Wirtschaft
anders denken.

Kahlschlag und keine Abkehr von den Fallpauschalen

11.05.2023
Lauterbach: Pflegepersonal auf einer Streik der Ver.diFoto: Flickr Lauterbachs Gesundheitsreform: Mangelnde Entlastung für das Pflegepersonal.

Die Krankenhauspläne von Gesundheitsminister Lauterbach nützen weder Patient:innen noch den Beschäftigten in den Krankenhäusern.

Anfang April traten die Beschäftigten am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) in den Streik. 100 Tage Ultimatum, 100 Tage, in denen es die Klinikleitung nicht hinbekommen hat, ein Angebot vorzulegen. Dann die Arbeitsniederlegung. Selbstverständlich nicht, ohne die Notfallversorgung an den beiden Standorten zu sichern. Die Beschäftigten forderten, wie es schon ihre Kolleg:innen in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Frankfurt und anderen Orten durchgesetzt hatten, einen Entlastungstarifvertrag für alle, auch für die outgesourcten Versorgungsbereiche.

Das bedeutet verbindliche Mindestpersonalbesetzungen und, wenn diese unterschritten werden, entsprechenden Freizeitausgleich. Die Streikenden finden viel Unterstützung, denn es geht auch darum, gute Pflege zu gewährleisten. Und ihre Verhandlungsposition ist gut, der Mangel an Pflegekräften ist eklatant. In Gießen und Marburg waren sie nun erfolgreich: Nach drei Wochen einigten sich Rhön/Asklepios, die privaten Konzerne, zu dem das UKGM gehört, mit ver.di auf einen Tarifvertrag. Die aktuellen Personalbemessungsvorgaben PPR 2.0 müssen ab sofort eingehalten werden, ansonsten erhalten die Beschäftigten bei mehrfacher Überlastung freie Tage.

Auch dieser Hintergrund spielt eine Rolle bei den Krankenhausplänen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Bei weniger Kliniken, so die Überlegung, könnte man die verfügbaren Pflegekräfte gezielter verteilen. Bei der umfassenden Krankenhausreform, die Lauterbach gar als »Revolution« in das mediale Rauschen eingespeist hat, schwingt dies mit. Der Umbau der Krankenhauslandschaft steht ganz oben auf seiner Agenda, denn wie die ihm nahestehenden Gesundheitsökonomen ist er davon überzeugt, dass hier ein tiefgreifender Strukturwandel notwendig ist, ansonsten hätten viele Kliniken bald den Insolvenzverwalter im Haus. Ganz falsch ist das nicht, denn das DRG-System hat viele Einrichtungen in die roten Zahlen getrieben. DRG bedeutet: die pauschalisierte Abrechnung nach Fällen. Die Kalkulation der kaufmännischen Direktoren läuft darauf hinaus, dass sich ihr Haus möglichst viele lukrative Eingriffe sichern muss, um zu überleben. Schwierige Prozeduren, medizinische Komplikationen oder einfach nur gute Pflege drücken auf das Budget.

Welche Folgen das hat, zeigt beispielsweise das Krankenhaus Groß-Sand im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, das aufgrund seiner besonderen pflegerischen und atmosphärischen Bedingungen gerne frequentiert wird. Die auf der Elbinsel gelegene Klinik gehörte zunächst der Bonifatius-Gemeinde, ging dann über ins katholische Erzbistum und gilt noch immer als echtes »Kümmerer-Krankenhaus«, in dem auch sozial Schwache gute Aufnahme finden. Privatpatient:innen und gewinnbringende Operationen spielen eine untergeordnete Rolle. Doch seit vielen Jahren schreibt das Krankenhaus rote Zahlen, wie viele kleinere und mittlere Einrichtungen in öffentlicher, kirchlicher oder gemeinnütziger Trägerschaft. Der Träger will die verschuldete Klinik seit längerem loswerden, ihre Zukunft ist ungewiss. Die lange unterhaltene renommierte Pflegeschule wurde inzwischen geschlossen, obwohl die Einrichtung in einem Umfeld liegt, in dem viele junge Migrant:innen leben. Ein Riesenreservoir angesichts des bestehenden Pflegekräftemangels. Vernünftig finanziert könnte das Krankenhaus ein regionaler Leuchtturm sein.

