Wirtschaft
anders denken.

Konsum als Autonomieersatz

Wir leben in einer Zeit der Wunschexplosion, so der Psychoanalytiker Mario Erdheim, und das sei dann nicht schlecht, wenn das Wünschen auch die Arbeitswelt einbezieht. Das ist angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse schwierig. Aber nicht unmöglich.

02.12.2016
Foto: Ursula Häne/WOZ
Mario Erdheim, geboren in Quito (Ecuador), ist einer der bedeutendsten Psychoanalytiker der Schweiz. Er studierte in Wien, Basel und Madrid, arbeitete in Zürich als Lehrer, übernahm danach eine Dozentur für Ethnopsychoanalyse an der Universität Zürich, war Gastprofessor in Frankfurt, Salzburg, Wien und Darmstadt und praktiziert seit 1975 in Zürich. Sein Forschungsschwerpunkt ist die gesellschaftliche Bedingtheit des Unterbewusstseins und die Rolle des Unbewussten in der Kultur.

Was kennzeichnet die Lage der Individuen in unseren Gesellschaften, in der Schweiz, in Deutschland? Gibt es da einen roten Faden?

Mario Erdheim: Zentral ist die Emanzipation, die Ablösung des Individuums von Stand, Kirche, Traditionen; die Menschen wurden aus allem, was die Gesellschaft lange Zeit ausmachte, hinausgeschleudert.

Fühlen sich die Menschen deshalb bis heute orientierungslos?

Der Bruch mit dem Alten hat die bisherigen Orientierungen aufgeweicht. Im Kommunistischen Manifest von 1848 haben Karl Marx und Friedrich Engels das sehr eindrücklich beschrieben. Die engen und einengenden familiären Bindungen wurden abgestreift, alles Ständische und Beharrende verdampfte, alles Heilige schien entweiht. Heute können sich die Leute gar nicht mehr vorstellen, wie wenig Raum das Individuum einst hatte. Wir haben jetzt eine Gesellschaft der Individuen und nicht mehr eine Gesellschaft der Gruppen – und das ergibt eine andere Dynamik.

Überfordert uns diese Autonomie?

Der Mensch ist das überforderte Wesen schlechthin. Das war schon immer so. Er war auch von der Feudalgesellschaft überfordert, da war nicht nur geruhsames Dasein. Aber: Ich rede von Individualismus, nicht von Autonomie. Autonomie heißt ja, dass man selber die Gesetze macht. Individuen sind wir alle, ob wir autonom sind oder nicht. Individualismus hingegen bedeutet, dass wir die Folgen des Handelns immer nur in Bezug auf das Individuum beurteilen.

Sind wir also zunehmend bindungslose, überforderte Individuen?

Sicher ist die Bindung an Institutionen fragwürdiger und lockerer geworden. Man kann sagen, die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert haben den Institutionen ihre Unschuld geraubt. Sie geben keinen Halt mehr, weil sie an Autorität und Glaubwürdigkeit verloren haben. Aber die Individuen können gar nicht leben, ohne Bindungen einzugehen.

Aber wie steht es um die Autonomie von uns Individuen?

Wenn Individuen von ihren Erfahrungen ausgehen, dann können sie sagen: Dies oder jenes ist das Richtige für mich, das sind Ziele, die ich mir selber setze, weil ich sie für richtig und wichtig erachte. So können Individuen für sich den Sinn bestimmen, und daraus entsteht Autonomie oder Teilautonomie. Doch da nimmt die moderne Gesellschaft Einfluss auf das Individuum und postuliert, Autonomie bestehe vor allem in dem, was das Individuum konsumiere. Der Konsum wird zum Ersatz der Autonomie: Ich bestimme, welche Produkte ich kaufen will. Freiheit heißt dann nur noch, konsumieren zu dürfen, was man will. Das Individuum konsumiert und konsumiert. Ist das Autonomie? Oder fängt sie nicht vielmehr erst dann an, wenn ein Individuum sagt, es muss mehr geben als all diese Produkte?

Wo lernt ein Heranwachsender Autonomie?

