Wirtschaft
anders denken.

Eine Krise, die Europa als Ganzes betrifft

31.08.2020
CoronaPixabay

Für eine öffentliche, solidarische und europäische Gesundheitsstrategie nicht nur in Zeiten von (Corona-)Pandemien. Ein Gastbeitrag von Lukas Hochscheidt und Susanne Wixforth in OXI 08/2020.

Fehlende Beatmungsgeräte, überlastete Krankenhäuser, Lieferengpässe bei Schutzmasken und zu wenige Test-Kits – in der Corona-Krise brach ein System zusammen, das in vielen europäischen Ländern schon im Normalbetrieb vor dem Kollaps stand. In Griechenland wurden im Zuge der Troika-Sparpolitik die öffentlichen Gesundheitsausgaben zwischen 2009 und 2016 halbiert. Ergebnis: 13.000 Ärzt*innen und 26.000 weitere Gesundheitsarbeiter*innen wurden aus dem Dienst entlassen, fast die Hälfte der Krankenhäuser musste schließen. In Deutschland hat die Privatisierung der Krankenhäuser dazu geführt, dass nur noch rund 20 Prozent der Kliniken eine gesicherte Investitionsfinanzierung durch öffentliche Mittel vorweisen.

Diese drastischen Einschnitte in einem der sensibelsten Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge rächen sich in der Corona-Krise auf das Bitterste. Eine Studie, die sich mit den Folgen jahrzehntelanger Austeritätspolitik für die Gesundheitsversorgung in Italien beschäftigt, kam jüngst zu dem Ergebnis, dass »[…] die einseitige Fokussierung auf fiskalische Restriktionen und Schuldenabbau dem italienischen Gesundheitssektor einen wesentlichen Teil seiner Kapazität entzogen [hat] – und die italienische Bevölkerung zahlt derzeit den Preis […]«. Vor allem bei den für die Behandlung von Corona-Patient*innen so wichtigen Krankenhauskapazitäten hatte die Sparpolitik verheerende Folgen: In Italien kamen 2017 nur mehr 2,6 Akutbetten auf 1.000 Einwohner*innen – 1990 waren es noch 7. Im EU-weiten Durchschnitt ist die Zahl der Intensiv- und Notfallbetten zwischen 2004 und 2014 um 11 Prozent gesunken.

Dass die öffentlichen Gesundheitssysteme in weiten Teilen der EU in einem desolaten Zustand sind, kommt nicht von ungefähr. Die politisch forcierte Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge in Europa hat auch vor der Gesundheitsversorgung nicht haltgemacht, und das nicht nur in den von der Troika zu Liberalisierung und Austerität gezwungenen Ländern. Auch in den übrigen Mitgliedsstaaten zog sich der Staat seit den 2000er Jahren immer mehr aus der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe Gesundheit zurück. So entstand vielerorts ein unsolidarisches System, in dem private Ausgaben einen immer größeren Teil der Gesundheitskosten abdecken müssen. 2017 machten private Selbstzahlungen in Bulgarien 46,5 Prozent der nationalen Gesundheitsausgaben aus, in Zypern 44,6 Prozent. In Deutschland rechnet die Bundesärztekammer damit, dass der Anteil der Privatfinanzierung von aktuell 12 auf bis zu 30 Prozent steigen wird. Die Konsequenzen dieser Privatisierungspolitik sind dramatisch: Wie aktuelle Studien zeigen, besteht ein klarer Zusammenhang zwischen dem Anteil privater Zahlungen an den Gesundheitsausgaben eines Landes und der Zahl der Corona-Toten dort. So führt ein zehnprozentiger Anstieg der Selbstzahlungen im Gesundheitssystem zu 6,91 Prozent mehr Todesfällen durch Covid-19.

Was in diesen liberalisierten Systemen gilt, ist das Gesetz des Marktes – in seiner schlimmsten Form: Gesundheit wird zur Ware, die für jene reserviert ist, die sie sich leisten können. Arme und armutsgefährdete Menschen waren schon vor Covid-19 strukturell höheren Gesundheitsrisiken ausgesetzt als wohlhabende Gesellschaftsgruppen. Auch das Corona-Virus trifft nicht alle gleich, sondern fordert in sozial benachteiligten Gruppen deutlich mehr Opfer als in der gehobenen Mittel- und Oberschicht.

Bei einer globalen Pandemie wie der Corona-Krise ist der fehlende Zugang zu Gesundheitsleistungen jedoch kein persönliches Problem der unmittelbar Betroffenen mehr, sondern ein zivilisatorisches Risiko für die gesamte Gesellschaft. Selbst wenn eine universelle Notversorgung für alle Bürger*innen politisch versprochen wird, ist das Problem nicht gelöst: Wie soll eine flächendeckende und ausreichende Versorgung im Krisenfall finanziert werden, wenn über Jahre hinweg dringend notwendige Investitionen in öffentliche Strukturen zurückgestellt wurden, während die Gewinne in die Taschen privater Gesundheitsunternehmer*innen gewandert sind?

