Wirtschaft
anders denken.

Wann ist Krise, und wenn ja, wie viele?

28.09.2023
Foto: Flickr Von der Midlife-Crisis bis zur Corona-Krise bestimmen Krisen begrifflich und tatsächlich unseren Alltag.

Nur wenn die Profitmaximierung in Gefahr gerät, besteht die Bereitschaft, etwas als Krise anzuerkennen

Es gibt in unserer Gesellschaft viele Missstände, und häufig wird von »Krise« geredet. Die Corona-Krise liegt noch nicht lange zurück, davor beherrschten Hypotheken-, Finanzkrise und Euro-Staatsschuldenkrise die Berichterstattung, und die Klimakrise ist ein Dauerthema. In die 1990er Jahre fielen zahlreiche Krisen des Globalen Südens: Mexiko-, Asien-, Brasilien-, Russlandkrise. Der Begriff »Krise« taucht zwar häufig auf, jedoch wird er nicht wahllos verwendet. Nicht jedes Problem gilt als Krise, selbst wenn es dauerhaft und schwerwiegend ist und zahlreiche Menschen betrifft.

So wurde die globale Erwärmung lange nicht als Krise bezeichnet. Ebenso wenig in jüngster Zeit die Zahlungsunfähigkeit einiger afrikanischer Staaten. Dass jedes Jahr Millionen Menschen an Hunger oder vermeidbaren Krankheiten sterben, wird nicht als Krise behandelt. Auch nicht die Tatsache, dass selbst in reichen Ökonomien Millionen Menschen arm sind, ohne Arbeit und ohne Wohnung. Hierbei handelt es sich nach geltender Auslegung lediglich um Probleme oder Herausforderungen.

Zur Krise werden Missstände erst, wenn sie zu einer Störung in der Maschine der progressiv steigenden Profite führen. Nur wenn die Verwertung des Kapitals ins Stocken gerät, liegt in unserer Gesellschaft auch eine echte Krise vor, die Regierende mit allen Mitteln abzuwenden versuchen. Dass Menschen sterben, die Erde brennt, Staaten zerfallen, wird erst zur Krise, wenn der Erfolg des einheimischen Kapitals grundsätzlich bedroht ist.

Dass das Elend von Millionen Menschen an sich für das Funktionieren des Kapitalismus kein unmittelbares Problem darstellt, ist aus vielen Perspektiven verwerflich, in der kapitalistischen Logik allerdings folgerichtig. Denn wenn Profitmaximierung gesamtgesellschaftlich als das erste anzustrebende Ziel gilt, dann wird an ihm alles andere gemessen und ihm untergeordnet – inklusive Menschen und Natur.

Menschen: Entgegen verbreiteter Erzählungen ist das Ziel von Unternehmen nicht, Arbeitsplätze für die Menschen zur Verfügung zu stellen, um ihnen ein Einkommen und erfüllte Konsumwünsche zu verschaffen. Umgekehrt: Menschen finden nur dann Arbeit und Einkommen, wenn das Unternehmen davon ausgehen kann, dass die Einstellung und die Arbeit dieser Menschen der Kapitalrendite dienen. Können Maschinen besser und billiger als Menschen produzieren, werden sie bevorzugt, ohne Rücksicht auf steigende Arbeitslosigkeit oder sonstige negative Auswirkungen auf die Menschen. Gelten woanders auf der Welt schlechtere und deswegen profitablere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne für die Arbeiter:innen, dann wird die Produktion dahin verlagert, wo es den Arbeitskräften schlechter geht.

Natur: Auch die Nutzung der Rohstoffe richtet sich im Kapitalismus nicht danach, was der Planet vertragen kann oder was für ihn oder die ihn bewohnenden Menschen gut oder zumindest besser wäre. Welche Konsequenzen zum Beispiel Ölförderung und Bergbau für die Umwelt haben, kümmert die Unternehmen nicht. Das Kapital besorgt sich unabhängig von solchen Konsequenzen die Rohstoffe, die es für die Produktion braucht, und zwar dort, wo sie am billigsten sind. Und müssen dafür Wälder verschwinden, dann geht das in Ordnung, wenn und solange es sich lohnt.

