Schlägt der Neoliberalismus zurück?
Über den Strukturwandel der Politik im Krisenzeitalter. Eintrag im »Tagebuch des Umbruchs«.
Niemand kann heute zuverlässig vorhersehen, wie es in zehn, fünf oder auch nur zwei Jahren um die Welt(un)ordnung, den globalen ›Westen‹ und die Bundesrepublik stehen wird. In der Politik bleibt einem aber nichts übrig, als es dennoch zu versuchen. Hier soll versucht werden, die wesentlichen politischen Konfliktfelder der nächsten Jahre zu charakterisieren und (sicherlich grob) darzulegen, welche Anliegen und Themen Gegenstand politischer Auseinandersetzungen sein werden. Zu den wichtigsten Fragen für die politische Linke gehört, inwieweit noch mit dem Neoliberalismus zu rechnen ist, dem Feindbild linker Politik der vergangenen vierzig Jahre schlechthin.
Idealtypisch gesehen ist Politik immer getrieben entweder von eigensinnig gestiftete Anliegen, etwa denjenigen, die sich aus den auf ›ismus‹ endenden politischen Grundüberzeugungen ableiten lassen. Durch die Brille von Konservatismus, (Rechts- oder Links)Liberalismus oder Sozialismus wird die Welt beobachtet und werden Ausschnitte davon problematisiert und für lösungsdüftig gehalten. Oder aber Politik wird getrieben von der Reaktion auf Entwicklungen, die sich entweder inner- oder außergesellschaftlich unabhängig vom Willen der Menschen ergeben, die Wahrnehmungsschwelle überschreiten und Problemdruck erzeugen. In der Realität sind die Konstellationen schwer zu unterscheiden, denn das knifflige Probleme ist des Einen ist die günstige Gelegenheit des Anderen. Dabei gehen die krisenhaften Probleme der vergangenen Jahre und der Gegenwart ans Eingemachte. Sie betreffen nicht nur einzelne gesellschaftliche Sektoren, nicht nur isolierbare Personengruppen und nicht nur Ausschnitte der Weltwirtschaft. Vielmehr machen sie das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft selbst wieder zum Thema, bewirken eine Neubestimmung der Position gesellschaftlicher Gruppen gegeneinander und eine Neubestimmung der Politik überhaupt gegenüber Individuen, sozialen Gruppen und der Gesellschaft. Dies wird deutlich anhand neuer Kategorien wie »Systemrelevanz« unter Corona oder den Priorisierungen im »Notfallplan Gas«.
Neoliberalismus im Rückwärtsgang
Wir können uns die derzeitige Konstellation modellhaft erschließen (siehe Schaubild). Die neoliberale Phase hatte drei Folgen: Erstens hat sie soziale Rechte und Besitzstände reduziert, man denke an kürzeres Arbeitslosengeld oder niedrigere gesetzliche Rentenansprüche. Zweitens hat sie die Reichweite demokratischer Entscheidungen eingeengt, etwa durch unabhängige Zentralbanken, Freihandelsabkommen oder Schuldenbremsen. Drittens hat sie die Menge an Problemen reduziert, bei denen eine Lösung vom Staat erwartet wird und die dieser nach mehreren Zyklen von Privatisierung sowie Verschlankung des öffentlichen Dienstes noch zuverlässig lösen kann. Damit wurde einerseits der ›Sockel‹ abgesenkt, von dem aus Individuen, sei es als Staatsbürger, sei es als Arbeitskräfte, ihre Anliegen und Ansprüche formulieren können. Zugleich wurde durch neoliberal inspirierte transnationale Abkommen, Verfassungsartikel und EU-Verträge eine ›Decke‹ eingezogen, von der aus Anliegen und Ansprüche abgewehrt oder nach unten gedrückt werden können. Sockel und Decke bilden somit einen nach unten verschobenen Korridor, in dem sich die Politik in der Gegenwart im Wesentlichen abspielt. Allerdings wurden auch unterm Neoliberalismus die meisten Leute nicht zum ›unternehmerischen Selbst‹ konvertiert, sondern bewegten, wenn auch in reduziertem Umfang, als Wähler, Parteimitglieder, sozial Bewegte oder anders an der Öffentlichkeit Teilnehmende noch immer bisweilen die Politik in Richtungen, die nicht per se im Vorhinein auf Übereinstimmung mit einem Maximum an neoliberalen Inhalten orientiert war. Landes- und zeitgebunden ergaben sich politische Beschlüsse somit jeweils aus einem Kräfteverhältnis (im Schaubild: KV) zwischen kollektiven Anliegen und Ansprüchen auf der einen und neoliberaler Konstitutionalisierung auf der anderen Seite. Die hellen Pfeile wiederum markieren den bisherigen und in gestrichelter Form den möglichen Entwicklungspfad der Politik, nachdem die Krisen die Kräfteverhältnisse verändert haben.
