Wirtschaft
anders denken.

Konkurrenz im nationalen Container

Warum der neue Nationalismus sich sowohl gegen Einwanderer als auch gegen die kosmopolitischen »Eliten« richtet – und wieso nicht die Linke, sondern die Rechte das Ende der neoliberalen Epoche einläutet. Ein Interview mit dem Wirtschaftssoziologen Klaus Kraemer.

08.12.2016
Foto: kpw-photo
Klaus Kraemer ist Professor für angewandte Soziologie an der Universität Graz. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der gebürtige Westfale mit seinen Forschungen zu den Grundlagen moderner Geldordnungen bekannt; unter anderem zu den sozialen Prozessen, die sich an Börsen abspielen.

America first, Deutschland den Deutschen: Das sind die Parolen der Rechtspopulisten. Warum verfangen sie so?

Klaus Kraemer: Zunächst: Ich spreche lieber vom neuen Nationalismus. Rechtspopulismus ist nur ein Kampfbegriff, der dazu dient, Abweichungen von den Erwartungen der politischen Mitte negativ zu sanktionieren.

Gut, reden wir vom Nationalismus. Was soll daran neu sein?

Der alte Nationalismus sagte: »Wir« sind anders als die anderen. Die Unterscheidung wurde kulturell oder ethnisch begründet. Der völkische Nationalismus hat diese Grenzziehung ja sehr zugespitzt.

Fremdheit, Religion, Kultur: Das sind aber doch auch die Schlüsselbegriffe des gegenwärtigen Diskurses!

In den neuen Nationalismus gehen natürlich auch kulturelle Ängste gegenüber den »Anderen«, den Fremden ein. Und natürlich gibt es diese rechten romantischen Nischen, wo man glaubt, eine kulturell oder ethnisch homogene Gesellschaft wäre durchsetzbar. Aber bei denen, die für den neuen Nationalismus empfänglich sind, überwiegt etwas anderes. Nämlich die Sorge, dass neue, zusätzliche Konkurrenten um das Gleiche hinzukommen. Seine Breitenwirkung holt der neue Nationalismus sich aus sozialen Problemen im Hintergrund.

Was ist »Konkurrenz um das Gleiche«?

Eine Konkurrenz um Einkommenschancen. Man fürchtet Druck auf die Löhne. Hinzu kommt eine Konkurrenz um Leistungen des nationalen Wohlfahrtsstaates.

Sind Flüchtlinge für irgendjemanden eine Konkurrenz? Etwa auf dem Arbeitsmarkt?

Wahrscheinlich ist der Konkurrenzdruck in Wirklichkeit nicht so groß wie gefühlt. Aber entscheidend ist nicht, was statistisch nachgewiesen werden kann. Wenn die Leute glauben, dass sich ihre wirtschaftliche Situation, etwa auf dem Wohnungsmarkt, verschlechtert, dann ist das ein objektiver sozialer Tatbestand.

Wahlanalytiker sagen: Die stärkste Zustimmung bekommen die Rechten gar nicht in der untersten Etage der Gesellschaft.

Wobei die unterste Etage kaum noch wählen geht: In abgehängten Wohnquartieren liegt die Beteiligung inzwischen unter 30 Prozent. Aber nicht nur bei wenig gebildeten Arbeiterinnen und Arbeitern, auch in der Mitte findet der neue Nationalismus Resonanz – bei Stammbelegschaften etwa, die noch ein gutes, stabiles Einkommen haben, manchmal ein regelrechtes Wohlstandspolster.

Und warum wählt man dort rechts?

Weil man dort sehr genau wahrnimmt, wie sich an den Rändern die Bedingungen verändern: Man sieht Leiharbeiter, Zeitarbeiter… Deutschland hat ja von allen OECD-Staaten inzwischen den größten Niedriglohnsektor. Und man fürchtet und erlebt, dass die erreichte soziale Position von den eigenen Kindern und Enkelkindern nicht gehalten werden kann.

Die Antwort darauf würde lauten: Die müssen dann eben studieren.

