Wirtschaft
anders denken.

Eine mobilisierte Wirtschaft

12.04.2022
Weltkarte mit Fokus auf Russland. Man sieht den europäischen, asiatischen und zum Teil afrikanischen und australischen KontinentFoto: NOAADer neue Schwerpunkt der russischen Weltwirtschaft

Die Wirtschaftspolitik in Russland zielt auf die Stabilisierung eines staatsmonopolistischen Kapitalismus mit neuem Schwerpunkt jenseits des Westens.

In den russländischen Diskussionen ist derzeit der Begriff der Mobilisierungswirtschaft oft zu hören. Tatsächlich ist auf der administrativen Ebene eine Vielzahl von Aktivitäten zu beobachten, die diese These zu stützen scheinen. Grob gesagt sind es folgende Richtungen, in die diese gehen – erstens die Abfederung von materiellen Wirkungen von Sanktionen und Gegensanktionen auf das Wirtschaftsleben, zweitens die forcierte Importsubstituierung und die Entwicklung von eigenen technologischen Lösungen bis in den high-tech-Bereich, drittens die Umorientierung der wirtschaftlichen Beziehungen auf einen (noch zu schaffenden) nicht-westlichen Weltmarkt, viertens die Aufrechterhaltung des Finanzsystems mit Blick auf die angestrebten zukünftigen außenwirtschaftlichen Verflechtungen, fünftens die Bindung der hochqualifizierten Arbeitskräfte im Lande und sechstens die Sicherung der Ruhe im Land durch soziale Leistungen. Freilich ist es keine Mobilisierung zum Krieg – der Krieg ist nur Mittel zum Zweck der Sicherung des eigentümlichen russländischen Akkumulationsregimes. Vor diesem Hintergrund wirken die Maßnahmen durchaus in sich stimmig. Betrachten wir die Dinge im Einzelnen.

Erstens: Abfedern 

Durch Gesetze und Erlasse des Präsidenten ist eine Vielzahl von Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft im Zusammenhang mit den Sanktionen bzw. Gegensanktionen zu verzeichnen. Bereits kurz nach Kriegsbeginn bestellte Putin die Spitzen der Wirtschaft ein und verpflichtete sie auf ihre patriotischen Pflichten. In seiner programmatischen Rede vom 16.03.22 betonte er, dass die Probleme der Wirtschaft durch die Nutzung marktwirtschaftlicher Instrumente gelöst werden sollten. Das war auch eine Reaktion der Wirtschaftsvertreter:innen, die sich betont unpolitisch gaben, auf dem erwähnten Treffen: Den Unternehmen sollten die Schäden, die aus Sanktionen und sonstigen Belastungen entstehen, ersetzt werden. Dazu gehört auch der Umgang mit dem Eigentum von Unternehmen, die Russland verlassen haben – ihre Übernahme durch andere Unternehmen, Regionen oder die Belegschaften. Nicht zuletzt ist das eine politisch stabilisierende Frage. Bereits sehr schnell wurden auch Maßnahmen ergriffen, um Rechte ausländischer Investoren im Lande zu halten und die Flugzeugflotte am Leben zu erhalten. Da ein großer Teil der Flugzeuge geleast sind, wurde den russländischen Unternehmen das Recht zugesprochen, diese auf ihren Namen eintragen zu lassen. Allein diese Maßnahmen zeigen die Richtung auf einen völligen Bruch mit der bisherigen Weltwirtschaftsordnung und den bisherigen Geschäftsgebaren mit großer Deutlichkeit.

Zweitens: Entwickeln

Die Importsubstitution ist vor dem Hintergrund eines der Schwachpunkte der Regierungszeit Putins zu sehen – der immer wieder deklarierte, aber nie realisierte Umbau der russländischen Wirtschaft zu einer innovativen, nicht mehr vom Rohstoffexport abhängigen Ökonomie. Im Rahmen von „Nationalen Projekten“ wurde immer wieder versucht, hier Erfolge zu erzielen – allerdings ohne durchschlagende Wirkungen. Das Verschwinden von Facebook und anderen aus dem in Russland zugänglichen Netz schafft Raum für russländische Unternehmen – und wird offensichtlich als Anreiz zu Innovationen verstanden. Vor einigen Tagen wurde durch Präsidentenerlass verordnet, dass die staatlichen Organe in sicherheitsrelevanten Bereichen schrittweise ausländische durch einheimische Softwarelösungen einzuführen haben. Dreh- und Angelpunkt ist dabei allerdings weiter die nicht funktionierende Kette Forschung-Entwicklung-Anwendung. Es fehlen kreative Technolog:innen.

