verglichen worden. Der GDELT-Initiator berichtete freudig: »Die Vorhersage der Zukunft in Ägypten … durch die Betrachtung der Geschichte in den letzten drei Jahrzehnten benötigte 2,5 Millionen Vergleiche (und) brauchte nur zweieinhalb Minuten« (Foreign Policy) um das Ende des Aufruhrs binnen zweier Wochen zu bestimmen. Was dann nämlich auch eintraf!
»Es ist zu früh um zu verstehen.«
Schon im letzten Jahr erinnerte der spanische Schriftsteller Enrique Vila-Matas in der »Lettre International« daran, wie am Tag seiner Geburt im August 1948 in den Musiksendern von Maryland eine seltsame Platte zu hören war, mit einem Sound, der sich in Windeseile in der Ostküste verbreitete und zunehmend allgemeine Verwunderung auslöste. Dergleichen hatte man noch nie gehört. Es war völlig unerwartet. »It’s too soon to know«, lautete der Titel dieser ersten Single von The Orioles, fünf schwarzen Musikern aus Baltimore. »Es ist zu früh um zu verstehen.« Es gab keinen Namen für den Sound und keinen Text dazu. Lange hieß es, dies sei der erste Rock ‘n’ Roll-Song gewesen, der plötzlich da war. Noch war es zu früh, um zu verstehen, aber wer hörte, »landete schlagartig in der Zukunft« (Vila-Matas).
Sechs Jahrzehnte nach dieser Zukunft gibt es Musikanalysefirmen wie HitPredictor oder Next Big Sound in New York, das mittlerweile bei Pandora, Spotify, Facebook, Youtube, Soundcloud, Twitter, im Radio oder in Streaming-Diensten bei Amazon rund 700 Milliarden Daten zu einer halben Million Musiker gesammelt hat. Im Musikmagazin »Billboard« publiziert die Firma jede Woche die »Next Big Thing«-Charts der Leute, denen die Algorithmen ihrer Musikanalysesoftware die größten Chancen verspricht. Sie behauptet, in 85 Prozent aller Fälle die Verkaufszahlen von Musikern mit einer Fehlerquote von weniger als 20 Prozent voraussagen zu können: »Presound« sozusagen, Musik statt Mord.
Gamechangers, Singularitäten, Sozialisten
Alle diese Zukünfte wurden und werden in den jeweiligen Gegenwarten benannt, gefasst und gedeutet und so als »gegenwärtige Zukunft« (Niklas Luhmann) vergegenwärtigt, also präsent gemacht. Ein weites Feld oder, wie 2015 im Angesicht der Kämpfe auf den Finanzmärkten von Anastasia Nesvetailova bemerkt wurde: »eine Zukunft, die überbevölkert ist«.
Bevölkert ist der Zukunftsraum zum Beispiel von Hoffnungsträgern, Venturekapitalisten, Spekulanten, Avantgardisten, Treibern, Survivalisten, Gamechangers, Singularitäten, Sozialisten, Utopisten oder freien Radikalen aller Art und nicht zuletzt – allen anderen.
Getrieben werden sie von Antizipationen und Imaginationen, Explorationen, Erwartungen, Präferenzen, Hoffnungen, Horizonten, Träumen, Risikolisten, Visionen, Wünschen, Spekulationen, Fiktionen, von Dystopien, Post-Apokalpsen, dem Anderen, den Nicht-Orten, den Nimmerländern, von Utopien.
Ihre Begriffswelt steckt voller Vorhersagen, Wahrscheinlichkeiten, Plausibilitätsabwägungen, Möglichkeiten, Risikoanalysen, Megatrends, Szenarien, Horizonten, Simulationen, Projektionen, Präventivschlägen, Versicherungsschäden, Suchanfragen, Texten, Aufrufen, Programmen, Verfahren, Eingeweiden, Wahrsagen, Fantasien, Als-Ob oder Was-Wäre-Wenn-Kalkülen, Forecasting und Backcasting.
Hier und Jetzt, Dann und Dort
Auf ihren Wegen von hier nach dort sind sie umgeben von Verfahren der Früherkennung, schwachen Signalen, Einstiegsprojekten und Prototypen, Road-Maps, Pfadverzweigungen, Zyklen, Übergängen, Reformen, Brüchen, Disruptionen oder Revolutionen.
Das Ganze ist begleitet vom Bestreben, die Differenz zwischen den dereinst dann wirklichen »künftigen Gegenwarten« und den »gegenwärtigen Zukünften« möglichst gering zu halten, denn jede »gegenwärtige Zukunft« wird zwischen einem Hier und Jetzt und einem Dann und Dort aufgehoben.
Gegenwärtige Zukünfte sind präsent aber zugleich abwesend weil sie nicht geschehen sind, noch nicht da waren und sich womöglich nie ereignen. Es ist diese Präsenz im Gegenwärtigen von etwas, was nicht geschehen ist oder womöglich niemals geschehen wird, die solche gegenwärtigen Zukünfte überhaupt erst zum Gegenstand von Entscheidungen, Handlungen oder Handlungsunterlassungen macht. Sozial konstruierte Future facts werden sie oft genannt, um Futuring und Future governing geht es und darum, wer welchen Zeitabdruck in den künftigen Gegenwarten hinterlässt.