Autonomie lerne ich – das klingt zuerst wie ein Widerspruch – in Beziehungen, die ich eingehe. Entscheidend ist dann, wie die Beziehungen von mir erfahren werden. Die Beziehung ist der kulturelle Ort, wo Autonomie gelernt und gelebt werden kann. Denn es entsteht Spannung: Einerseits will ich eine Beziehung, und andererseits will ich autonom sein. Wie geht das zusammen? In diesem Spannungsfeld entwickelt sich die Autonomie.

Zu konsumieren ist aber doch auch eine Form von Autonomie. Oder sehen Sie Warenkonsum nur negativ?

Was die moderne westliche Gesellschaft seit den fünfziger Jahren kennzeichnet, ist die Wunschexplosion. Die Menschen müssen nicht mehr zurückhaltend und bescheiden sein, niemand zwingt sie zur Askese; Fastenmonate und Opfer haben ihre Bedeutung verloren. All diese Rituale der Bescheidenheit, die ja auch stark religiös fundiert waren, wurden buchstäblich weggeschwemmt. Gesagt wird: Du hast Wünsche, und die sollen in Erfüllung gehen. Darin besteht deine Autonomie. Die alten Märchen erzählten ja immer: Das Wünschen bringt Unglück, bescheide dich mit dem, was du hast. Und plötzlich wird das aufgehoben. Alles, was man will, wird angeboten, man kann es kaufen, man muss es nicht einmal selber produzieren. So mündet jeder Wunsch nach und nach in einen Warenkauf. Damit werden alle Objekte letztlich in Waren verwandelt.

Wie verändert diese Welt die Menschen?

Der Zürcher Germanist Peter von Matt hat in seinem Buch Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur unter anderem beschrieben, wie im Mittelalter mit Wünschen umgegangen wurde. Da sagt der Bauernsohn: »Ich habe genug vom Leben hier. Ich will in die Stadt.« Doch der Vater sagt: »Nein, du gehörst auf den Hof, bleibe Bauer, wenn du in die Stadt gehst, gibt’s ein Unglück.« Der Sohn geht trotzdem, bricht mit dem Vater, der ihn verflucht. Als er in der Stadt sein Glück nicht findet, geht er zu den Räubern und wird am Schluss hingerichtet. Da taucht der Vater nochmals auf und stellt fest: »Siehst du, ich hab dir doch gesagt, das geht nicht gut.« Das war im 13. Jahrhundert. Das hat es also immer gegeben, dass Menschen nicht zufrieden waren. Aber damals musste man sich gegen den Vater stellen, gegen die Gesellschaft, um seinen eigenen Wünschen nachzugehen. Noch im 19. Jahrhundert versucht man, das menschliche Wünschen unter Kontrolle zu bringen. Balzac erzählt die Geschichte vom Chagrinleder: Wer dieses Leder besitzt, kann alle seine Wünsche erfüllen. Aber das Problem ist, dass dieses Stück Leder mit jedem Wunsch schrumpft, was zu einem schweren inneren Konflikt führt: Denn mit dem Leder schrumpft auch die Lebenszeit des Besitzers. Jede Erfüllung eines Wunschs bringt also die Hauptfigur des Romans dem Tod näher. Am Schluss verzichtet sie auf alle Wünsche, sitzt im Sessel und darf keinen Wunsch mehr denken – sie ist gelähmt und beziehungslos. Heute geht uns immer mehr auf, dass wir lernen müssen, unsere Wünsche zu verändern, wir wissen aber nicht wie. Bisher war es immer nur so, dass kulturelle Katastrophen, Kriege, Seuchen dem Menschen nur einen einzigen Wunsch ließen, nämlich überleben zu dürfen. Wenn das gelang, kam das Wünschen wieder in Gang bis zu einer neuen Katastrophe. Wie kommen wir aus dieser Wiederholung raus?

Die soziale Ungleichheit wächst, und die Armen können sich aufgrund ihrer wachsenden materiellen Not immer weniger wünschen. Dass sie in der Konsumwelt nicht mithalten können, lähmt sie.