Drittens: Aufbauen

Der Umbau der weltwirtschaftlichen Beziehungen auf eine Weise, die Russland vom euroatlantischen Raum unabhängig handlungsfähig macht, ist eine der zentralen Achsen, vielleicht auch die zentrale Achse der wirtschaftlichen Mobilisierung. Man geht davon aus, dass Russland als Partner Chinas diese Unabhängigkeit erreichen kann. Die Bemühungen, ein alternatives Zahlungssystem zu SWIFT zu schaffen, sind dabei ein zentrales Moment. Die Projekte zur Umlenkung der Rohstoffexporte (Gas, Öl, Kohle) und auch Fertigwarenexporte in Richtung China und andere Länder Asiens und Afrikas dürften zwar nicht so schnell zu realisieren sein, wie suggeriert wird, aber sie werden mit Energie betrieben.

Viertens: Stabilisieren

Mit dem Abschneiden von den internationalen Finanzmärkten und dem Einfrieren von Guthaben und Goldreserven stellt sich für Russland die Frage nach der Gestaltung der Finanzbeziehungen zu den gewünschten Partnern dieser neuen Weltwirtschaft. Das Zahlungssystem ist die eine Sache, eine andere die Gestaltung eines entsprechenden Währungssystems. Die Absage an die Verrechnung in Euro oder Dollar und die perspektivische Bindung an den Yuan bzw. die Nutzung des Rubel in den Beziehungen zu den Mitgliedern der Eurasischen Gemeinschaft scheinen die präferierten Wege zu sein. Ob Länder wie Kasachstan dem uneingeschränkt folgen werden, ist allerdings offen. Ein wirkungsvoller Schachzug auf diesem Gebiet ist zweifelsfrei die eingeführte Zwangsbewirtschaftung der Deviseneinnahmen. Der Zwang, für die Gaslieferungen die Zahlungen in Euro auf ein Konto der Gasprombank zu leisten, die dann ihrerseits die Euro über die Börse in Rubel verwandelt, gibt dem Staat schnelle Verfügung über die Devisen, die er bzw. die Unternehmen brauchen, um die immer noch aus dem Westen benötigten Waren zu kaufen – und sei es auf dem grauen oder schwarzen Weltmarkt. Nach innen wird versucht, durch die Stabilisierung der Zinsen oder auch Zahlungsmoratorien Finanzierungsengpässe zu verhindern. Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil viele Menschen ihre Wohnungen auf Kredit gekauft haben; es geht also auch um politische Stabilität. Und die wiederum ist wichtig, um als Partner interessant zu sein.

Fünftens: Binden

Bereits seit Jahren verzeichnet das Land eine rasante Abwanderung von jungen qualifizierten Arbeitskräften. Mit Beginn des Krieges soll diese Abwanderung noch stärker geworden sein. Ohne ein gewisses Maß an politischen und kulturellen Freiheiten ist Kreativität nur begrenzt möglich. Dieser Umstand wird vom russländischen Establishment offensichtlich völlig unterschätzt. Man setzt darauf, durch Verbesserung der Bezahlung und andere Vergünstigungen die Kreativen in Wissenschaft und Technik im Lande halten zu können und gleichzeitig durch derartige Anreize auch Abgewandert wieder zurückholen zu können.

Sechstens: Schützen

In diese Richtung gehen auch Maßnahmen, um vor allem Familien mit Kindern zu unterstützen. Es wird abzuwarten sein, wie sich diese Seite weiter entwickeln wird, wenn die befürchtete Arbeitslosigkeit tatsächlich offen ausbricht und die Inflation weiter steigt.

Sicherung des russischen oligarchisch-patriarchalen Kapitalismus

Es entsteht der Eindruck, dass die derzeitige Mobilisierung auf einen Schlag alle Probleme, die in den letzten 30 Jahren nicht gelöst werden konnten, bewältigen soll. Die diesbezüglichen Deklarationen und die bisher ergriffenen Maßnahmen lassen sich in zwei Richtungen deuten: Entweder soll das derzeitige rohstoffbasierte Akkumulationsregime eine neue Grundlage erhalten, oder das Akkumulationsregime soll durch Überwindung der Rohstoffabhängigkeit in Richtung einer modernen Wirtschaftsstruktur völlig umgebaut werden. Unter den Ökonom:innen wird die zweitgenannte Richtung klar präferiert, auch wenn sie sich der Schwierigkeiten bewusst sind. Aber auch die Fortschreibung der Rohstoffzentriertheit würde sehr weitrechende Veränderungen erzwingen. Genau hier liegt der Kern der gegenwärtigen Krise – es geht nicht um abstrakte Großmachtgelüste oder Werte, das ist der ideologische Mantel. Es geht um die Frage, wie die Präsidentschaftswahlen 2024 und die Parlamentswahlen 2026 in einen Rahmen gestellt werden können, der das Fortbestehen der gegebenen Herrschaftsverhältnisse des russischen, oligarchisch-patriarchalen Kapitalismus sichert. Die gegenwärtige mobilisierende Wirtschaftspolitik ist auf die Stabilisierung der russische Spielart eines global verflochtenen staatsmonopolistischen finanzgetriebenen Kapitalismus gerichtet – wenn auch mit Schwerpunkt im nicht-westlichen Teil der Welt. Das Imperium ist Mittel, nicht Zweck.

Geschrieben von:

Lutz Brangsch

Ökonom

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