Zukunft-Machen und die künftige Gegenwart der Nachfolgenden
Gegenwartszukünfte zu benennen und zu deuten, sie so zu vergegenwärtigen und damit letztlich zu machen, bedeutet allerdings auch, sie anderen zu nehmen: »…we make and take futures« (Wir machen und nehmen Zukünfte), formulierte 2007 die britische Zukunftsforscherin Barbara Adam – zum Beispiel die Zukünfte der extrem Armen, Obdachlosen, Undokumentierten, elendiglich Geflüchteten, die institutionell unsichtbar sind und die es beispielsweise in der Wachstumsstrategie »Europa 2020« der Europäischen Kommission erst gar nicht gibt.
Jedes Zukunft-Machen präfiguriert, gestaltet und schließt künftige Gegenwarten der Nachfolgenden aus. Armut, Not und Austerität pressen die Zeit zusammen auf das nötigste: das Überleben in den Nöten der Gegenwart. Sie lässt keine Zeit für Zukunft. Austerität ist ein ununterbrochener Angriff auf die Zukunft der Armen. Die Verkoppelung von Zeitnot und Zukunftsarmut garantiert vielleicht am effektivsten, dass keine anderen, linken Zeiten kommen. Wer jetzt und zuvor Ohnmacht erfährt, sieht oft auch Zukunft als Schicksal. Wer dagegen Macht hat, setzt auf Gestaltung.
Ambition auf Landnahmen des Zukunftskontinents
Wenn das sedative Zukunftsrauschen ausbleibt, findet also keineswegs zukunftsbezogene oder -relevante Politik nicht mehr statt. Im Gegenteil. Seitdem vor Jahrhunderten die auf Profit gehende Operation mit und auf kommende Zeiten – also Zukunft – in das Zentrum der neuen Ökonomie rückte und die vorkapitalistischen Vergangenheitsgesellschaften in Kapital akkumulierende Zukunftsgesellschaften transformiert wurden, gibt es auch strategische Projekte mit der Ambition auf große Landnahmen des Zukunftskontinents.
Seitdem sind solche Zukunftsformate immer und überall. Da sind heute die Wetten auf die Zukunft des dominanten Geldmachtkomplexes der Finanzindustrie, die Sicherheits- und Expansionsversprechen der Zukunftsapparaturen des Präventiv-, Gewalt- und Militärstaates, die ökologischen Nachhaltigkeits- und ökonomischen Profitkalküle aus der Liaison von Geoengineering und postfossilistischem »grünem Kapitalismus« oder endlich der Aufbau eines komplexen Arrangements aus Industrie 4.0, Big Data, digitaler Gesellschaft, smarten Räumen und digitaler Dominanz.
Alle hängen zusammen und verdichten sich zu einem Bündel globalstrategischer Projekte des Umbaus der informationell-industriellen Gestalt des gegenwärtigen Kapitalismus. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Rück- und Umbau des riesigen Bestands an ökonomisch-technisch und räumlich fixiertem Kapital, wie dies die aktuelle Beispiele des Atomausstiegs und des Übergangs zur E-Mobilität zeigen.
Keine Frage der zeitlichen Ferne
Diese neue Dynamik ist keineswegs gewalt- noch krisenarm, gerade weil sie bei aller Ungleichzeitigkeit mittlerweile eine außerordentlich transformative, planetare Wucht entwickelt hat. Plötzlich bekommen Planung, Regulierung und enge Festlegungen neues Gewicht, die als klassisches Format der Entwicklung und Verdichtung von Konzeptionen, Mitteleinsätzen und Handlungsketten die neuen »gegenwärtigen Zukünfte« auf die entstehenden realen »künftigen Gegenwarten« zurichten und anpassen sollen.
Das seit jeher existierende breite, aber oftmals ignorierte private und öffentliche Geflecht institutioneller Erzeugung von Planbarkeit und Planung zur Gewährleistung von Sicherheit und Zukunftskontrolle wächst deutlich, ist aber immer tiefer aufgespalten in schrumpfende öffentliche Planung in Infrastruktur-, Umwelt- und anderen Querschnittsbereichen und expandierende unternehmensinterne Planungen der dominanten Kapitalkreisläufe.
Sogar die lange Zögerlichkeit der Linken gegenüber alternativer Zukunfts- und tabuisierter Planungspolitik scheint allmählich zu Ende zu gehen. Ihr sollte es aber nicht nur um die ungleiche Verteilung der Zukünfte gehen sondern vor allem auch um den trockenen Ratschlag der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft Swiss Re aus dem Jahr 2004: »Zukunft ist keine Frage der zeitlichen Ferne. Zukunft ist das, was sich gravierend vom Gegenwärtigen unterscheiden wird.«
Dieser Text erschien in der Oktober-Printausgabe von Oxi. Rainer Rilling ist Senior Research Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Professor für Soziologie in Marburg.
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