Wirtschaft
anders denken.

Die Wegwerfkuh und ihre Kinder

01.02.2022
Ein Schwein steck seine dreckige Schnauze durch einen HolzzaunFoto: PixabayVon der Weide in den Stall – eine Einhegung der Biodiversität

Die Industrialisierung der Landwirtschaft hat die Tiere von den Weiden in die Ställe gebracht und die Stoffströme verändert. Aus OXI 1/22.

Viele Tausend Jahre lang haben die Menschen die biologische Vielfalt in Mitteleuropa gefördert. Ackerbäuerinnen und Viehzüchter:innen, die im Neolithikum, also in der Jungsteinzeit, aus Vorderasien nach Mitteleuropa einwanderten, brachten neue Arten mit und schufen neue Biotope, indem sie Äcker und Gärten anlegten, ihr Vieh in den Wäldern weiden ließen und Pferche bauten. Diese historischen Kulturlandschaften hatten eine höhere Biodiversität als die dichten Buchenwälder, die Mitteleuropa dominierten, bevor die Menschen begannen, Bäume zu roden und Felder anzulegen.

Diese große Vielfalt war eine Risikoversicherung für die Menschen: Vielfältige Ökosysteme, das weiß man heute, sind widerstandsfähiger gegenüber Schädlingen und Extremereignissen wie Dürren oder Überschwemmungen. Auenwälder bremsen reißende Hochwasserströme, Hecken schützen den Boden vor Erosion, Mischwälder verhindern die extreme Vermehrung von Borkenkäfern,

Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich diese Jahrtausende alte Landwirtschaft fundamental verändert. Das neue landwirtschaftliche System – moderne Landwirtschaft nennen es die einen, Agro-Industrie die anderen – beruht auf den Prinzipien der Industrie: Intensivierung und Technisierung, Spezialisierung und Standardisierung. Immer geht es dabei um Leistungssteigerung durch Effizienz. Dieses System hat die Erträge enorm gesteigert, es kann viel mehr Menschen versorgen als früher – doch der ökologische Preis dafür ist hoch.

Die Industrialisierung der Landwirtschaft hat die Tiere von den Weiden in die Ställe gebracht und die Stoffströme verändert. Das Futter für die Stalltiere kommt nicht länger von den Wiesen und Feldern um den Bauernhof herum, sondern aus Futtermittelwerken, die Rohstoffe weltweit einkaufen, etwa Soja aus Südamerika, das zum Teil auf gerodetem Regenwald angebaut wird. Der Kot der Tiere liegt nicht länger als Nährstoffquelle für Milliarden von Insekten auf den Weiden, sondern wird mit der Gülle als Dünger aufs Feld ausgebracht. Das lässt die Pflanzen gut wachsen, aber nicht die Insekten, die wiederum als Vogelfutter fehlen.

Wachsen oder weichen: Unter diesem Imperativ haben sich nicht nur die Bauernhöfe verändert, sondern auch der Handel und die Lebensmittelverarbeitung. Parallel zum Höfesterben gab es ein Verschwinden von Lebensmittelläden, Schlachthöfen, Metzgereien, Mühlen, Mostereien, Bäckereien und Molkereien.

Heute beherrschen wenige große Konzerne die Märkte, und die Lebensmittelindustrie ist ebenso globalisiert wie der Rest der Wirtschaft. Die wenigen großen Schlachthöfe und Molkereien aber brauchen günstige Rohstoffe, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Für die Landwirtinnen und Landwirte heißt das: Sie müssen zu Weltmarktpreisen produzieren – so viel wie möglich, so billig wie möglich und ohne jede Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten.

Dieses System produziert große Mengen Milch und Fleisch für die Supermärkte dieser Welt – auf Kosten von Tieren, Menschen und Ökosystemen. Es erzeugt Wegwerfkühe, Kälber, die bei ihrer Geburt dem Tod geweiht sind, und erschöpfte und verzweifelte Landwirt:innen. Und es bringt mächtige Konzerne hervor, die ihre wirtschaftliche Macht für politischen Einfluss nutzen.