Die Krisenzyklen der vergangenen Jahre hatten unterm Strich zum Ergebnis, das Kräfteverhältnis zulasten neoliberaler Politik zu verschieben. Neoliberale Politik wurde zurückgedrängt durch Konjunkturprogramme, zaghafte Re-Regulierung von Arbeits- und Finanzmärkten, Wiederherstellung beschädigter oder Schaffung neuer sozialer Rechte. Das Ausmaß der krisenauslösenden Probleme war groß genug, wieder einen Prozess der der Re-Politisierung sozialer Fragen anzustoßen. Mittlerweile berühren sie alle Instanzen, in die neoliberale Politik sich vorgearbeitet hatte und die sie noch weitergehender umzugestalten gedachte. Von der allgemeinsten zur konkretesten Instanz absteigend können wir mitunter beträchtliche hegemoniepolitische Verschiebungen beobachten.
Im Hinblick auf das Selbstbild der Gesellschaft sind die Verschiebungen beträchtlich. Der bekannte Ausspruch Margaret Thatchers, es gebe keine Gesellschaft, sondern nur Individuen und ihre Familien, würde heute von einer überwältigenden Mehrheit zurückgewiesen. Denn der wohl wichtigste und unausweichliche Hegemonieffekt der Erschütterungen besteht in der breit verankerten Einsicht, dass es sich um gesellschaftliche Verhältnisse handelt und dass ihre Probleme gesellschaftlich plausibel und politisch zu bearbeiten sind. Die drei Herausforderungen aus Corona, Energieknappheit/Inflation und Klimawandel sind nicht nur über Marktmechanismen zu lösen und verlangen, die Freiheit von Unternehmen und Individuen politisch einzuschränken. Auch haben alle drei Herausforderungen die Frage sozialer Ungleichheit mit Wucht auf die politische Tagesordnung gesetzt. Die nach sozialem Status, Stellenbeschreibung des Arbeitsplatzes und Ausstattung der Wohnung unterschiedliche Verwundbarkeit durch Covid-19-Erkrankung, klimaschutzbedingten Jobverlust oder unbezahlbare Gasrechnung verdeutlicht: Ungleiches muss ungleich behandelt werden. Ähnliches gilt für die Fragen der Staatsaufgaben und Staatskapazitäten. Einem gängigen Missverständnis entgegen verlangt der Neoliberalismus keinen impotenten Minimalstaat. Wohl aber sollen staatliche Interventionen lediglich den Rahmen für einzelwirtschaftliches Handeln setzen, das im Folgenden ohne weitere staatliche Intervention zu einer optimalen geldvermittelten Allokation von Faktoren und Distribution von Gütern führen soll. Mit staatlicher Beschränkung auf Rahmensetzung war unter Corona bereits Schluss. Staatliche Instanzen mussten beträchtliche Kapazitäten zum Einsatz bringen, um die Verbreitung des Corona-Virus zu verhindern, von den Lockdowns ökonomisch Betroffene zu unterstützen sowie Ressourcen für das Gesundheitswesen und die Impfungen zu mobilisieren. Auch die Energie- und Inflationsproblematik wird mit fallweiser, diskretionärer Politik beantwortet. Es kursieren nicht nur Verhaltensappelle an die Bevölkerung durch Wirtschaftsminister Habeck, sondern in Teilen der ökonomischen Zunft ist ein Gaspreisdeckel hoffähig geworden.