Es ist nicht nur ein Problem der sozialen Ungleichheit, sondern auch und vielleicht vor allem ein Problem des Wünschens und der Wunscherfüllung durch den Warenkonsum. Erst wurde uns nahegelegt: Wünscht, was ihr wollt, ihr müsst das Wünschen lernen, seid maßlos in den Wünschen, das war der individualistische Trend. Und nachdem viele durch diesen Prozess gegangen sind, merken die Menschen plötzlich, dass es das nicht sein kann. Sie beginnen zu zweifeln, dass das Wünschen glücklich macht. Aber wie wollen wir den Beweis erbringen, dass Konsum nicht glücklich macht? Shoppen beruhigt doch. Gut, Depressionen, Burn-outs und psychische Probleme nehmen stark zu. Das ist ein Beleg, dass die Wunschexplosion nicht befriedigend ist. Ich kann zwar ständig ein neues Handy erwerben, aber werde ich damit glücklich? Entscheidend ist jedoch für jedes Individuum die Güte seiner Beziehungen zu anderen Menschen. Das macht Menschen zufrieden – trotz aller Konflikte, Hoffnungen und Enttäuschungen, die damit verbunden sind.

Ist also die misslungene Wunscherfüllung Ursache der zunehmenden psychischen Belastungen? Liegt diese nicht in den kapitalistischen Arbeitsbedingungen?

Beides ergänzt sich. Der Konsumwunsch erwächst aus den unbefriedigenden kapitalistischen Arbeitsbedingungen. Allerdings läuft das nicht gleichzeitig ab. Zuerst glaube ich ja wirklich, dass die neuen Turnschuhe unglaublich befriedigend sind; sie wurden mir ja von der Werbung angepriesen. Es braucht einen Lernprozess, bis das Individuum erkennt: Nein, das ist es nicht. Und Verlauf und Ergebnis dieser Lernprozesse hängen wiederum von meinen Beziehungen ab. Die depressive Stimmung setzt oft dann ein, wenn ich merke: Ich kann zwar meine Wünsche befriedigen, aber es fehlt immer noch etwas. Was das Fehlende jedoch ist, lässt sich nicht fassen, also versuche ich es mit einem neuen Konsumobjekt.

Jetzt sprechen Sie von Ober- und Mittelschichten, die sich das alles leisten können. Aber was ist mit den Menschen, die gerade das Geld für ein Handy haben, aber für mehr nicht?

Der Psychoanalytiker und Reformpädagoge Siegfried Bernfeld hat dies als Tantalussituation bezeichnet: Auch jene, die Wünsche nicht befriedigen können, sind mit ihnen konfrontiert, denn sie sehen überall, in Zeitschriften, im Kino und so weiter, dass es Leute gibt, die sich alles leisten können. Die Armen leben nicht hinter hohen Mauern, die Zürcher Bahnhofstrasse mit all ihren Luxusläden ist kein Tabubezirk. Man möchte auch diese Früchte ergreifen, kann es aber nicht – sie sind unerreichbar. Das löst ein ganz anders geartetes Leiden aus, und man versucht, sich dadurch zu behelfen, dass man sich sagt: Ich bin ein Versager, deshalb kann ich mir nichts erfüllen. Die Früchte sind da, ich sehe sie, ich rieche sie, aber ich komme nicht an sie heran, weil ich zu wenig tüchtig bin, ich hätte doch die Schule oder die Ausbildung fertig machen sollen; jedes Individuum findet dann viele Gründe für Selbstvorwürfe. Die Tantalussituation zermürbt den Menschen. Dabei ist das Wünschen eine wunderbare Sache, denn es bringt den Menschen dazu, das, was gegeben ist, zu überschreiten. Das Wünschen ist eine treibende Kraft, um die Realität zu verändern. Wer aber zermürbt wird, hat keine Kraft zum Wünschen; er wird eher dazu neigen, die Realität so zu akzeptieren, wie sie ist.

Also sind jene, die nicht mehr wünschen können, am unglücklichsten?

Eine weitere Folge der Wunschexplosion bestand darin, dass sie der Arbeit eine andere Bedeutung gab und dem Menschen damit eine wesentliche Quelle der Sinngebung versperrte. Die Wunschexplosion machte aus dem Beruf, der eine Berufung war, einen Job. Man will nur noch Geld verdienen, eben um sich möglichst viele Warenwünsche erfüllen zu können. Das Geld ist zur Hauptbegründung der Arbeit geworden.