Ja, aber der Bildungsaufstieg mündet nicht mehr in einen sozialen Aufstieg. Wenn du fleißig studierst, hast du es später mal besser: Dieses alte Integrationsversprechen gilt nicht mehr. Wenn die Märkte anders husten, sind auf einmal ganze Bildungsgänge entwertet.

Ist das denn wirklich etwas Neues?

Hartz IV war ein mentaler Bruch. Die soziale Rutschbahn nach unten hat sich beschleunigt. Hinzu kommt, dass Geld heute immer mehr eine ganz essenzielle kulturelle Bedeutung hat. Geld ist für uns alle heute ein Mittel, auch affektive, emotionale Bedürfnisse zu befriedigen. Die einen fahren in die Toskana, die anderen gehen auf die Kirmes und haben Spaß…

…und beides geht nur mit Geld.

Genau.

Nun richtet sich der Verdruss derer, die rechte Parteien wählen, offenbar zu gleichen Teilen gegen Zuwanderer und gegen die sogenannten Eliten, das Establishment, die Hautevolée. Warum?

Wer die Konkurrenz durch Zuwanderer fürchtet, fühlt sich von den Eliten allein gelassen, und zwar nicht nur von den ökonomischen, auch von den politischen und von den Kultureliten – die ihre Lebensführung verachten, ignorieren, zuweilen verhöhnen.

War das nicht immer so?

Nein, das glaube ich nicht. Man spürt: Der Kampf um die Ressourcen verschärft sich. Man spürt: Politische Parteien repräsentieren unsere Position nicht mehr. Die kulturellen Eliten haben diametral andere Leitbilder. Und, ganz wichtig: Man fühlt sich missachtet von den Medien. Klassisches Beispiel: Da werden in der Öffentlichkeit positive Wirtschaftsdaten präsentiert, Zahlen über Exporterfolge der deutschen Wirtschaft – und man selbst spürt gar nichts von diesem angeblich Positiven.

Die Antwort der Eliten auf diese Kritik wäre: Wir leben unter den Bedingungen der Globalisierung, wir haben nicht mehr die Spielräume wie früher. Und je besser wir, die Eliten, uns auf den Weltmärkten schlagen, desto besser für alle.

Klar sind die Spielräume enger – wobei es in der Wirtschaft allerdings viele Segmente gibt, in denen der internationale Druck kaum spürbar ist. Im Friseurhandwerk konkurriert niemand mit China. Aber die Transnationalisierung – von Märkten, Unternehmen, Organisationen – verändert ganz offensichtlich unsere Handlungspotenziale, die Chips, die wir vor uns auf dem Tisch liegen haben.

Welche Chips?

Das sind unsere Potenziale, unsere Ressourcen. Manche davon sind nur national von Bedeutung, andere international. Nun werden die transnationalen Potenziale aufgewertet und die nur nationalen werden abgewertet. Ein gutes Beispiel sind Bildungsgänge. Ärztefamilien etwa scheren, wenn sie ihren Status an die nächste Generation vererben wollen, aus dem nationalen Container aus. Wenn die Kinder nicht den Numerus clausus erreichen, schickt man sie eben an die Semmelweis-Universität nach Budapest.

Also: Die Eliten entfleuchen in höhere, internationale Sphären. Die Normalos bleiben zurück im nationalen Käfig?

Genau. Ich spreche vom nationalen Container. Die Bewohner des nationalen Containers schauen sich um nach rechts und links und sehen, dass die Eliten sich aus dem Staub machen.

Die Eliten machen sich davon, alle anderen bleiben zurück im nationalen Container. Damit man von einer Nation sprechen kann, heißt es, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Die eine lautet, die Minderheit unterwirft sich der Mehrheit. Und die zweite: Die Gewinner entschädigen die Verlierer. Die zweite wird nicht mehr erfüllt. Liegt hierin der Kern des neuen Nationalismus?

