Wirtschaft
anders denken.

Jenseits von Markt und Moral

16.09.2022
Vier Arme geben sich über einem Tisch mit Arbeitsutensilien die FaustFoto: mohamed HassanMehr als Management und Diversität: Wirtschaftsethik muss neue Denkräume eröffnen!

Von der überraschenden Vielfalt wirtschaftsethischer Konzepte und so mancher systemrelevanter Begrenztheit – ein Überblick aus OXI 9/22.

»Okonomie ist Ethik!«, heißt es beim Wirtschaftsethiker Karl-Heinz Brodbeck. Und in der Tat zeigen Debatten etwa zur Vermögenssteuer oder zum Mindestlohn, wie wirtschaftliche Fragen auch mit ethischen Fragen verbunden sind. Auf viele Mainstream-Ökonom:innen muss das geradezu provokativ wirken, glauben diese doch daran, eine empirische, den Fakten verschriebene (positivistische) und damit »wertfreie« Wissenschaft zu betreiben. Entgegen dieser dominanten Perspektive zeigt sich im deutschsprachigen Raum aber eine erstaunliche Vielfalt an wirtschaftsethischen Konzepten: Es gibt zum Beispiel eine kulturalistische Wirtschaftsethik (Reinhard Pfriem, Thomas Beschorner), eine integrative Wirtschaftsethik (Peter Ulrich), eine Ethik mit ökonomischer Methode (Karl Homann) und ihre Weiterentwicklungen (zum Beispiel die Ordonomik von Ingo Pies), eine republikanische Wirtschaftsethik und eine Gouvernance-Ethik. Hinzu kommen religiöse Ethik-Konzepte wie zum Beispiel die katholische Sozialethik. Tatsächlich existieren auch Lehrstühle für Wirtschaftsethik, teils wurden in den letzten Jahren neue Lehrstühle geschaffen. Und es gibt Lehrveranstaltungen zur Wirtschaftsethik sowie Studiengänge wie »Philosophy and Economics«.

Dem gegenüber steht die Studie von Hannes Fauser und Myriam Kaskel: Im Rahmen der Debatte um die Einseitigkeit der Mainstream-Ökonomik untersuchten sie 2016 für die Hans-Böckler-Stiftung 54 wirtschaftswissenschaftliche Lehrpläne (Curricula) an 54 deutschen Universitäten. Ihr Ergebnis: Reflexive Inhalte, das heißt ökonomische Ideengeschichte, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie sowie Wirtschaftsethik (»Business Ethics« und »Ethics of the Social Market Economy«), sind gerade einmal in 1,36 Prozent der Lehrpläne vertreten. An 20 der 54 untersuchten Universitäten (37 Prozent) gab es gar keine reflexiven Lehrangebote. Die ökonomische Ausbildung scheint daher in großen Teilen frei von wirtschaftsethischen Inhalten zu bleiben: Wer etwas mit »Wirtschaft« studiert, hat also gute Chancen, ohne fundierte Auseinandersetzung mit normativen bzw. ethischen Fragen durch das Studium zu kommen.

Während damit institutionelle Probleme benannt sind, die sich um die Frage ranken, ob und in welcher Form Wirtschaftsethik an den Hochschulen im deutschsprachigen Raum überhaupt vertreten ist, existieren aber auch Probleme auf der inhaltlichen Ebene.

Diese Problematik nimmt bereits damit ihren Anfang, dass Wirtschaftsethik häufig im betriebswirtschaftlichen Bereich angesiedelt ist. Viele der verantwortlichen Lehrstühle tragen zum Beispiel »Wirtschafts- und Unternehmensethik«, »Internationales Management«, »Corporate Social Responsibility« oder ABWL (Allgemeine Betriebswirtschaftslehre) im Namen. Diese betriebswirtschaftliche Ausrichtung ist natürlich nicht per se schlecht. Das wäre ein grobes Missverständnis. Denn Unternehmen sind Teil der Wirtschaft, gesellschaftspolitische Akteure und ein Ort, an dem Wirtschaftsethik ausgehandelt und praktiziert wird. Deshalb hat die Beschäftigung mit ethischem Management oder Corporate Social Responsibility (CSR) durchaus eine Berechtigung. Gleichwohl wäre das Verständnis von Wirtschaftsethik verkürzt, bliebe es auf diese betriebswirtschaftlichen Themen und Perspektiven konzentriert. Zu denken wäre etwa an die Frage nach der sozial gerechten Gestaltung einer ökologischen Transformation oder nach einem »gerechten« Mindestlohn.