Also kein Interesse am Handwerk, am Inhalt der Arbeit …

Der Arbeitsinhalt ist weitgehend aus dem Wünschen herausgenommen worden. Wenn sich das Wünschen auf den Arbeitsprozess beziehen würde, müsste man sich fragen, wie eine zufriedenstellende Arbeit auszusehen hätte. Aber wenn sich das Wünschen nicht auf die Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft bezieht und auf die Inhalte der Arbeit, dann gilt nur all das als gut und kreativ, was mehr Geld in den Geldbeutel bringt. Ich finde es bemerkenswert, dass die Wunschexplosion nicht das Leben als Ganzes erfasst, sondern sich nur auf bestimmte Bereiche beschränkt. Und ausgerechnet der Bereich der Erwerbsarbeit, die eine so große Wichtigkeit hat, ist ausgenommen.

Was können die Gewerkschaften tun, damit die Menschen wenigstens einen Teil der Energie, die in ihre Wunscherfüllung fließt, in den Wunsch nach einer möglichst anspruchsvollen Arbeit umlenken?

Da müssten die Gewerkschaften gegen ein Vermächtnis der Sozialdemokratie ankämpfen: Diese hat Arbeit nie in ihrer ganzen Bedeutung gesehen für die Menschwerdung des Affen, wie es Friedrich Engels einst sagte. Für die Partei war und ist Arbeit im Kern nur Lohnarbeit. Der Sinn der Arbeit jenseits des Lohns war für die Sozialdemokratie nie ein Thema, und aus dieser verhängnisvollen Engführung haben sich auch die Gewerkschaften bis heute nicht herausarbeiten können und wollen.

Gab es einmal eine Phase, in der sich die Gewerkschaften mit diesem weiten Verständnis von Arbeit jenseits des Lohns beschäftigt haben?

Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Am Ende meines Studiums war ich in der Toskana in den Ferien. Dort begegnete ich Minenarbeitern, die Pyrit abbauten. Wir unterhielten uns, und ich erfuhr, dass viele von ihnen früh starben. Die Todesrate war sehr hoch. Ich fragte sie dann, warum sie nicht in die Schweiz gehen würden, dort könne man unter besseren Bedingungen arbeiten und bekomme nicht diese Krankheiten. Ich würde nichts verstehen, antworteten sie, hier sei ihr Lebensort, hier wollten sie bleiben. In dieser Auseinandersetzung fiel mir auf, dass diese Minenarbeiter eine ganz andere Einstellung zur Arbeit hatten, als ich sie bis dahin kannte. Sie waren erstens überzeugt, dass ihre Arbeit trotz ihrer Gefährlichkeit etwas ganz Wichtiges, Schönes, Wunderbares ist. Für sie war dieses Etwas-aus-dem-Berg-Herausholen etwas Einmaliges, etwas geradezu Sakrales. Und zweitens hatten sie ein sehr genaues Bild von der Region und ihrer Geologie. Das entsprach zwar vielleicht nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen, zeigte aber, dass sie eine ganz eigene Beziehung zu ihrer Arbeit hatten. Später habe ich in Mexiko Feldforschung in einem Dorf von Minenarbeitern betrieben und bin dort auf das gleiche Phänomen gestoßen. Die Arbeiter, früher Bauern, kannten die Goldmine besser als die Spezialisten des kanadischen Eigentümers. »Nein, dort hat es Wasseradern«, sagten sie denen, »wenn wir da hineinbohren, überschwemmt das den Schacht.« Doch die kanadischen Experten hörten nicht auf sie. Die Arbeiter aber blieben vorsichtig, als die Bohrungen stattfanden, und konnten sich retten, als das Wasser kam. Und es waren auch sie und nicht die Spezialisten, die wussten, wie das Wasser zu beseitigen war. Auch diese Mexikaner hatten ein ganz anderes, in einem gewissen Sinn ein existenzielles, das heißt aufs Leben bezogenes Verhältnis zur Arbeit.

Ist es angesichts der globalen Arbeitsteilung und des globalen Wettbewerbs nicht eine romantische Vorstellung, über Arbeitsbeziehungen, den Inhalt der Arbeit und die Produkte der Arbeit diskutieren zu wollen?

Warum hat es einen negativen Unterton, wenn man jemanden verdächtigt, etwas Romantisches zu sagen? Auch wenn die Romantiker oft eine konservative Schlagseite hatten, konnten ihre Gedanken wichtige Erkenntnisse vermitteln. Arbeitsbeziehungen, Arbeitsinhalte und was produziert werden soll sind zentrale Themen, denen man nicht aus dem Weg gehen soll.