Eine Abkehr vom neoliberalen Ideal hat es auch gegeben hinsichtlich der Art und Weise, wie Expertise der Gesellschaft gegenübertritt und auf politische Steuerung einwirkt. Im neoliberalen Sinne wird der Raum für diskretionäre Politik möglichst eng eingezäunt durch sog. nicht-majoritäre Institutionen wie unabhängige Zentralbanken, starke Verfassungsgerichte und Schiedsgerichte, die abgeschirmt vom politischen Mehrheitswillen agieren können. Diesem Ansatz korrespondiert eine intransparente, entpolitisierte und technokratische Regierungsweise. Unter dem Eindruck der Erschütterungen der vergangenen Jahre wurden jedoch zum einen nicht-majoritäre Institutionen stärker unter eine kritische Lupe genommen – man erinnere sich an die öffentliche Kritik an der Eurorettung durch die Troika oder an den Corona-Auflagen der Ministerpräsidentenkonferenz oder daran, wie sich in der Frage des Klimawandels und der Covid-19-Pandemie eine ungekannte Sichtbarkeit und Politisierung wissenschaftlicher Expertise vollzog. Zum anderen haben Institutionen wie der Europäische Gerichtshof und die Europäische Zentralbank auch einen Kurswechsel vollzogen: weg von ihrer wirtschaftsliberalen Schlagseite und hin zu einer Berücksichtigung von politischen Machtverhältnissen und sozialen Lebenslagen. Unter dem Eindruck der wiederholten Ausnahmezustände bewegte sich die Politik ein erhebliches Stück in Richtung weg von neoliberal inspirierter Technokratie hin zu einer Politik, die ihre bisherigen sozialen und territorialen Grenzen überschreitet und ausdehnt.
Eine Abkehr von neoliberalen Deutungsmustern und Verhaltenserwartungen gab es auch gegenüber organisierten Interessen. Gewerkschaften etwa sind Neoliberalen ein Dorn im Auge, weil sie Löhne über dem Gleichgewichtspreis durchsetzen und die Räumung des Arbeitsmarktes verhindern würden, sprich schuld seien an der Arbeitslosigkeit. Mit Behauptungen dieser Art wäre allerdings heute nirgends mehr ein Blumentopf zu gewinnen. Der aktuelle Unterhang des Arbeitskraftangebots ist das Gegenteil von Arbeitslosigkeit. Zweifelsohne ist die Arbeitsmarktlage kein autonomes Resultat, sondern immer auch eine Funktion des Güter- und Vermögensmarktes. Dennoch liegt es auf der Hand, dass die von neoliberaler Seite geforderten Lohnsenkungen den Unterhang des Arbeitskraftangebots eher verstärken als reduzieren würden. Hinzu kommt: Dass auch geringer qualifizierte Tätigkeiten während der Pandemie als ›systemrelevant‹ erkannt wurden, hat die dortigen niedrigen Löhne diskreditiert. Auch zeugt die Neuauflage der ›Konzertierten Aktion‹ davon, dass die Politik nicht erwartet, ohne Abstimmung mit verbandlich organisierten Interessen hinreichende Steuerungsfähigkeit zur Bewältigung der Herausforderungen zu erlangen. Schließlich kehrte sich für alle sichtbar das Verhältnis von Politik und alltäglicher Lebensführungum. Grassierte in Vorkrisen-Zeiten noch die Vorstellung, man müsse einen politikfreien Alltag eher vor zusätzlicher Regulierung verteidigen, wurde und wird unter dem Eindruck der Covid-19-Pandemie, der Energie- und Inflationsproblematik sowie durch die Klimafrage unübersehbar, wie stark unser Alltag von Randbedingungen abhängig ist, die nur durch politische Ordnungsgestaltung und Intervention sicherzustellen sind.