Die Spezialisierung in der Milchproduktion klingt auf den ersten Blick wie eine Erfolgsgeschichte: Die jährliche Milchleistung der Kühe hat sich in den letzten Jahrzehnten verdoppelt oder sogar verdreifacht. Während früher mit Rindern gezüchtet wurde, die gleichzeitig viel Milch und Fleisch brachten, die robust waren und starke Zugtiere, werden heute sogenannten Einnutzungsrassen gezüchtet: Fleischrinder oder Milchrassen. Bei den Milchkühen war dabei sehr lange das entscheidende Kriterium die Milchleistung pro Jahr: Bis zu 20.000 Liter geben die besten Kühe dieser Rassen jährlich. Doch der Preis für die kurzfristige Höchstleistung ist die Dauerhaftigkeit. Während die Milchleistung pro Jahr immer weiter gestiegen ist, stagnierte die Lebensleistung der Kühe. Denn die meisten von ihnen sind schon nach drei oder sogar nur zwei Jahren im Melkstand so erschöpft oder krank, dass sie zum Schlachter gebracht werden – und Platz machen für eine noch besser gezüchtete Hochleistungskuh.

Die Opfer dieser einseitigen Zuchtausrichtung sind nicht nur die Kühe, sondern auch ihre Kälber. Die männlichen Kälber der Milchkühe sind ökonomisch gesehen wertlos, weil sie anders als die Kälber von Fleischrassen nur schwer zunehmen. Sie sind ähnlich nutzlos wie die männlichen Küken der Hochleistungslegehennen, die jahrzehntelang unmittelbar nach dem Schlüpfen getötet wurden, allein in Deutschland mehr als hunderttausend pro Tag.

In Australien werden nach Angaben des Verbands der australischen Milchindustrie Dairy Australia jedes Jahr mehr als 700.000 Bullenkälber wenige Tage nach der Geburt getötet. Das ist in Europa verboten. Hier werden die meisten Bullenkälber über Viehhändler und Sammellager an spezialisierte Kälbermäster verkauft.

Für die wenige Wochen alten Kälber-Säuglinge ist dieses System der Kälberlandverschickung lebensgefährlich. Gestresst durch die lange Reise treffen sie in den Sammelstellen auf viele andere erschöpfte Kälber. Wenn eines von ihnen krank ist, steckt es die anderen schnell an. Das niedersächsische Landwirtschaftsministerium hat im Jahr 2011 mehr als 20.000 Mastkälber untersucht und festgestellt, dass nicht ein einziges Kalb das Schlachtalter ohne Antibiotika erreicht hat. Knapp der Hälfte der Kälber wurden sogar mehr als zwanzig verschiedene Wirkstoffe verabreicht. Mediziner:innen warnen vor den gefährlichen Folgen dieses Antibiotikamissbrauchs: Je mehr Antibiotika eingesetzt werden, desto mehr Krankheitserreger werden resistent gegen die Wirkstoffe, und diese sogenannten multiresistenten Keime springen von Tieren auf Menschen über, so dass Antibiotika langfristig wirkungslos werden. Damit könnte ein postantibiotisches Zeitalter anbrechen, das heute harmlose Infektionen lebensgefährlich machen wird und große Operationen und Organtransplantation beinahe unmöglich.

All diese Missstände sind seit Jahrzehnten bestens erforscht. Sie werden immer wieder kritisiert, von Wissenschaftler:innen, Umwelt- und Naturschutzverbänden und Bürger:innen. Nach Jahren des politischen Stillstands könnte mit der neuen Bundesregierung nun endlich Veränderung kommen. Noch unter der Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner haben zwei Kommissionen nach Lösungen gesucht, die Borchert-Kommission für die Tierhaltung, und die Zukunftskommission Landwirtschaft, die nach den Bauernprotesten in Berlin von Angela Merkel einberufen wurde. Zum ersten Mal haben sich Vertreter:innen von Tier- und Umweltschutz und aus der Landwirtschaft gemeinsam auf einen Weg zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft verständigt. Das war ein großer Aufbruch – und es hat die Mitglieder der Kommissionen sehr enttäuscht, dass die alte Regierung ihre Vorschläge einfach ignoriert hat.

Mit der neuen Regierung muss sich das ändern – zum Schutz der Tiere, gegen das Höfesterben und das Artensterben, zum Abbremsen des Klimakollaps, für gesunde Ernährung und schöne Landschaften. Es gibt so viel Schaden abzuwenden und so viel zu gewinnen.

Tanja Busse ist Journalistin und Buchautorin. Von ihr sind u.a. erschienen: »Die Wegwerfkuh« (2015) und »Das Sterben der anderen. Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können« (2019), blessing Verlag.

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