Über ein Schuldverhältnis
Was die Lebenserwartung betrifft, sind fatale Missverständnisse im Spiel. Aus OXI 11/22.
Wenn uns Politiker:innen erklären wollen, warum der Beitrag zur Renten- oder Pflegeversicherung steigt, Fachkräftemangel herrscht oder, ganz allgemein, weshalb der größere Teil der Gesellschaft bald zu einer Bedrohung für die Minderheit würde, werden sie nicht müde, die steigende Lebenserwartung zu bemühen. Von Vorwürfen gegen meine kindervergessene, geburtenschwache Generation einmal ganz abgesehen. Was haben sie nicht alles angestellt, damit es den Bürger:innen immer besser geht, sie immer gesünder werden – und wie danken die es? Sie werden alt! Und noch älter. Und verursachen Kosten. Also, bitte, dann darf auch zur Kasse gebeten werden. Altwerden hat auch etwas mit einem Schuldverhältnis zu tun.
Allerdings sind, was die Lebenserwartung betrifft, fatale Missverständnisse im Spiel. Denn natürlich hat der Durchschnitt der heute 65-Jährigen keine Aussicht darauf, einmal weit über 83 bzw. über 79 zu werden. Im letzteren Fall die Männer, die einfach nicht resilient genug sind. Viele von uns gehen jetzt schon öfter auf den Friedhof als in die Geburtsklinik. Bei der Lebenserwartung handelt es sich bekanntlich um eine statistische Konstruktion, die die gerade eben Geborenen betrifft. Und was auf die noch wartet, darf man sich nach den jetzt schon absehbaren klimatischen, pandemischen und politischen Eruptionen gar nicht ausdenken.
Und so haben zwei Meldungen in den vergangenen Monaten, die scheinbar in keinem Zusammenhang stehen, für Aufmerksamkeit gesorgt, auch wenn das die oben genannten Politiker:innen lieber ignorieren. Im Juli wurde berichtet, dass 2021 die Lebenserwartung in Deutschland dramatisch eingebrochen ist. Demnach werden heute geborene Mädchen nur noch 83,2 Jahre alt, Jungs 78,3, das heißt, sie werden vier bzw. sechs Monate kürzer leben. Statistisch gesehen. Im Osten der Republik ist die Entwicklung noch signifikanter, dort fiel der Wert für Jungen um 1,3 Jahre, für Mädchen um neun Monate. Nach einem jahrzehntelangen unaufhaltsamen Anstieg der Lebenserwartung nun eine solche Begrenzung des Möglichkeitshorizonts? Das ist erklärungsbedürftig.
Im Herbst 2022 gab es erste Hinweise auf die Gründe. Denn ausgerechnet im Sommer verloren auch andere europäische Länder mehr Menschen als gewöhnlich. Die sogenannte Übersterblichkeit betrug durchschnittlich elf Prozent. Während sich in der Bundesrepublik zum Jahresbeginn 2022 das Sterbegeschehen überraschend normalisierte und im März sogar zurückging – was auf die ausgebliebenen Grippeinfektionen zurückzuführen ist –, stieg es ab April langsam an und erreichte in den Sommermonaten Juni, Juli und August seinen Höhepunkt mit Werten von neun, zwölf bzw. elf Prozent. Auch im September starben mehr Menschen als im Vorjahr.
Noch dramatischer entwickelten sich die Todesraten in Spanien und Portugal, in Griechenland und Zypern. Im Juli registrierten die Behörden auf der Iberischen Halbinsel einen Anstieg der Sterbefälle von 39,9 bzw. 28,8 Prozent, in Spanien starben im Juli 10.000 Menschen mehr als im selben Monat des Vorjahrs. Eine alarmierende Entwicklung verzeichnete auch das nicht mehr zur EU gehörige Großbritannien. Mit Corona-Toten ist dies jedoch kaum zu erklären, denn die Sommerwelle 2022 verlief weniger tödlich. Ein Teil der Übersterblichkeit, so vermutet der spanische Gesundheitsdienst, könnte auf die extreme Sommerhitze zurückzuführen sein. Doch es erstaunte sie, dass es besonders viele Alte und chronisch Kranke traf, die bereits während der Pandemie zu den vorwiegenden Opfern gehörten.
Einem Bericht der Zeitung »Welt« zufolge sind die spanischen Expert:innen nun dabei, das Phänomen zu untersuchen. Und ihre Vermutungen weisen in eine Richtung, für die es in Großbritannien, wo Gesundheitsdaten besonders minutiös erhoben und ausgewertet werden, bereits belastbare Belege gibt. Es spricht nämlich viel dafür, dass nicht die Alterung der Bevölkerung insgesamt und die immer älter werdenden Alten der Grund für den Pendelausschlag sind, sondern dass sich während der Corona-Zeit offenbart hat: Für eine solche Katastrophe ist das Gesundheitssystem nicht gerüstet, es geht in die Knie und muss den Normalbetrieb einstellen, wenn es hart auf hart kommt.