Das Fundament für nationalstaatliche Gesellschaften ist die gefühlte oder erwartete Solidarität unter Staatsbürgergenossen. Und diese Solidarität wird von den unterschiedlichen Eliten aufgekündigt. Sie denken nur noch an sich. Die wirtschaftlichen Eliten sortieren alle aus, die nicht mit »den Märkten« mithalten können. Die politischen Eliten reden von einem Europa ohne Grenzen und haben dabei die gewöhnlichen Containerbewohner aus den Augen verloren. Und die Kultureliten erhöhen sich selbst. Sie geben den Ton an, mit ihren neuen Werten: »Toleranz«, »Diversität« und »interkulturelle Kompetenz«. Das sind nicht nur schöne Werte einer transnationalen Welt, sondern auch Signale, um sich von den gewöhnlichen Leuten zu unterscheiden. Die Kultureliten moralisieren nach unten – und entwürdigen damit die Bewohner des nationalen Containers. Unerheblich ist hierbei, ob das gewollt oder ungewollt ist.

Gut, dass die Arbeitgeber die Solidarität aufkündigen und gern aufkündigen wollen, liegt seit jeher auf der Hand. Aber wieso wollen es auch die Kultureliten, die Gebildeten also?

Die profitieren von der Internationalisierung der Kommunikation. Mehrsprachigkeit macht heutzutage den sozialen Unterschied aus, nicht mehr nationales Kulturkennertun. Sich kulturell von anderen zu unterscheiden und sich damit symbolisch von den gewöhnlichen Leuten abgrenzen: Darum geht es. Das zeigt man gerne mit der zweiten Fremdsprache und einer »weltoffenen« Haltung. Man gefällt sich darin, neugierig gegenüber fremden Menschen und Kulturen zu sein. Zugleich achtet man sorgsam darauf, Distanz zur Alltagskultur der Containerbewohner zu halten. Eine Begegnung mit diesen Leuten, das wäre so, als ob man sich mit dem Unreinen gemein macht.

Oder wenigstens: Es ist wichtiger, gut auf Facebook vernetzt zu sein, als es zum Vorsitzenden des örtlichen Schützenvereins gebracht zu haben?

Ja. Alles, was auf eine Region, einen Ort bezogen ist, auch alles Homogene, alles Nicht-Vielfältige: Das wird unter den neuen, transnationalen Bedingungen abgewertet. Es kommt zum Beispiel auch nicht mehr darauf an, dass man das nationale Bildungsgut beherrscht. Sondern dass man virtuos und souverän mit kultureller Differenz umgehen kann.

Nun findet die Internationalisierung ja tatsächlich statt. Ist es da nicht ganz logisch, dass die sogenannten Eliten sich darauf einstellen?

Unzweifelhaft: Märkte werden grenzenloser, zumindest in Europa, Unternehmen und Unternehmensstrategien ebenfalls. Auch bestimmte Segmente des Arbeitsmarkts sind europäisiert. Jeder weiß, dass die Finanzmärkte längst international sind. Es gibt Industriesektoren, die in der internationalen Konkurrenz stehen. Aber es gibt nach wie vor auch abgeschottete Bereiche. Zwar gibt es keine transnationale Gesellschaft, aber politische Organisationen und Institutionen sind ohne Zweifel internationaler geworden. Gestaltungskompetenzen sind in einem Maße nach Brüssel übertragen worden, wie wir uns das vor einer Generation noch nicht haben vorstellen können.

Na eben! Heißt das nicht: Der neue Nationalismus ist rückwärtsgewandt? Aussichtslos?

Für die Wahrnehmung der BürgerInnen und für die Bildung des politischen Bewusstseins sind diese sukzessiven Veränderungen hin zur Transnationalisierung gar nicht so deutlich. Auf die kommt es im Alltag gar nicht so sehr an. Viel entscheidender als das, was wirklich stattfindet, ist das, was darüber erzählt wird. Der »talk« gibt den Ausschlag, nicht die »action«.

Das heißt: Es wird mehr international geredet als gehandelt?

Richtig. Die Eliten erzählen: Transnationale Strukturen sind erfolgreicher, effizienter, auch gerechter als die alten nationalen. Ein Schlüsselwort ist die »globale Konkurrenz um die Besten«.

Und die findet nicht wirklich statt?