Was sagt es über die Gesellschaft aus, wenn es keinen bedeutenden Akteur gibt, der einen so einleuchtenden Punkt thematisiert?

Man sieht daran den durchschlagenden Erfolg des Kapitalismus, der die Arbeitskraft zur Ware gemacht hat. Es ist alles so eingepackt, es kommt einem gar nicht mehr in den Sinn, dass es noch andere Konnotationen gibt. Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss beschäftigt sich ja auch mit diesem Thema. Dort wird nicht nur der Widerstand beschrieben und seine Einbettung in die Kultur, dort wird auch beschrieben, wie die Arbeit aus der Kultur herausgelöst und ins rein Ökonomische verlagert wird. Noch etwas weiter gefasst: Seit die Ökonomie aus dem Gesellschaftlichen herausgelöst und als eigene Sphäre definiert wurde, kommen wir gar nicht mehr auf die Idee, dass Arbeit etwas anderes ist als bloße Ökonomie.

Warum ist diese Entfremdung des Menschen vom Arbeitsprozess und dem Arbeitsprodukt so stabil?

Das fängt schon in der Schule an. In den Schulen wird nur noch auf Leistung getrimmt: Genügen die Noten, genügen sie nicht? Diese Ausrichtung ist so absurd, dass ein intensives individuelles Interesse als Störung des Unterrichts betrachtet wird. Ich kann mich noch gut an einen Professor an der Hochschule erinnern, der sagte: »Wählen Sie kein Dissertationsthema, das Sie wirklich interessiert. Sonst dauert es ewig.« Das Bologna-Punktsystem heute befördert das. Es geht nur um die Credit Points, alles andere ist egal. Es gibt also kaum Verknüpfungspunkte zwischen meinen Interessen und dem, was ich lerne und arbeite.

Dieses System ist heute aber harter Kritik ausgesetzt.

Richtig. Und das ist gut. Ich finde aber interessant, dass es dieses System überhaupt gibt. Das ist von oben nach unten durchgesickert, es wurde ja nie offiziell in einer Universität etwa vom Lehrkörper so beschlossen. Bologna wurde einfach dekretiert. Dieses Riesenprojekt mit seinen enormen Folgen ist ohne auch nur einen Anflug von Demokratie durchgesetzt worden. Mit Bologna wird das, was als Wissen gilt, neu definiert. Wissen ist rein funktional, der Zusammenhang zwischen Interesse und Tätigkeit wird gekappt. Er wird noch akzeptiert bei hoch spezialisierten Leuten, beispielsweise Physikern in der Forschung, aber nicht für die Mehrheit der Wissenswilligen.

Ist das gut oder schlecht?

Es gab immer wieder historische Phasen, in denen das Wissen umdefiniert wurde. Ich denke, die heutigen Umdefinitionen tragen dazu bei, den Menschen so zuzurichten, dass er überhaupt keine Fragen mehr stellt. Es ist ein Prozess der Zerstückelung des Wissens im Gang, der dem industriellen Produktionskonzept des Taylorismus ähnelt, der den Arbeitsprozess bis in die kleinsten Handgriffe zergliedert hat.

Die Menschen leiden in unseren westlichen Wirtschaftsgesellschaften, weil sie in der Arbeit nur eine Ware und eine Frage des Lohns sehen. Wer sie neu definiert und ihr Sinn verleiht, der öffnet sozusagen die Tür zu neuem Fortschritt. Wer kann das sein?