Die Neuzeichnung der Kräfteverhältnisse
Mit den Absetzbewegungen vom Neoliberalismus in den letzten Jahren sind wir noch lange nicht ans Ende der Fahnenstange gelangt. Allen Absetzbewegungen war gemein, auf dem Sockel sozialer Rechte aufsetzend das politische Kräfteverhältnis zulasten des Neoliberalismus zu verschieben. Dies geschah allerdings nicht in erster Linie durch ›systemsprengende Bedürfnisdefinitionen‹, wie sie in den 1970er Jahren erwartet wurden, sondern aus dem konsensfähigen Impuls in der Politik, sowohl für maßgebliche Wählergruppen den sozialen Statuserhalt zu sichern und ein Aufbrechen von Verteilungskonflikten zu vermeiden, als auch den gesamtkapitalistischen Betrieb durch Problembewältigung zu stabilisieren. Etwas sarkastisch zugespitzt: Nicht Marxismus, sondern Merkelismus war die Antriebsfeder der Politik vergangener Jahre. Die Bedrängnis des Neoliberalismus ist insofern strukturell, als hinter dieser Politik der vergangenen Jahre eine breite politische Basis steht, die faktisch von (Teilen der) Linkspartei über die Parteien der Ampelkoalition und die Unionsparteien bis hin zum Rand der AfD reicht. Dass Linkspartei und AfD zuletzt wahlpolitisch empfindlich Federn lassen mussten, geht nicht allein, aber doch nicht zuletzt auf deren mangelnde Identifikation mit eben jener Problembewältigungsfähigkeit zurück, welche die Politik notgedrungen an den Tag legen musste und die von ihr auch erwartet wurde. Dabei ging es zunächst nur darum, den Laden bestmöglich am Laufen zu halten, von emanzipatorischen Sprüngen nach vorne war dabei wenig die Rede. Für die kommenden Jahre, so meine These, lässt sich eine Zunahme des Konfliktpotentials absehen, weil die Erwartung der Bevölkerung an krisenfeste, resiliente Lösungen in Konflikt geraten wird mit der ideologischen Massenansprache, die dem Neoliberalismus in der Vergangenheit zum Erfolg verholfen hatte, wie zu erläutern sein wird.
Dabei widme ich mich zunächst den krisen- und bereichsübergreifenden Anforderungen an die Problemlösungsfähigkeit der Politik. Diese Anforderungen nehmen in der Bevölkerung zumeist die Form diffuser Erwartungen an, die erst im Moment ihrer Enttäuschung zum Politikum werden: Wenn »die Politik« bei der Bewältigung einer Krisensituation zu versagen scheint, wird man wissen wollen, »wer schuld hat« und »wer es hätte besser wissen können«. Allerdings wird es, wie es auch durch den Sachverständigenrat zur Bewertung der bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen mitgeteilt wurde, in Zukunft mehr konkrete Erfolgskriterien geben, an denen sich die Politik messen lassen muss, wenn sie der Bevölkerung Lockdowns oder Gasumlagen auferlegt. Was von der Politik also verlangt werden wird, ist kollektive oder gesellschaftlich-politische Resilienz. Gemeint ist die Inpflichtnahme der Politik, demokratisch und unter Beachtung sozialer Gerechtigkeit krisenfeste Problemlösungskapazitäten vorzuhalten. Vor allem lässt sich daran auch politisch die Erwartung heften, nicht nur oberflächlich den Problemdruck abzufedern, sondern Dinge grundlegend anzugehen. Hierzu gehört etwa die Gewährleistung von Versorgungssicherheit, die »nicht durch die bloß negatorische Abwehr von Gefahren hergestellt werden (kann). Versorgungssicherheit im Sinne der Bereitstellung von störungsfreien Produktions- und Verteilungskapazitäten verlangt die aktive und planvolle Gestaltung eines komplexen sozio-technischen Bedingungsgeflechtes, in dem technische, ökonomische und rechtliche Elemente vielfältig ineinander verwoben sind« (Ulrich K. Preuß). Erforderlich sind hierfür eine hinreichend schnelle Reaktionsfähigkeit der Politik, eine Auswahl unter verschiedenen Anbietern (von Energie und bestimmten kritischen Endprodukten) sowie eine Umkehrbarkeit einmal eingeschlagener Absprachen und Arbeitsteilungen. All dies erscheint kaum möglich mit öffentlichen Haushalten, die mit der Schuldenbremse ›auf Kante genäht‹ sind. Notwendig ist vielmehr eine ›agile‹ Staatlichkeit mit der Fähigkeit, »sich anzupassen und zu lernen; (…) die öffentlichen Dienste entsprechend der Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger neu zu ordnen; (…) resiliente Produktionssysteme zu steuern; (…) Daten und digitale Plattformen zu steuern«. Hierfür müsste die Politik krisenfeste, resiliente Apparaturen installieren und personell, materiell und finanziell ausreichend ausstatten.