In einem System, das in erster Linie die Profitmaximierung verfolgt, sind sowohl die Menschen – in Gestalt von Arbeitskräften – als auch der Planet – in Form von Bodenschätzen und als Abfalldeponie – lediglich Mittel dafür, immer mehr Profit zu erzielen. Dass beide – Mensch und Natur – unter diesen Umständen unter die Räder kommen, ist kein Zufall und stellt an sich auch noch keine Krise dar, die angegangen werden muss.

Um zur Krise aufzusteigen und damit von den hiesigen Regierungen entschieden bekämpft zu werden, muss die Armut der Menschen oder die Erwärmung des Planeten erst zu einer Bedrohung für die Verwertung von Menschen und Planet werden. Erst wenn Kosten steigen und die Wettbewerbsfähigkeit leidet, wird Alarm geschlagen. Ein Beispiel dafür ist die Wohnungslosigkeit in den USA. In »normalen« Zeiten gilt sie als soziales Problem. Während der US-Hypothekenkrise ab dem Jahr 2008 jedoch wurden zahllose Berichte und Reportagen über Familien gesendet, die plötzlich auf der Straße landeten, weil sie ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten und die Bank ihr Haus pfändete. Aufmerksamkeit bekamen die Wohnungslosen damals als Symbol für eine – nicht nur auf die USA beschränkte – Kredit- und Bankenkrise, die das Weltfinanzsystem bedrohte. Seitdem diese Krise abgewendet worden ist, ist die Obdachlosigkeit in den USA wieder eine Aufgabe für karitative Einrichtungen. Aber keine Krise mehr.

Nur Prozesse, die aus Sicht einer gelungenen Kapitalverwertung eine Krise darstellen, werden also ernsthaft angegangen – allerdings nur so entschieden und so lange, wie die Anti-Krisen-Maßnahmen die Profitmaximierung nicht beeinträchtigen. Denn wenn als Krise immer nur eine Verwertungskrise gilt, dann darf das Bekämpfen dieser Verwertungskrise selbstverständlich die Verwertung selbst weder beeinträchtigen noch in Frage stellen. Am besten stellen sich selbst die Maßnahmen gegen die Krise als kapitalistisch profitable Investitionen dar. Das gesamtgesellschaftliche Ziel der Profitmaximierung entscheidet also nicht nur darüber, welche Missstände unserer Gesellschaft überhaupt entschieden angegangen werden, sondern auch darüber, welche Mittel dafür genutzt werden und in welchem Ausmaß das alles geschieht.

Das zeigt auch das Beispiel der Klimakatastrophe. Einerseits scheint sie den Status einer »anerkannten Krise« erreicht zu haben. Anderseits verfolgen die Maßnahmen gegen den Klimawandel gar nicht allein das Ziel, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre um jeden Preis zu senken. Vielmehr handelt es sich um Interventionen, die gleichzeitig das kapitalistische Wachstum fördern sollen. Grün ja, aber immer noch Kapitalismus.

Teurer Klimawandel: Anerkannt als Krise ist die Klimakatastrophe, weil sie kapitalistisch gesehen Kosten verursacht und somit die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Standorten gefährden kann. Wie Ursula von der Leyen in ihrer Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2023 sagte, hat »nicht nur unser Energiesystem […] einen Wendepunkt erreicht, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer gesamten Wirtschaft muss aufrechterhalten werden«. Und, so von der Leyen weiter, »der Klimawandel [ist] bereits mit enormen Kosten verbunden, und wir dürfen beim Übergang zu einer sauberen Wirtschaft keine Zeit mehr verlieren«.

Es wurde bereits vielfach versucht, auszurechnen, wie hoch die Kosten des Klimawandels ausfallen werden. Berühmtheit erlangte die Kalkulation des Ex-Weltbank-Vizepräsidenten Nicholas Stern, laut der drei Prozent der globalen Produktionsleistung dauerhaft verloren gingen, wenn die globale Durchschnittstemperatur um zwei bis drei Grad Celsius steige. Bei einer Erwärmung um fünf bis sechs Grad Celsius könne der Verlust sogar durchschnittlich bis zu zehn Prozent betragen. Klimaschutz wäre laut Stern billiger: Circa ein Prozent des BIP bis 2050 würde er kosten. »Dies ist signifikant, steht aber völlig im Einklang mit fortgesetztem Wachstum, im Gegensatz zu einem ungebremsten Klimawandel, der das Wachstum irgendwann erheblich bedrohen wird«, heißt es im Stern-Report.