Das hatte für viele Menschen dramatische bis tödliche Folgen, wie ein im August veröffentlichter Bericht der britischen Gesundheitsstatistiker zeigt. Sie konnten den Rückgang von nicht mit Corona in Verbindung stehenden Diagnosen quantifizieren und stellten fest, dass im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie 141.000 Herzerkrankungen, 87.000 COPD-Fälle (chronisch obstruktive Lungenerkrankung), 60.000 Diabetesfälle und 26.000 Schlaganfälle weniger diagnostiziert wurden. Unter dem Radar blieben auch psychische Erkrankungen und Alkoholismus infolge der Pandemieeinschränkungen.
Wie viele schwerwiegende Krankheiten wie etwa Krebs in Deutschland in den Corona-Jahren nicht erkannt wurden, ist aufgrund fehlender Daten nicht bekannt. Doch die Klagen über aufgeschobene Operationen oder über aus Infektionsangst unterlassene Arztbesuche begleiten die gesundheitspolitische Debatte seit Beginn der Pandemie auch hierzulande. 50.000 Krebsoperationen konnten alleine während der ersten Corona-Welle nicht durchgeführt werden und es gab große Defizite in der Nachsorge. Kein Wunder also, dass die Zufriedenheit mit dem deutschen Gesundheitssystem, wie eine AOK-Befragung zeigt, rapide gesunken ist. Lag sie im Sommer 2020 noch bei – erstaunlichen – 85 Prozent, sind im Mai 2022 nur noch 78 von 100 Deutschen mit der Versorgung zufrieden. Mit der Versorgung durch Fachärzte und in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen ist gerade noch die Hälfte glücklich. Bewohner:innen von Pflegeheimen und deren Angehörige sind insgesamt besonders unzufrieden.
Alles nur Corona-Folgen und geheilt, wenn das System wieder in den verlässlichen Regelbetrieb wechselt? Davon ist kaum auszugehen. Schon vor Corona stand es um die Gesundheitsversorgung nicht gut, und die mit der Krise absehbar noch leereren Kassen werden diese Entwicklung verstärken. Wie sollen die aus Frust in andere Bereiche abgewanderten Pflegekräfte ersetzt werden? Woher sollen die Mediziner:innen kommen, nachdem die Zahl der Erststudierenden seit einigen Jahren zurückgeht und viele engagierte Ärztinnen (und auch Ärzte) zu Recht ein Familienleben haben wollen?
Und wer weist endlich ein System in die Schranken, das Patient:innnen nur noch als mehr oder eben weniger lukrative »Fälle« betrachtet, die die Krankenhäuser in schwarze (oder rote) Bilanzbereiche bringen? Gerade das ganz normale Fallpauschalsystem (DRG) führt dazu, dass kranke Menschen »blutig« aus dem Krankenhaus geworfen werden und, so eine aktuelle Studie, 15 Prozent von ihnen nach 30 Tagen wieder dort aufschlagen. Entweder weil Infektionen oder Wunden nicht genügend ausgeheilt werden oder weil die Anschlusspflege nicht funktioniert. Es ist ein durch und durch unethisches System, das Gesundheitsarbeiter:innen – vom Chefarzt, der die Boni für besonders lukrative Fälle kassiert, über die übrige Ärzteschaft bis hin zum Pflege- und Servicepersonal – in Geiselhaft nimmt. Gespannt darf man auch sein, welche Folgen die Reform der Notfallversorgung haben wird. Wenn man nicht mehr wie bisher – wenn man sich anders nicht zu helfen weiß, weil ambulant niemand erreichbar ist – in die Notaufnahme einer Klinik gehen kann.
Werden wir also alle gesünder und leben länger? Hoffentlich haben Sie vorgesorgt! Mit Kindern, die Sie versorgen, wenn Sie alt werden, oder Rücklagen, die es erlauben, ein gutes Pflegeheim zu bezahlen. Denn 2035, wenn die Babyboomer richtig alt sind, werden 307.000 Pflegekräfte in Deutschland fehlen. Schaffen Sie sich also schon jetzt einen Rollator an, suchen Sie eine barrierefreie Wohnung und nehmen Sie einen Flüchtling in Obhut, der Sie gegebenenfalls versorgt! Denn wahrscheinlich werden Sie gar keinen Heimplatz mehr finden oder finanzieren können. Vielleicht irren aber auch die Statistiker:innen, die meinen, es handele sich beim Rückgang der Lebenserwartung nur um eine »Delle«. Vielleicht werden wir ja gar nicht mehr so alt. Schade wäre das schon.
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