Dem steht jedoch die ideologische Massenansprache des Neoliberalismus entgegen, mit der sie in ihrer Dominanzphase Erfolg hatte, nämlich die Mischung aus Sachzwangrhetorik und dem Argument, politische Interventionen würden Gerechtigkeit nicht erwirken, sondern verhindern. Erinnert sei an die fragwürdige These, die Interessen von Arbeitsplatzbesitzern (›Insidern‹) und Arbeitslosen (›Outsidern‹) würden konfligieren, da auf »den Schutz der Arbeitnehmer ausgerichtete Rechtsregeln am Arbeitsmarkt (..) letztlich zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit (…)« führen würden. Diese Ansprache ist heute hinfällig, nicht nur wegen der Knappheit von Arbeitskräften, sondern weil in der Gesellschaft die Einsicht gewachsen ist, dass die Kapazitätsauslastung privater und öffentlicher Unternehmen vom staatlichen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage abhängig ist. Ebenso aussichtslos erscheint heute die Berufung auf den Alleskleber-Begriff der ›Eigenverantwortung‹, der dazu genutzt wurde, Ansprüche der Individuen an eine Politik für soziale Sicherung und hohe Beschäftigung mit dem Argument zurückzuweisen, die Individuen selbst mögen sich hierfür entsprechend anstrengen. Der Verweis auf ›Eigenverantwortung‹ beruhte in höchster Fragwürdigkeit »auf einer Reihe von begrifflichen Annahmen, darunter die eines räumlich gedachten ›eigenen‹ Wirkungskreises, die prinzipiell nicht erfüllbar sind. Eigenverantwortung ist nur wahrnehmbar durch Eingehen und Erlangen von sozialen und politischen Verbindlichkeiten«. Gerade in sozialen Fragen ist das Versprechen der Eigenverantwortung trügerisch, weil in einer komplexen, arbeitsteiligen und supranational verflochtenen Wirtschaft das eigene Schicksal schlechterdings nicht individuell, sondern nur durch kollektiv verbindliche Verpflichtungen abzusichern ist. Im Lichte der kollektiven Notlage drohender oder bereits eingetretener Energiepreisschocks wirkt der Verweis auf Eigenverantwortung nachgerade absurd. Erübrigt hat sich inzwischen auch der Ruf nach Standortsolidarität. Mit Verweis auf angebliche kostenbedingte Wettbewerbsnachteile wurde Lohnabhängigen jahrelang ein Solidaritätsopfer für den Standort Deutschland und den Abbau der Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung abverlangt – vermeintliche Solidarität durch Lohnzurückhaltung, weniger Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, geringeres Arbeitslosengeld, verschärfte Zumutbarkeitskriterien usw. In einigen Ländern wurden hierzu ausdrückliche ›Standortpakte‹ verabredet. Hier hat sich das Kräfteverhältnis am Arbeitsmarkt umgekehrt, so dass in den letzten Jahren trotz erheblicher Unterschiede zwischen den Sektoren im Ganzen der Bundesrepublik »Lohnanstiege leicht oberhalb des produktivitätsbereinigten 2,0%-Benchmarks« resultierten. Es bleibt als neoliberales Hilfsargument die Anrufung der ›Generationengerechtigkeit‹, die einerseits in Stellung gebracht wird gegen Staatsverschuldung, andererseits für die Zurückdrängung und Privatisierung der gesetzlichen Rente. Hinsichtlich der Frage der Staatsverschuldung ist das Argument bereits stumpfer geworden, hatte sich doch bereits vor der Corona-Pandemie sogar das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft der Forderung angeschlossen, die Schuldenbremse zur Ermöglichung vermehrter öffentlicher Investitionen zumindest abzuändern. Allerdings hält sich trotz gescheiterter Riester-Rente und funktionierender Alternativbeispiele wie in Österreich nach wie vor hartnäckig die Auffassung, eine lebensstandardsichernde gesetzliche Rente sei nicht finanzierbar, so dass fragwürdige Konstrukte wie die ›Aktienrente‹ verfolgt werden.
