Höhere Lebenserwartung als in den USA
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Das kubanische Gesundheitssystem weist zahlreiche Probleme auf. Doch das Fehlen einer Profitorientierung sichert eine bessere Grundversorgung als in vielen anderen Ländern.
»Ich hab mich auch gewundert, wie sie das zusammengemixt haben«, sagt der 31-jährige Arzt Alberto Rodríguez, während er seinen Lada durch die kaum beleuchteten Vororte Havannas lenkt. Mit »das« sind die einheimischen Covid-Impfstoffe gemeint, die der kubanische Staat 2020/21 entwickelte und mit deren Hilfe die Pandemie auf der Karibikinsel innerhalb weniger Monate beendet werden konnte. »Ich hab gedacht, das wäre wieder so ein Propagandawitz.«
Tatsächlich kam die Entwicklung der Corona-Impfstoffe Soberana Plus und Abdala einem kleinen Wunder gleich. Aufgrund des US-Embargos stellte selbst der Einkauf von Reagenzgläsern für die zuständigen kubanischen Pharmaunternehmen eine komplizierte logistische Operation dar, und die beteiligten Forscher:innen hatten im Alltag mit Lebensmittelmangel und Stromausfällen zu kämpfen. Dennoch gelang Kuba am Ende die Herstellung eigener Impfstoffe, die sich mit mehr als 90 Prozent Schutz als ähnlich wirksam erwiesen wie die weitaus teureren westlichen mRNA-Vakzine.
Das kubanische Gesundheitswesen ist also weiterhin für Überraschungen gut. Zugleich darf man sich aber nichts vormachen – auch dieser Sektor steckt in einer tiefen Krise. Die Autofahrt mit dem Arzt Alberto Rodríguez steht emblematisch für die Lage. Rodríguez, der sich hier so abfällig über den sozialistischen Staat äußert, stammt aus einer durch und durch revolutionären Familie. Die Großmutter hat in Castros Rebellenarmee gekämpft und danach ihr ganzes Leben lang für die Regierung gearbeitet, der Vater war als Mediziner an zahlreichen Gesundheitsmissionen in Afrika und Asien beteiligt – Kuba entsendet regelmäßig Freiwilligenbrigaden, wenn irgendwo auf der Welt Ebola oder eine andere gefährliche Seuche ausbricht.
Doch trotz dieses Familienhintergrunds will der junge Arzt so schnell wie möglich auswandern, am liebsten in die USA. Wie bei den meisten gut ausgebildeten Lateinamerikaner:innen sind seine Beweggründe letztlich unpolitisch. Rodríguez’ Hauptproblem besteht darin, dass sich von einem Ärztegehalt in Kuba nicht leben lässt. Umgerechnet zwischen 30 und 50 Euro monatlich bezieht ein Arzt auf der Karibikinsel heute – obwohl ein Kilo Schweinefleisch mit etwa vier Euro fast genauso teuer ist wie in Deutschland. Rodríguez verdient sich deshalb am Feierabend regelmäßig etwas mit dem Auto dazu. Für die Fahrt zum Flughafen nimmt er 20 Euro; der klapprige Lada trägt letztlich also mehr zum Lebensunterhalt bei als die langjährige medizinische Ausbildung. Und auch die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus sind belastend. »Es fehlt an allem«, erzählt der Arzt. »Medikamente, chirurgisches Besteck, Bettzeug, Desinfektionsmittel.« Dabei findet er manches am kubanischen Gesundheitssystem nach wie vor vorbildlich. »Kubanische Ärzte haben den einzelnen Patienten sehr im Blick. Wir haben so wenig Mittel zur Verfügung, dass wir auf die Selbstheilungskräfte des Körpers setzen müssen. Ich glaube, dass wir als Mediziner ganz besonders geschult sind.«
Der Gesamteindruck aber ist eher ernüchternd. Zwar räumt der Staat der medizinischen Betreuung der Bevölkerung Priorität ein und finanziert ein flächendeckendes Netz von Familienärzt:innen, die Kranke und Alte auch unaufgefordert und ohne Termin zu Hause aufsuchen. Doch gleichzeitig ist die Gesundheitsversorgung in der Praxis oft längst nicht mehr kostenlos. Wer eine Zahnbehandlung braucht, muss die Füllung in der Regel selbst mitbringen; wer eine einfache Operation benötigt, sollte nicht nur Medikamente und sauberes Bettzeug organisieren, sondern auch der behandelnden Ärztin etwas bezahlen. Wie in fast allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens klafft auch im Gesundheitswesen eine Lücke zwischen den offiziellen Regelungen und dem informell organisierten Alltag der Kubaner:innen.