Viel geredet wird etwa von einem globalen Wissenschaftler-Arbeitsmarkt, dem »Wettbewerb um die besten Köpfe«. Bei genauen Hinschauen kann von wirklicher internationaler Konkurrenz aber keine Rede sein. Ganz Südeuropa ist für Wissenschaftler wegen der Gehälter und der Arbeitsbedingungen völlig inakzeptabel, Osteuropa sowieso. Sogar in England sind die sozialen Standards viel niedriger als in Deutschland, Österreich oder gar der Schweiz.

Vielleicht stellt man sich ja mit dieser transnationalen Erzählung – und damit, dass man richtig gut Englisch lernt – dann aber sinnvollerweise schon mal auf eine künftige Entwicklung ein? Auch wenn die de facto noch gar nicht so rasant stattfindet?

Vorerst jedenfalls gibt es eine Diskrepanz zwischen transnationaler Erzählung und nationaler Wirklichkeit. Und damit entwickelt sich gegen die Erzählung der Eliten eine Gegenerzählung von unten. Diese Gegenerzählung macht den Kern des neuen Nationalismus aus.

Also: Alles wegen was sich und mit was sich die Oberschicht von der Unterschicht absetzt, das wird jetzt wiederum von der Unterschicht abgewertet.

Sogar abgelehnt!

Die oben drücken sich korrekt aus, sprechen gut Englisch…

…und beherrschen den interkulturellen Dialog. Sie sind nicht irritiert, wenn sie mit Erwartungen von Fremden konfrontiert sind. Sie sind kulturelle Allesfresser geworden und müssen sich nicht mehr im nationalen Container bedienen.

Warum muss es die da unten stören, wenn die da oben sich auf die große Welt hin orientieren?

Die Eliten erzählen ja nicht nur von den globalen Märkten und dem interkulturellen Austausch. Sondern sie verschieben ganz handfest Gewinne und Vermögen in Steueroasen. Damit schwächen sie den nationalen Steuerstaat und seine Möglichkeiten, etwas für die zurückgebliebenen Containerbewohner zu tun. Aber die Elitenerzählung ist auch eine Erzählung von oben herab, wird als moralische Besserwisserei wahrgenommen. Sonst könnte man diesen Unmut, diese Revolte gar nicht verstehen. Es geht auch um Respektabilität, um die Anerkennung von Lebensleistung, Lebensstilen, Lebensformen.

Also geht es um eben die Toleranz, die in der Erzählung der Eliten doch so wichtig geworden ist?

Das schönste Beispiel ist, wie über den »Hartzer« geredet wird: Der ist fettleibig, stopft Pommes mit Mayo in sich hinein, der schaut sich die falschen Fernsehprogramme an, hört Helene Fischer und verprasst die 150 Euro, die er übrig hat, auf der Kirmes.

Hat der neue Nationalismus ein Ziel? Zum Beispiel, die entfleuchten Eliten wieder in den nationalen Container zurückzuholen?

Der neue Nationalismus ist kein geschlossenes Weltbild. Eine politische Programmatik, etwa wie man den nationalen Container wieder wetterfest machen könnte, ist nicht in Sicht. Schauen Sie auf Trump: Zu welchen Konsequenzen sein Wahlsieg führt, ist noch völlig unabsehbar.

Dass Schichten sich abgehängt fühlten, dass sie ihr erwirtschaftetes Kapital entwertet fanden: Das erinnert ja an den Aufstieg des Nationalsozialismus. Auch damals hatten die kulturellen Eliten plötzlich ganz andere Leitbilder: In den wilden 1920-er Jahren brach die Moderne über Deutschland herein. Gibt es da eine Parallele?