Auf eine einfachere Formel gebracht, ist der Lack ab bei der Massenansprache, mit der neoliberale Politik ihre Ziele durchsetzen konnte, weil die Leute im Lichte jüngerer Entwicklungen eine krisenfeste Regierung erwarten und die Antikrisenpolitik neoliberalen Postulaten diametral widerspricht. Die Beurteilungsmaßstäbe haben sich verschoben, und mit dem neoliberalen Gerede von alternativlosen Unvermeidlichkeiten und mit den daran gebundenen Gerechtigkeitsvorstellungen mögen sich zunehmend weniger Menschen abfinden.
Wann kommt es zum Schwur?
Neoliberale Politik ist also auf dem Rückzug, aber sie verfügt noch über Rückzugsgebiete, Bastionen und Sicherungen aus der Phase ihrer Dominanz. Man kann hier unterscheiden zwischen absoluten Hürden, die die neoliberale Phase konstitutionell eingezogen hat, und relativen Vorteilen für eine tagesaktuelle neoliberale Politik, die gegen eine offensive und emanzipatorische Ausweitung von Staatsaufgaben und Staatskapazitäten einsetzbar sind. Absolute Hürden sind neoliberale Vorgaben wie die Schuldenbremse, der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der Europäische Fiskalpakt, diverse Handelsabkommen und andere Ausflüsse des ›neoliberalen Konstitutionalismus‹, der ab den 1990er Jahren die damals herrschende ökonomische Doktrin verbindlich, langfristig und bevorzugt mit Verfassungsrang festzuschreiben suchte. Sie treiben den aufzubringenden Preis einer entgegengesetzten Politik ins Unermessliche hoch. Zur Abschaffung der Schuldenbremsen auf Landesebene, auf Bundesebene oder der Änderung der EU-Verträge sind übergroße, lager- bzw. länderübergreifende ›supermajorities‹ nötig, für deren Zustandekommen es kein realistisches Szenario gibt. Ansonsten können diese Vorgaben nur kurzfristig durch Aussetzungen der Schuldenbremse oder mittelfristig durch Hilfskonstruktionen wie Investitionsgesellschaften umgangen werden. Letzteres geschieht allerdings um den Preis einer Entdemokratisierung, weil nicht mehr die gewählten Parlamente für wichtige öffentliche Ausgaben rechenschaftspflichtig sind. Relative, allerdings beträchtliche Vorteile erwachsen für neoliberale Politik zudem aus ihrer Rückwirkung auf die Gesellschaftsstruktur. Die neoliberale Gegenwehr gegen eine gesamtgesellschaftlich fortschrittliche Steuerreform mit Umverteilung von oben nach unten kann auf Wähler setzen, die bei einer fortschrittlichen Steuerreform etwas zu verlieren haben und beim Gang in die Wahlkabine den durch Umverteilung ermöglichten gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsgewinn gegen ihren eigenen Verlust an individuell verfügbarem Einkommen abwägen. Zudem ist der gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtseffekt einer fortschrittlichen Steuerreform schwerer abzuschätzen als die Veränderung des individuell verfügbaren Einkommens, wie die Grünen im Laufe ihres Bundestagswahlkampfes für mehr Steuergerechtigkeit im Jahr 2013 schmerzhaft erfahren mussten.