Und Pflegende und Ärzteschaft überall im Land hatten tatsächlich Hoffnung. Denn Lauterbach hatte angekündigt, dem DRG-System den Garaus machen und der Ökonomisierung des Gesundheitssystems endlich einen Riegel vorschieben zu wollen. Statt Fallpauschalen auskömmliche Finanzierung der Häuser und anständige Entlohnung. Es wäre tatsächlich eine »Revolution« gewesen und hätte die wichtigste Forderung der an der Gesundheitsbasis Tätigen erfüllt. Dass das herkömmliche System nicht funktioniert, ist lange bekannt. Während der Pandemie jedoch, als viele Operationen nicht durchgeführt werden konnten und Betten geschlossen werden mussten, wurde dies noch offensichtlicher. Eine Zeitlang subventionierte der Staat die nicht in Betrieb gehaltenen Bettenkapazitäten, um die Intensivbereiche zu stärken. Doch 2022 meldete das »Krankenhaus Barometer«, dass sich 58 Prozent aller Kliniken in einer »unbefriedigenden wirtschaftlichen Lage« befinden. Viele stehen vor dem Aus.

Im Dezember vergangenen Jahres schließlich legte die von Lauterbach eingesetzte, ausschließlich mit »Expert:innen« besetzte Kommission, in der weder die Selbstverwaltung noch Patient:innenorganisationen noch »andere Lobbygruppen«, wie es Lauterbach nennt, Platz fanden, ihr Konzept vor. Ziel sind die Verschlankung, Spezialisierung und »Ambulantisierung« der Kliniklandschaft und ein modifiziertes Finanzierungsmodell. Dabei ist die Zahl der klinischen Versorgungseinrichtungen seit 2000 offiziell ohnehin schon von 2.242 auf 1.887 (2021) geschrumpft. Die von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie geht sogar nur noch von 1.697 Klinken aus. Das »Bündnis Klinikrettung« listet allein für 2023 bereits 74 weitere drohende Schließungen auf.

Einen wenn auch kleinen Paradigmenwechsel gibt es bei der Finanzierung. Künftig soll der Großteil der Krankenhäuser seine Einkünfte nur noch zu 60 Prozent über Fallpauschalen erwirtschaften, 40 Prozent des Budgets fließen ihnen aus der sogenannten Vorhaltepauschale zu, unabhängig von ihrer Leistung, der Zahl der Eingriffe usw. Die Zahlen sind allerdings etwas irreführend, denn 20 Prozent des Gesamtbudgets sind schon jetzt DRG-unabhängig, sie stehen für die Finanzierung der Pflege zur Verfügung. Für Kinder-, Notfall- und Intensivmedizin sowie Geburtshilfe, also Bereiche, in denen »Patientenströme« und Versorgung nicht geplant werden können, werden 60 Prozent vorgeschossen, 40 Prozent sind selbst zu generieren. Die meisten Einrichtungen werden sich also weiterhin abmühen müssen, möglichst viele Eingriffe bei möglichst geringem Aufwand zu realisieren.

Abgesehen von der Finanzierung dringt die Kommission, der Gesundheitsökonomen wie Boris Augurzky, zuständig für den jährlichen Krankenhaus Rating Report und Deutschlands bekanntester Klinikschleifer, oder Reinhard Busse angehören, auf die Strukturreform. Nach Leistungsmerkmalen wie verfügbarer Notfall- und Intensivmedizin und spezialisierten Fachabteilungen klassifiziert, stehen nach ihren Plänen die Maximalversorger (Level 3) – etwa Universitätskliniken – ganz oben in der Versorgungshierarchie, gefolgt von regionalen Zentren, die jeweils auf Kardiologie, Orthopädie und Ähnliches spezialisiert sind (Level 2). Mindestens zwei solcher Abteilungen sind notwendig, um sich für dieses Level zu qualifizieren. Basislevel 1 unterteilt sich in Krankenhäuser, die noch Notfall- und intensivmedizinische Versorgung vorhalten (Level 1n), und solche, denen das Operationsgeschäft entzogen würde und die nur noch als ambulant-pflegerische Zentren ohne 24-Stunden-Ärztedienst fungieren würden (Level 1i). Bessere Pflegeeinrichtungen also. Das beträfe viele Krankenhäuser in ländlichen Regionen. Von den 631 Einrichtungen auf Level 1i oder ohne Zuordnung dürften allerdings auch viele auf der Strecke bleiben.

Die genannte Auswirkungsanalyse, interessanterweise ebenfalls von Boris Augurzky verantwortet, kommt zu dem Ergebnis, dass, würde das Konzept eins zu eins umgesetzt, 416 Klinikstandorte in der ambulanten Grundversorgung landen würden. In fast allen Fachgebieten müsste die Hälfte der Patient:innen dann viel längere Wege in Kauf nehmen und ländliche Räume wären schlechter versorgt. Ein Beispiel sind die Entbindungskliniken: Sie müssen künftig 2.000 Geburten jährlich aufweisen, um überhaupt einen Versorgungsauftrag zu bekommen. Käme dazu noch die 30-Minuten-Regel zur Anwendung, nach der eine Klinik in 30 Autominuten erreichbar sein muss, müssten sich 56 Prozent aller werdenden Mütter eine neue Geburtsklinik suchen. »Die geplante Krankenhausreform«, resümiert die Sprecherin des Bündnis Klinikrettung, Laura Valentukeviciute, »würde zu einem massiven Abbau der Krankenhausversorgung führen. Das nächste Krankenhaus wäre dann für die Menschen auf dem Land viel zu weit und in einem Ballungsgebiet viel zu voll.«