Unübersichtlich ist die Lage bei teuren chirurgischen Eingriffen und Behandlungen. Für sie kommt weiterhin der Staat auf, doch dafür man muss monatelang warten. Der 73-jährige Álvaro Pineiro, der vor einer Apotheke Schlange steht, leidet unter Gelenkschäden im Knie. Sein Arzt würde ihm gern ein künstliches Gelenk einsetzen, doch das kann er nicht, weil die Prothesen dafür aus Deutschland eingeführt werden müssen und Kuba die nötigen Devisen fehlen. Nicht nur die Ineffizienz des Sozialismus, sondern auch die profitorientierte Gesundheitsindustrie des globalen Nordens sorgt dafür, dass Pineiro, der ansonsten völlig fit ist, nur noch am Stock gehen kann.
Der Rentner will dennoch klarstellen, dass seine Gesundheitsversorgung vermutlich besser sei als die vieler anderer Latein- und US-Amerikaner:innen. »Wenn man in Peru oder den USA arm ist, kann eine Erkrankung eine ganze Familie in den Bankrott stürzen«, sagt er. »Bei uns können nicht alle Operationen gemacht werden, und oft gibt es nicht sämtliche Medikamente. Aber alle haben das gleiche Recht auf medizinische Versorgung.«
Was von den Problemen im kubanischen Gesundheitswesen hausgemacht und was eher auf äußere Bedingungen zurückzuführen ist, lässt sich oft nur schwer sagen. Der Umstand beispielsweise, dass so viele Ärzt:innen auswandern wollen, ist durchaus auch Ausdruck eines Erfolgs. Um die lückenlose Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, setzt das sozialistische Kuba seit vielen Jahrzehnten auf die massenhafte Ausbildung von Fachpersonal. Mit einem Arzt oder einer Ärztin auf 160 Bewohner:innen hat das Land die höchste Ärztedichte auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Doch diese gut ausgebildeten Fachkräfte wiederum wissen, dass sie wenige Kilometer nördlich der Insel 100- oder sogar 1.000-mal mehr verdienen können als im eigenen Land.
Und auch was die Medikamentenversorgung angeht, hat der kubanische Staat keineswegs alles falsch gemacht. Um unabhängig von Exporten zu werden, hat das Land eine eigene pharmazeutische Industrie aufgebaut, die sich auf kostengünstige Generika spezialisiert hat. Viele der auf Kuba heute knappen Medikamente können im eigenen Land selbst hergestellt werden. Doch während in der Pharmaforschung – wie der Fall der Corona-Impfstoffe beweist – immer wieder bemerkenswerte Erfolge erzielt werden, kommt die Medikamentenproduktion regelmäßig zum Erliegen. Wie in fast allen Industriebranchen sorgen Bürokratisierung, Desinteresse, Transportprobleme und US-Wirtschaftsembargo auch hier für erschreckenden Leerlauf.
So bilden sich vor den Apotheken, die der Staat weiterhin in fast jedem Straßenzug unterhält, allabendlich lange Schlangen. Auf der einen Seite ist die Zahl der wartenden Patient:innen groß, weil nicht nur zahlungskräftige Kranke Anspruch auf Medikamente haben und die Kubaner:innen, nicht zuletzt aufgrund der gesundheitlichen Grundversorgung, immer älter werden. Gleichzeitig allerdings sind die Apotheken weitgehend leer, weil die einheimischen Betriebe zu wenig oder gar nicht produzieren.
Kubas Gesundheitssystem ist längst nicht mehr so gut wie sein Ruf, und ein großer Teil des Fachpersonals ist frustriert. Und doch verweist es darauf, dass das Fehlen einer Profitorientierung die medizinische Grundversorgung besser und menschlicher werden lässt. Kein Wunder also, dass die durchschnittliche Lebenserwartung auf Kuba trotz der schweren Versorgungsprobleme mit knapp 79 Jahren heute höher ist als die in den USA.
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