Die derzeitige Phase ist eine Art Flaschenhals, in dem die politisch-ökonomische Entwicklung für die verbliebenen Blockademacht-Reserven des Neoliberalismus besonders verwundbar ist. Denn wir sind in einer Phase der Knappheit, in der sich Energieengpässe, gestörte Lieferketten, handelspolitische De-Globalisierung, Verknappung wichtiger Investitionsgüter sowie die Knappheit an Arbeitskräften wechselseitig verschärfen. Wie Gustav Horn und Jens Südekum bemerkt haben, gibt es darauf zwei idealtypische politische Antworten. Die ›linke‹ bestünde in einer fortschrittlichen Angebotspolitik, welche die Lücke zwischen Nachfrage und Angebot durch Investitionen in mehr zukunftsfähige Güter schließt, vor allem auf den Gebieten ökologischer Umbau, Digitalisierung, Neugestaltung der Globalisierung und Mobilisierung des Arbeitsmarktes. Die ›rechte‹ Variante, wie sie Finanzminister Lindner verfolgt, will die Nachfrage auf das Niveau des vorhandenen Angebots zurechtstutzen: »Hier wird versucht, die Inflation durch eine restriktive Ausgabenpolitik des Staates, niedrige Lohnsteigerungen und hohe Zinsen seitens der Geldpolitik unter Kontrolle zu bringen«. Die ›rechte‹ Variante knüpft dabei an eine Politik an, die in den USA, Großbritannien und Deutschland jeweils am Anfang der Wende zum Neoliberalismus betrieben wurde: In den Vereinigten Staaten wurde mit dem sog. Volcker-Schock im Rahmen von Geldpolitik durch eine massive Zinserhöhung die Inflation um den Preis steigender Arbeitslosigkeit bekämpft. In Großbritannien versuchte Margaret Thatcher, die Inflation fiskalpolitisch durch Kürzungen des Staatshaushaltes zu reduzieren. Hierzulande wurde die Wende maßgeblich mit durchgesetzt über die Politik der Bundesbank, die die zaghaften Anläufe expansiver Politik der Schmidt-Regierungen durch ihre geldpolitische Hartwährungspolitik unterlief.
Die Überwindung der Inflation ist damals wie heute eine Hegemoniefrage. Man kann sich die denkbaren Maßnahmen auf einem Kontinuum vorstellen, in dem sie jeweils anhand der Stärke und der Kontroversität sortiert sind. Jedes Bündel von Politiken, das gewählt und verfochten wird, setzt bestimmte gesellschaftspolitische Bündnisse zur Durchsetzung voraus. Fangen wir mit der Geldpolitik an: Zinssätze, die deutlich unter jenen der 90er Jahre liegen, sind weithin akzeptiert. Aktuell anlässlich der Inflation diskutierte Zinserhöhungen – die fragwürdig sind, weil die Inflation weder durch hohe Geldvolumina noch durch zu hohe Nachfrage verursacht ist – dürften nur dann geringen Widerspruch hervorrufen, solange sie moderat bleiben, wie sie bislang von Federal Reserve und EZB angekündigt wurden. Kommen wir zum fiskalpolitischen Bereich der Staatsausgaben: Nach den wiederholten Krisenzyklen dürfte eine expansive Politik zur Schließung der Angebotslücken nicht nur auf weniger Widerstand stoßen als nach der Jahrtausendwende, sondern sogar weniger konfliktbehaftet sein als ihr Gegensatz, nämlich jene Politik reduzierter Staatsausgaben, die Christian Lindner betreiben will. Widmen wir uns dem fiskalpolitischen Feld der Steuerpolitik: Steuerentlastungen, die allen Einkommensgruppen nutzen, werden leichter durchsetzbar sein als gezielte Entlastungen, von denene manche profitieren und andere nicht. Konfliktreich dürfte die die Forderung nach (vorübergehenden, strategischen, selektiven) Preiskontrollen sein, um bestimmte Bevölkerungsgruppen von den Schocks abzuschirmen, denn ein solch hoher und direkter Grad an staatlicher Intervention ins Marktgeschehen ist in der Bundesrepublik eher unbekannt.