So wie in Dresden. Das Klinikum Dresden-Neustadt, eines der beiden städtischen Krankenhäuser, kämpft derzeit um seinen eigenständigen Fortbestand. Es ist die einzige Klinik in Sachsen, die noch nach dem Tarifvertrag der Länder bezahlt. Es steht vor der Gefahr, mit dem Klinikum in der Friedrichstadt zusammengelegt oder ganz geschlossen zu werden. Schließung droht aber auch der Geburtsklinik in Forst in der Lausitz, denn in dem kleinen, aber beliebten Haus an der polnischen Grenze kommen nur 500 Kinder jährlich zur Welt. Man hat nie davon gehört, dass sie dabei bisher Schaden genommen hätten. Angesichts der dramatischen Folgen dieses Kahlschlags sieht sich die Auswirkungsstudie bemüßigt zu erklären, dass der Umbau so zu gestalten sei, »dass er bei den Bürger:innen keine Ängste hervorruft«.

Von solchen Ängsten werden aber nicht nur die Bürger:innen verfolgt, sondern auch die Verantwortlichen in den Städten, Kreisen und Ländern. Früh schon hat sich der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gegen Lauterbach positioniert, andere Länderkolleg:innen waren ebenfalls wenig amused. Da ist sicher viel politisches Kalkül dabei, doch auch der grüne Gesundheitsminister Manfred Lucha in Baden-Württemberg, selbst Vorreiter des Kliniklegens in seinem Land, ist auf Distanz gegangen. Und nach einem unglücklichen Auftritt Lauterbachs in Nordrhein-Westfalen schießt auch der dortige, in der Sache wohlmeinende Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) gegen die Bundespläne. Berlin, so stellte er klar, werde sich an die Länder anpassen müssen, sonst sähe man sich »vor den Verfassungsorganen wieder«. Zusammen mit seinen Kollegen aus Bayern und Schleswig-Holstein hat er ein Rechtsgutachten zur Verfassungsmäßigkeit der Lauterbach-Vorgaben in Auftrag gegeben.

Nach bisher drei Verhandlungsrunden mit den Ländern ist Lauterbach ein Stück zurückgerudert und kündigte an, mittels Öffnungsklauseln den regionalen Besonderheiten Rechnung tragen zu wollen. Gerade die Vertreter der ostdeutschen Flächenstaaten mit schrumpfender Bevölkerung sorgen sich wegen absehbarer Versorgungslücken und verweisen darauf, dass die Versorgungslandschaft im Osten schon in den 1990er Jahren stark ausgedünnt wurde. Ende April/Anfang Mai wird es ernst werden, dann will die Kommission ihre Vorschläge an die Wünsche der Länder angepasst vorlegen, und die Debatte dürfte schärfer werden. Dann sollten sich auch die Vertretungen der Beschäftigten einmischen. Denn nicht nur Patient:innen werden das Nachsehen haben, sondern auch die in den Einrichtungen tätigen Menschen. Wer in der einen oder anderen Rolle schon die derzeitigen Zustände dort erlebt, weiß: Es braucht nicht weniger, sondern mehr und bessere Versorgung.

Ob Lauterbach die Länderkönige noch in sein schwankendes Boot ziehen kann? Ihre Unterstützung ist unabdingbar, denn ihnen obliegt die Umsetzung dieser »Revolution«, die der Bundesminister als »kostenneutral« angekündigt hat, die in der Konsequenz die Länder jedoch satte 100 Milliarden Euro kosten wird. Lauterbach ist aber auch deshalb auf sie angewiesen, weil er in derart unruhigen Gewässern rudert, dass baldiges Kentern nicht ausgeschlossen ist. Egal, wohin man schaut – die desaströse finanzielle Situation der Kranken- und Pflegeversicherung, der Pflegekräftemangel, Medikamenten-Engpässe und nicht zu vergessen Corona und der Streit um Impfschäden und die Versorgung von Long-Covid-Patient:innen –, überall heftige Strudel, Untiefen und Unwetterwarnung. Ein entspanntes Zurücklehnen mit einer nun legalen Cannabis-Tüte in der Hand ist für diesen Minister nicht mehr möglich.

Aus OXI 5/23. Ab Freitag erhältlich

Geschrieben von:

Portraitfoto
Ulrike Baureithel

Journalistin

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