Profitabler Klimaschutz: Der Klimawandel gilt nun als Krise, da er das Wachstum bedroht, weswegen seine Bekämpfung zwingend erscheint. Ein Klimaschutz wiederum, der »im Einklang mit fortgesetztem Wachstum« steht, kann sich nur bestimmter Maßnahmen bedienen und wird selbst zu einem kapitalistischen Programm, das in Konkurrenz zu anderen Programmen steht. Der europäische »Green Deal« soll genau das sein: ein Wachstumsprogramm, bei dem saubere Technologien im Zentrum stehen und das sich in Abgrenzung und Konkurrenz zu ähnlichen Investitionsprogrammen aus den USA und China definiert. Teil des Green Deal ist zum Beispiel ein Industrieplan, der laut von der Leyen die Antwort auf den »Inflation Reduction Act« der USA darstellt. »Der Weg hin zur Klimaneutralität bedeutet die Entwicklung und Nutzung einer ganzen Reihe neuer sauberer Technologien in der gesamten Wirtschaft«, sagte von der Leyen in Davos. »Und diejenigen, die die Technologien entwickeln und herstellen, die das Fundament der Wirtschaft von morgen bilden, werden den größten Wettbewerbsvorteil haben.«

Klimaneutralität als gewinnbringendes Geschäft also, das uns die Möglichkeit bietet, andere Konkurrenten abzuhängen. Suggeriert wird eine Art Quadratur des Kreises: Mit unseren Maßnahmen – in diesem Fall Investitionen – retten wir den Planeten und gewinnen den Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt. Nach »Reich und Schön« also »Reich und Nachhaltig«.

Ob Europa den Konkurrenzkampf gegen andere Standorte gewinnt und tatsächlich »führend« in Sachen saubere Technologien wird, ist alles andere als ausgemacht. Das wird die Konkurrenz entscheiden. Ebenso wenig ausgemacht ist, ob die globale Erwärmung mit solchen Maßnahmen ausreichend gebremst werden kann – ob also ein kapitalismuskompatibler Klimaschutz ausreichend ist, um den Planeten zu retten. Derzeit sieht es nicht so aus.

Was aber sicher ist: Die Rettung des Planeten ist nicht das primäre Ziel, das die gewaltigen grünen Investitionsprogramme der USA, Europas und anderer Standorte erreichen sollen. Wäre dies der Fall, würden sie sich über die Initiative der jeweils anderen freuen, anstatt Gegenantworten und Konkurrenzprogramme auf die Beine zu stellen. Das primäre Ziel bleibt der kapitalistische Erfolg. Saubere Technologien gelten daher nicht als an sich gut, sondern stellen in erster Linie einen wachsenden Investitionssektor dar, um den die Standorte konkurrieren. Wenn am Ende dank solcher saubereren Technologien auch der Klimawandel ausreichend gebremst wird, dann wird das lediglich ein Zufall sein, ein Abfallprodukt kapitalistischer »nachhaltiger« Wachstumsprogramme.

Dass dieser Zufall eintreten wird, daran wachsen die Zweifel, und zwar nicht nur im Kreis von Umweltschützer:innen oder Klimakleber:innen. Thieß Petersen, Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung, berechnet, bezogen auf Deutschland, wie schnell die Emissionen bei steigendem Wachstum sinken sollten, damit wir tatsächlich von Entkopplung und Klimaneutralität sprechen können. Sein Fazit in der Ökonomie-Zeitschrift »Wirtschaftsdienst« lautet: »Das bisherige Tempo der Entkopplung reicht keinesfalls aus, um bis 2045 das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.«

Solange also gesamtgesellschaftlich am Ziel der Profitmaximierung festgehalten wird, gelten nur solche Katastrophen als »Krise«, die die Profitmaximierung gefährden. Und so lange werden Krisen auch nur in dem Maße und auf die Weise bekämpft, wie es der Profitmaximierung dient. Im Fall der Klimakatastrophe müssen wir uns also darauf gefasst machen, dass Menschen und Natur fortschreitend unter die Räder kommen. »Die kapitalistische Produktion« – schrieb Marx im ersten Band des »Kapitals« – »entwickelt […] nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«

Geschrieben von:

Antonella Muzzupappa

Referentin Rosa-Luxemburg-Stiftung

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