Sanitäre und wirtschaftliche Krisen werden so zu kommunizierenden Röhren: Der medizinische Notstand führt Volkswirtschaften in eine Rezession, die die Kaufkraft der privaten Haushalte senkt und mit ihr die Liquidität der nationalen Gesundheitsversorgung, da diese in manchen Ländern fast zur Hälfte auf Privatzahlungen beruht. Kollabiert das Gesundheitssystem, so nimmt die Rezession weiter Fahrt auf – ein Teufelskreis. Um solche Krisen zu vermeiden, muss unser Gesundheitssystem grundsätzlich drei Kriterien erfüllen: Es muss öffentlich zugänglich, für alle leistbar sowie solidarisch und solide finanziert sein. Wenn die Corona-Krise ein Gutes haben sollte, dann dass diese Erkenntnis auch die politischen Entscheidungsträger*innen in den Mitgliedsstaaten erreicht.

Angesichts der globalen Dimension der Krise und der gravierenden Folgen, die Grenzschließungen und fehlende Solidarität für die Zukunft der EU haben, muss die politische Antwort auf die Covid-19-Pandemie eine europäische sein.

Als erstes konkretes Projekt einer gemeinschaftlichen Gesundheitspolitik könnten vorhandene Strukturen besser genutzt werden: Die Europäische Arzneimittelagentur sollte in Kooperation mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten mit der Aufgabe betraut werden, in medizinischen Krisen Versorgungsengpässe zu verhindern: Mithilfe einer neuen Beschaffungskompetenz könnte die EU medizinische Ausrüstung erwerben und diese an Kompetenzzentren in den Mitgliedsstaaten – wie Apotheken und Krankenhäuser – weiterverteilen. Der globale Überbietungswettbewerb und Hamsterkäufe durch einzelne Mitgliedsstaaten, die zu Versorgungsengpässen bei anderen führen, würden somit verhindert.

Das blinde Vertrauen auf die »unsichtbare Hand des Marktes«, der bisher die alleinige Verteilungskompetenz zugeschrieben wurde, hat aber noch eine andere Fehlentwicklung verdeutlicht: In der EU fehlt eine strategische medizinische Grundausstattung. Die europäische Pharmaindustrie hat sich durch Outsourcing in eine ungesunde Abhängigkeit von Arzneimittelgrundstoffen und Gesundheitsausrüstung aus Drittstaaten gebracht. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, sollte auf europäischer Ebene die Kapitalverkehrsfreiheit bei feindlichen Übernahmen eingeschränkt werden. Bei strategisch wichtigen Unternehmen, wie etwa CureVac, das auf gutem Wege ist, ein Gegenmittel bzw. einen Impfstoff gegen Covid-19 zu entwickeln, sollte rasch eine entsprechende Strategie entwickelt werden, die Investitionen in Forschung und Entwicklung innerhalb der EU hält und fördert.

Dass in Sachen strategische Gesundheitsinfrastruktur und krisenfestere Gesundheitswesen auch auf europäischer Ebene ein Umdenken einsetzt, hat zuletzt der deutsch-französische Vorstoß von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron bewiesen, der sich stark für mehr europäische Zusammenarbeit in diesem Feld ausspricht. Auch die Europäische Kommission hat Vorschläge zur europäischen Gesundheitsunion in ihr Recovery-Paket aufgenommen.

Das mikroskopisch kleine Sars-CoV-2 zeigt: Die Europäische Union kann sich einen Ausverkauf der nationalen Gesundheitswesen nicht leisten. Wo die Gesundheit und Sicherheit aller Europäer*innen betroffen sind, müssen die Mitgliedsstaaten gemeinsam handeln – denn eine Krise, die Europa als Ganzes betrifft, kann kein Land im Alleingang lösen.

Wer die Gesundheitspolitik bisher als neutrales Terrain betrachtet hat, auf dem sich Wissenschaftler*innen mit Expertisen überbieten und ideologische Differenzen keine Rolle spielen, wurde in den letzten Monaten Lügen gestraft. Die Corona-Krise zeigt: Unsere Gesundheit ist eine politische Angelegenheit. Betrachten wir Krankenhäuser als Unternehmen und Ärzt*innen als Dienstleister*innen? Überlassen wir die Regulierung der Gesundheitssysteme der »unsichtbaren Hand des Marktes«? Diese Fragen gilt es nach der Pandemie mit all ihrer Dringlichkeit zu stellen. Und europäisch zu beantworten.

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