In einem berühmten soziologischen Aufsatz von 1930 hat Theodor Geiger die Panik im Mittelstand in Deutschland beschrieben. Geiger zeigte, dass Hass gegen Andere und Ressentiments aus sozialen Ängsten resultieren können – der Angst etwa, nicht mehr die soziale Position einnehmen zu können, die einem aufgrund von Ausbildung und Qualifikation eigentlich zusteht. Von Geiger kann man auch heutzutage noch lernen: Für das politische Bewusstsein der Leute kommt es nicht nur darauf an, wie die soziale Lage wirklich ist. Sondern vor allem auch darauf, wie sie schauen! Bis in die Achtzigerjahre war der Blick in die Zukunft optimistisch. Nach dem Motto: Morgen wird es mir noch besser gehen, meinen Kindern später sowieso. Heutzutage ist es beängstigend zu sehen, wie sich der Zukunftshorizont der Leute bis weit in die Mitte der Gesellschaft eingetrübt hat. Im modernen Dienstleistungsproletariat, das inzwischen auch in Deutschland entstanden ist, ist die Zukunft ein schwarzes Loch. Da glaubt keiner mehr daran, mit Erwerbsarbeit die eigene soziale Existenz etwas länger planen zu können.

Nicht nur in Wirtschaft und Kultur, auch in der Politik könnte man ja Parallelen zu damals ziehen. Um 1930 verhandelten die Politiker mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs um die Höhe der Reparationen und erzählten den Wählern: Wir müssen uns mit den Franzosen, den Briten einigen! Und dann kommt einer und sagt: Hört nicht mehr darauf! Wir Deutschen sind alleine stark genug und müssen auf niemanden Rücksicht nehmen!

Der große Unterschied ist, dass der Nationalsozialismus auch eine Modernisierungsbewegung war. Man denke an »Kraft durch Freude«. Da war das Versprechen: Wir organisieren den Zugang zur Freizeitgesellschaft jenseits von Stand und Klasse. Und der Nationalsozialismus war auch ein Aufbegehren einer jungen Generation gegen die Alten. Der neue Nationalismus ist das beides nicht. Er ist eine Bewegung von Verängstigten, die sich zurücksehnen in die heile Welt von gestern und vorgestern.

Menschen, die sich abgehängt fühlen, die sich im »nationalen Container« allein gelassen fühlen, wenden sich von den dominierenden Parteien ab. Nun hat der neue Nationalismus für ihre Lage aber keine Rezepte. Geht es nicht gerade den Abgehängten bald noch schlechter, wenn man die Nationen in Europa in Konkurrenz gegen einander jagt?

Keine Frage. Grundsätzlich: Als politischer Bürger blicke ich auf die Probleme durch die Brille meines Weltbilds. Mit den Werkzeugen der Soziologie aber habe ich die Möglichkeit, mit dem Blick eines Fremden auf die eigene Gesellschaft zu schauen. Als Soziologe möchte ich Dinge beobachten und sichtbar machen, die ich vielleicht als politischer Bürger, aus der Brille meines Weltbildes, gar nicht so recht sehen will, kann, darf oder möchte. Deswegen tun wir uns in der Soziologie mit Rezeptwissen immer etwas schwer. Natürlich auch bei der Frage, was zu tun ist, um den neuen Nationalismus einzudämmen.

Worin liegt der Grundwiderspruch, für den dann die Politik eine Lösung suchen müsste?

Wir haben eine Europäisierung von wirtschaftlichen Strukturen, eine Europäisierung von politischen Ordnungen, auch von Rechtsordnungen. Das Wissenschaftssystem ist europäischer geworden. Aber der Wohlfahrtsstaat ist im nationalen Container geblieben.

Brauchen wir dann also den europäischen Wohlfahrtsstaat, um Sozialdumping zu vermeiden?

Ja, aber die Bestrebungen zur Vereinheitlichung der sozialen Systeme sind nur sehr schwach ausgeprägt. Das hat natürlich mit der sozialen Lage der Eliten zu tun. Es hat aber auch damit zu tun, dass es keine europäische Öffentlichkeit gibt.

Woran liegt das?

Vor allem daran, dass in der EU viele Sprachen gesprochen werden. Die essenzielle Voraussetzung für Öffentlichkeit ist die Fähigkeit zur Verständigung. Ohne eine Sprachgemeinschaft von Nord bis Süd und von unten bis oben ist eine gemeinsame Öffentlichkeit in Europa kaum vorstellbar. Und eine gemeinsame politische Willensbildung ist daran gebunden.

Aber auf Facebook kommuniziert doch die halbe Welt längst auf Englisch!