Es sticht aber ferner auch eine gewisse Konzentration auf bestimmte Konzepte der Wirtschaftsethik ins Auge. Dazu ist vorauszuschicken, dass die deutschsprachige Wirtschaftsethik zwei gegensätzlich gelagerte Pole aufweist: Der integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich, die das Primat der Ethik vertritt, stehen die Konzepte der Ethik mit ökonomischer Methode von Karl Homann gegenüber, die ein Primat der Ökonomik vertreten. Während die integrative Wirtschaftsethik »Wirtschaft« gestalten und (mainstream-)ökonomisches Denken hinterfragen will, möchte die Ethik mit ökonomischer Methode »die Wirtschaft« vor einer moralischen Überforderung bewahren, das (mainstream-)ökonomische Denken rechtfertigen und gegen moralische Vorwürfe verteidigen. Letztere Konzepte lassen sich deshalb auch als ökonomistische bzw. marktkonforme Ethiken bezeichnen (siehe OXI Ausgabe 5/2022). Diese sind besonders anschlussfähig an eine Mainstream-Ökonomik, weil sie diese eben nicht so grundsätzlich hinterfragen, wie es andere Ethik-Konzepte tun. Nun existiert zwar die eingangs erwähnte Vielfalt an wirtschaftsethischen Konzepten, aber die Erfolge in der Institutionalisierung und Repräsentation zum Beispiel in Form von Lehrstühlen scheinen doch eher aufseiten marktkonformer Ethiken zu liegen. Jedenfalls zeigt sich im Vergleich mit anderen Ethik-Konzepten zumindest eine nennenswerte Zahl an Lehrstühlen (zum Beispiel an der TU München, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Handelshochschule Leipzig). Wo immer es im deutschsprachigen Bereich um Wirtschaftsethik geht, bestehen deshalb gute Chancen, auf Vertreterinnen und Vertreter der Ethik mit ökonomischer Methode zu treffen.

Dazu scheint sich ein nicht unproblematischer Trend abzuzeichnen, Lehrstühle für Wirtschaftsethik auf marktaffine Ethik-Konzepte und eine beschreibende (deskriptive) Ethik hin auszurichten. Letzteres bedeutet, die von Menschen gelebten Werte und Normen lediglich zu beschreiben (nicht zu bewerten), weshalb dazu auch spezifische Einzelwissenschaften wie (Wirtschafts-)Psychologie oder experimentelle Ökonomik herangezogen werden.

Beispielhaft dafür ist eine Professur »Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsethik«, die 2021 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ausgeschrieben war. Als eine Voraussetzung für die Professur galt »der Einsatz qualitativer Methoden, z. B. durch die Analyse von Survey-Daten, die Durchführung experimenteller Studien oder die ökonomische Modellierung ethischer bzw. unethischer Verhaltensweisen«. Gesucht wurde »eine Persönlichkeit, die in dem Fachgebiet der Wirtschaftsethik aus volkswirtschaftlicher Perspektive hervorragend ausgewiesen ist«. Obwohl das Fach Wirtschaftsethik in Lehre und Forschung vertreten werden sollte, wurde es sogleich auf Wirtschaftsethik aus volkswirtschaftlicher Sicht und auf eine empirisch-beschreibende Ausrichtung reduziert.

Ähnlich einschränkend ausgeschrieben war 2021 eine Professur für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität Freiberg. Wirtschaftsethik wurde dort bereits einleitend als Wissenschaftsfeld präsentiert, das sich dem am Eigeninteresse orientierten Handeln auf Märkten und in Unternehmen widmet. Die Fragen, mit denen sich die Professur beschäftigen sollten, fanden sich darin, »ob und wie welche ethischen Prinzipien im menschlichen Handeln auf Märkten Anwendung finden sollten, inwiefern das tatsächlich (nicht) geschieht und mit welchen Reaktionen der Marktteilnehmer auf bestimmte Marktprozesse, -strukturen und -regeln zu rechnen ist«. Dabei sollten auch Verhaltensökonomik oder Wirtschaftspsychologie einbezogen werden. Insofern zeigt sich auch dort eine Tendenz zu einer beschreibenden und marktkonformen Wirtschaftsethik.

Eine solche Ausrichtung ist mit Blick auf die Vielfalt der Ethik-Konzepte ein Problem, weil die Gefahr besteht, dass das, was Wirtschaftsethik sein kann, dann eher verengt wird auf eben eine rein beschreibende und marktkonforme Ethik – oder dies als einzig (wissenschaftlicher) legitimer Bezugspunkt einer Wirtschaftsethik erscheint. Aber auch inhaltlich und sachlich besteht ein Problem, wenn sich die Antworten zu gesellschaftlichen Fragen auf marktkonforme Ethik-Perspektiven reduzieren und »Wirtschaft« auf diese Weise entpolitisiert wird. Es lässt sich jedenfalls bezweifeln, dass eine marktkonforme Ethik angemessene Antworten auf Probleme bietet, die maßgeblich mit den marktwirtschaftlichen Systemen im Zusammenhang stehen, die eine solche marktkonforme Ethik-Konzeption vor moralischen Vorwürfen in Schutz nehmen möchte.