Grundsätzlich dürften Konflikte eher zunehmen. Die Blockade erhöhter Kreditaufnahme infolge der Schuldenbremse übersetzt den Konflikt über die richtige Zuteilung von Ressourcen in einen der Umverteilung, es sei denn, Wachstum spült so viel Geld in die Kassen, dass Entweder-Oder-Entscheidungen vermieden werden können. Hohes Wachstum ist aber unwahrscheinlich aufgrund just jener Probleme, derentwegen nach einer Angebotspolitik gerufen wird. Ohnehin drängt die Entwicklung aus mehreren Gründen zu weiteren konfliktreichen Auseinandersetzungen um Umverteilung. Um die Mehrkosten gestiegener Energiepreise gerecht, d.h. nicht mit der Gießkanne zu mildern, bedürfte es Entlastungen für besonders betroffener Haushalte. Zudem sprechen starke Argumente dafür, dass das 1,5 Grad-Ziel beim Klimaschutz nur erreichbar sein wird durch massive private und öffentliche Investitionen, empfindliche Besteuerungen ökologisch schädlichen ›Überkonsums‹ sowie verschärfte regulatorische Eingriffe. Je später die Politik diese notwendigen Schritte einleitet, um auf einen klimaschutz-konformen Wachstumspfad zu wechseln, desto ›steiler‹ und gesellschaftlich disruptiver müssen die Maßnahmen ausfallen, wenn das 1,5 Grad-Ziel erreicht werden soll (siehe Schaubild). Die damit verbundenen Maßnahmenbündel riefen bereits frühzeitig den Vergleich mit ›Kriegswirtschaften‹ auf den Plan.
In den USA wurde die Kriegswirtschaft finanziert durch massive Erhöhungen von Einkommens- und Körperschaftssteuern sowie Übergewinnsteuern, aber eben auch massive Staatsverschuldung in bis dahin unvorstellbarer Höhe. Der Präsident des ›New Deal‹ Franklin D. Roosevelt stand 1939 innenpolitisch unter Druck wegen einer Staatsverschuldung von 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 1949, vier Jahre nach Kriegsende betrug das Defizit 22,5 Prozent des BIP. Hugh Rockoff sieht den entscheidenden Unterschied im massiven Hegemonieeffekt, den der Angriff auf Pearl Harbor auf die US-amerikanische Gesellschaft entfaltete. Zum einen wurde hierdurch der Raum des Vorstell- und Annehmbaren verschoben, was die ›Durchstaatlichung‹ der Gesellschaft, die Toleranz für Steuererhöhungen und die Höhe staatlicher Verschuldung anging. Dadurch wurde auch die Macht organisierter Interessen neutralisiert, die andernfalls Vorhaben im gesamtgesellschaftlichen Interesse hätten blockieren können.
Für Deutschland stellt diese Analogie ein unangenehmes Paradox in Aussicht. Bleibt die FDP hart bei ihrem Kurs der Einhaltung der Schuldenbremse und der Abwehr von Steuererhöhungen für Besserverdienende und bleibt zudem das Wachstum zu gering, um durch zusätzliche Einnahmen Verteilungskonflikte zu vermeiden, müsste die deutsche Gesellschaft sich einem Konfliktniveau stellen, das sie kaum gewohnt ist und dem sie in der langen Ära Merkel entwöhnt wurde. Auf ein erhebliches Konfliktniveau reagiert die deutsche Gesellschaft zudem schnell mit Überschüssen an Selbst-Infragestellung, Panik und moralischer Aufladung. Man erinnere sich etwa an die aufgebrachten Diskussionen, nachdem die moralische Euphorie in der ersten Phase der Flüchtlingskrise beendet war. Wenn aber die FDP mit ihrer Blockade gegen Umverteilungen zur Abschirmung von Krisenfolgen dazu beiträgt, dass die verbliebene Macht neoliberaler Politik für breite Kreise der Gesellschaft als Ursache ihres Missvergnügens identifiziert werden kann, könnte Christian Lindners Partei mit ihrer Politik eben jenen sozialen Schock mitproduzieren, der neue politische Mehrheiten anstößt und endlich verbliebene Bastionen des Neoliberalismus schleift. Schocks allein schaffen allerdings noch keine Mehrheiten. Zur Batterie derzeitiger Probleme müssten auch andere, hoffentlich linke Antworten angeboten werden, die möglichst viel Menschen überzeugen.
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