Wer nimmt an dieser Form der internationalisierten Kommunikation denn teil? Das sind doch die Bildungsträger und deren Kinder! Aber nicht nur die Sprache ist das Problem. Die sozialen Ordnungen sind ganz unterschiedlich. Nehmen wir das Bildungssystem: Mit dem System von Bachelor und Master gibt es zwar eine Nivellierung, aber nur auf der Ebene der Kulissen. In den USA absolvieren nur zehn Prozent der Bachelor-Absolventen ein Masterstudium. Dafür gibt es hier bei uns ein gut funktionierendes System der dualen Berufsausbildung – und eine entsprechend niedrige Jugendarbeitslosigkeit.

Also wäre die Schlussfolgerung: Die Systeme vereinheitlichen?

Das ist aber eine Generationenaufgabe. Denn es gibt riesige Unterschiede in der Europäischen Union. Welche Bedeutung etwa haben Verwandtschaftsbeziehungen für die Bereitstellung von Wohlfahrtsgütern? Im Mezzogiorno herrscht beispielsweise eine viel höhere strukturelle Arbeitslosigkeit als in den industriellen Zentren Norditaliens. Aber Langzeitarbeitslosigkeit, sogar Armut, wird dort längst nicht als ein so zentrales Problem wahrgenommen wie in Nordeuropa. Denn die prekäre Existenz von Langzeitarbeitslosen wird aufgefangen von Familie und Verwandtschaft.

Heißt das: Für einen europäischen Wohlfahrtsstaat bräuchte es ein höheres Maß an kultureller Homogenität?

Wenigstens müsste das Zusammenspiel von Institutionen und Kultur besser funktionieren.

Sind wir da nicht schon fast bei der Alternative für Deutschland?

Das ist einfach der ernüchternde, unideologische Blick auf die Verhältnisse. Jedenfalls sollte man, wenn man internationale Handelsverträge abschließt, tatsächlich darauf achten, dass sie nicht zu Lasten der Verdienstmöglichkeiten der »einfachen Leute« gehen. In der Debatte um TTIP und CETA ging es hier in Europa vor allem um Verbraucherschutz und um Umweltstandards. In den USA aber hat Bernie Sanders in derselben Debatte die soziale Frage in den Mittelpunkt gestellt. Das ist kein Zufall. Für die gerechte Verteilung von Gütern haben wir gar kein Gespür mehr.

Womit wir bei der Linken wären…

Die politische Linke hat schlicht und einfach die klassische soziale Frage vergessen. Sie hat sich schon in den 1970er Jahren einreden lassen, man sei heutzutage weder rechts noch links, sondern vorn. Und dass wir in einer Gesellschaft »jenseits von Stand und Klasse« leben würden. Die aktuelle Situation hat etwas Tragisches. Trump in den USA und May in Großbritannien sind dabei, das Ende der neoliberalen Epoche einzuläuten. Und überall in Europa sprießt der neue Nationalismus. Nur die Linke wirkt wie gelähmt und ausgezehrt.

Was könnte die Antwort von links sein?

Ich sehe bislang keine, die die Leute wirklich überzeugen könnte. An die Stelle der klassischen sozialen Frage sind allerlei Identitätsthemen getreten. Kultur, Diversität, Gender, so lauten die Stichwörter. So wichtig solche Fragen sind, vor allem natürlich das Thema Geschlechtergerechtigkeit, so muss man doch festhalten, dass uns die intellektuellen Ressourcen abhandengekommen sind, um die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt zu rücken – und von Grund auf neu durchzudenken. Das schönste Beispiel ist mein Fach, die Soziologie. Bis vor wenigen Jahren gehörte es zum guten Ton, zu behaupten, es gäbe keine Klassengesellschaft mehr. Wer trotzdem davon redete, musste allerbeste Argumente haben, – und keine Furcht vor möglichen Karrierenachteilen. Bis weit in die Neunzigerjahre gab es an vielen soziologischen Instituten einen Lehrstuhl für die Soziologie der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaates. Heute sind sie fast alle durch Lehrstühle für bunte Kulturthemen ersetzt.

Das Interview führte:

Norbert Mappes-Niediek

Freier Journalist

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