Darauf möchte ich als Psychoanalytiker antworten. Zwar wird das Psychische heute eher als etwas Überflüssiges betrachtet, bestenfalls als Störfaktor, der die Individuen daran hindert, die von ihnen geforderten Leistungen zu erbringen, aber ich weiß, dass das Psychische über gewaltige Kräfte verfügt. Zu diesen Kräften gehören die Größen- und Allmachtsfantasien. Aus diesen entspringen die Wünsche des Menschen, die Realität nicht einfach so zu akzeptieren, sondern sie verändern zu wollen. Ein eindrücklicher Beleg dafür sind die Flugfantasien, die den Menschen vermutlich seit Urzeiten bewegten und die zum Beispiel in Mythen wie von Dädalus und Ikarus Gestalt annahmen. Daraus entstanden Erfindungen, die das heutige weltumspannende Flugnetz ebenso ermöglichten wie die schrecklichsten Luftkriege und Bombardements. Damit will ich sagen, dass die Größen- und Allmachtsfantasien ein schier unermessliches Potenzial an Möglichkeiten enthalten, die sowohl für destruktive als auch für konstruktive Zwecke eingesetzt werden können. Welche Richtung sich durchsetzt, hängt von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Tendiert man dazu, diese Verhältnisse, insbesondere die Machtstrukturen, unveränderlich zu erhalten, so setzt sich das destruktive Potenzial durch, weil man all das vernichten muss, was die etablierte Macht infrage stellt. Dabei darf man nicht vergessen, dass der Wandel, die Bewegung das Selbstverständliche ist, das heißt, dass man viel Energie verwenden muss, um Bewegungen und den durch sie verursachten Wandel zu stoppen, einzufrieren.

Was kann man tun, damit sich die positive Seite der Fantasien gegen die etablierte Macht durchsetzt?

Die wichtigste Lebensphase des Individuums, in der sich entscheidet, in welche Richtung sich Größen- und Allmachtsfantasien entwickeln, ist die Adoleszenz. Die Leistung, die die Mädchen und Jungen im Verlauf der folgenden zehn, fünfzehn Jahre erbringen müssen, besteht darin, ihre Größen- und Allmachtsfantasien in Einklang mit ihren Begabungen zu bringen. Gelingt das nicht, so bleibt den Individuen nichts anderes übrig, als auf sie zu verzichten oder sie an andere zu delegieren. Das sind dann die Führer und Propheten, die Filmstars, die Spitzensportler und ihre Mannschaften. Das Entscheidende ist, dass diese Identifikation eine Verbindung der Größen- und Allmachtsfantasien mit den eigenen Begabungen und Talenten verhindert. Diese Überlegungen machen vielleicht auch verständlich, weshalb Jugendarbeitslosigkeit ein schweres Handicap darstellt. Zum materiellen kommt noch das psychische Elend eines tiefen Unbehagens und Ungenügens hinzu. Jugendliche werden unter solchen Umständen jede Gelegenheit ergreifen, um da auszusteigen. Auch der Dschihad erscheint dann als eine solche Möglichkeit. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg warf man sich anfangs begeistert in die Schlacht, um für Kaiser, König und Vaterland zu sterben. In den sechziger Jahren schienen andere Utopien realisierbar, und tatsächlich änderte sich auch vieles. Der Kapitalismus nahm diese Anstöße begierig auf, und ihnen verdankt man auch die Entwicklung völlig neuer Technologien. Aber der Elan erlahmte, nicht zuletzt weil der Kapitalismus an die Grenzen seines Wachstums geriet. Da stehen wir heute. Auf die Größen- und Allmachtsfantasien zu spekulieren, wie ich es tue, birgt das große Risiko, dass es keine Garantie gibt, ob sie in Richtung des Destruktiven oder des Konstruktiven tendieren werden.

Und wie fördern wir die kreative Seite?

Dafür sehe ich viele Ansätze: zum Beispiel das zunehmende ökologische Bewusstsein, das in den Aktionen von Greenpeace etwa ins Spektakuläre geht und das Größenfantastische offenbart. Aber auch die zunehmende Beliebtheit des Veganismus, durch den es zu einer Umwertung des Verhältnisses zwischen Mensch und Tier kommt. Oder der ständige Versuch, neue Lebensformen zu suchen und zu finden und dabei auch der Stadt neue Bedeutungen im Zusammenleben zu geben. Erschreckend ist allerdings, wie viel Widerstand und Hass solche Bemühungen auslösen. Und gegen diesen Hass anzukämpfen, ist eine schwierige und mühsame Sache. Denn wir wollen ja keinen Gegenhass entwickeln.

Es handelt sich um die Kurzfassung eines Interviews, das zuerst in der Schweizer Wochenzeitung WOZ erschien.

Das Interview führte:

Pit Wuhrer

freier Journalist

Wolfgang Storz

Kommunikationsberater

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