Dagegen kann in der Wirtschaftsethik auch ganz grundlegend über ethische Legitimität wirtschaftlichen Handelns reflektiert werden. Märkte und Marktlösungen ließen sich hinterfragen sowie nicht-marktwirtschaftliche Aktivitäten und Logiken (Care usw.) berücksichtigen und abwägen. Das muss auch keine abstrakte akademische Übung bleiben. Denn es existieren viele konkrete Themen und Schwierigkeiten von gesellschaftlicher Relevanz, die eine breite wirtschaftsethische Perspektive abseits der Marktkonformität als angemessen erscheinen lassen. Zum Beispiel zeigte sich während Corona deutlich, dass der aus marktwirtschaftlicher Sicht geringen Produktivität in den Bereichen Care, Bildung usw. sowie im Niedriglohnbereich deren enorme Systemrelevanz entgegensteht. Diese Paradoxie – marktwirtschaftliche Geringwertigkeit von Systemrelevanz – sollte eigentlich dazu anregen, »Produktivität« anders zu denken. Das wäre ebenso auch eine wirtschaftsethische Aufgabe wie die damit verbundene Beschäftigung mit der Frage nach einer angemessenen Arbeitszeitgestaltung. Hinzu kommt, dass eine ökologische Transformation, die auch sozial gerecht sein soll, selbstverständlich ebenfalls einer wirtschaftsethischen Perspektive bedarf, die über die Marktkonformität hinausgeht.

Zur Illustration sei an die deutlichen wirtschaftsethischen Leerstellen in den Verteilungsdebatten erinnert. Zwar wird die Konzentration von Vermögen und Einkommen als Problem anerkannt und entsprechend schnell sind dann auch Forderungen nach einer Erbschaftssteuer und einer Vermögensteuer erhoben. Aber erstens werden dabei bisherige wirtschaftliche Prinzipien (und Praktiken) nicht wirklich in Zweifel gezogen. Zweitens scheinen auch kritische (gewerkschaftsnahe) Ökonomen die Frage zu vermeiden, in welchem Maß welche – als gewünscht angesehene – Vermögenskonzentration warum und in welchem Zeitraum angestrebt werden soll. Ja, an dieser Stelle hätten auch Ökonominnen und Ökonomen Farbe zu bekennen, welches Maß an Ungleichheit als ethisch legitim angesehen werden kann oder nicht. Und genau hier wäre eine wirtschaftsethische Expertise und Auseinandersetzung notwendig. Statt diese abzurufen, werden aber Verteilungsdebatten geführt, die sprichwörtlich in der Luft zu hängen scheinen, weil ihnen das ethische Fundament fehlt.

Das zeigt sich übrigens auch beim Mindestlohn, wo letztlich eine soziale Gerechtigkeitskonvention auf symbolische Werte (12 Euro) reduziert wird, denen das normative Fundament wieder unter den Füßen entgleitet. Nach wie vor bleibt »Fairness« im Mindestlohngesetz lediglich den »Wettbewerbsbedingungen« vorbehalten und taucht nicht gegenüber den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder mit Bezug auf eine Verteilung der gemeinsamen Wertschöpfung auf.

Wirtschaftsethische Fragen sind also allgegenwärtig. Wirtschaftsethik kann daher auch sehr viel mehr sein als nur eine Aufgabe betrieblichen Managements oder die Verteidigung marktwirtschaftlichen Handelns gegenüber moralischen Ansprüchen. Indem bisherige Praktiken, Begriffe und Verständnisse hinterfragt werden, kann eine solche Wirtschaftsethik eine befähigende »Möglichkeitswissenschaft« (Reinhard Pfriem, Lars Hochmann) bzw. »Ermöglichungswissenschaft« (Achim Truger) sein. Es ginge dann darum, Denkräume zu öffnen und damit zu Problemlösungen zu befähigen. Das mag vereinzelt bereits geschehen. Aber gemessen an den bei Fauser und Kaskel (2016) ausgewiesenen 1,36 Prozent reflexiver Inhalte in wirtschaftswissenschaftlichen Lehrplänen ist es noch ein weiter Weg, um eine besonders nachhaltige Veränderung der Situation der Wirtschaftsethik an den deutschen Hochschulen zu bewirken. Ein erster Schritt dazu wäre die Sensibilisierung für diese Problematik und dafür, was Wirtschaftsethik alles sein kann. Dann könnte es zum Beispiel bei sozial- und verteilungspolitischen Themen selbstverständlicher sein, die dafür notwendige wirtschaftsethische Fachexpertise stärker einzufordern und einzubinden.

Geschrieben von:

Sebastian Thieme

Wirtschaftsethiker

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