Wirtschaft
anders denken.

»Wir sind die Dummen«

Hartz-Reformen, Euro und fehlende Investitionen haben zum deutschen Leistungsbilanzüberschuss geführt.

01.12.2021
Foto: HTW Berlin
Heike Joebges ist seit 2010 Professorin an der HTW Berlin für International Economics. Ihre Forschungsschwerpunkte sind preisliche Wettbewerbsfähigkeit und Einbindung von europäischen Ländern in regionalen und globalen Handel, Wertschöpfungsketten und globale Handelsungleichgewichte.

2014 haben Sie dem deutschen Leistungsbilanzüberschuss ein durchweg hohes Niveau seit der Einführung des Euros attestiert. Gilt das heute noch?

Ja, leider ist das immer noch so. Glücklicherweise hat sich der Überschuss seit 2015 in Relation zum BIP (Bruttoinlandsprodukt, Anm. d. Red.) abgeschwächt. 2015 lag er bei 8,6 Prozent des BIP. Das war bisher der Höhepunkt, seitdem ist er leicht gesunken. Wir sind 2020 bei 7 Prozent des BIP, für 2021 haben wir noch keine Daten. Aber auch 7 Prozent sind unglaublich hoch. Wir haben eigentlich von der Europäischen Kommission Vorgaben für Überschüsse: Höchstens 6 Prozent des BIP. Deutschland reißt die Marke seit Jahren. Das ist ein Problem!

Erklären Sie zunächst einmal, was ein Leistungsbilanzüberschuss ist.

Der wichtigste Bestandteil der Leistungsbilanz ist die Handelsbilanz. Sie ergibt sich aus Exporten von Waren und Dienstleistungen abzüglich der Importe von beidem. Überschuss heißt dann, wir produzieren mehr, als wir selbst im Land konsumieren, und exportieren den Überschuss. Das geht einher mit einem Netto-Kapitalfluss an das Ausland. Grundsätzlich können Sie die Idee aus individueller Perspektive auf Volkswirtschaften übertragen: Immer wenn ich mehr konsumieren möchte, als ich selbst als Einkommen habe, muss ich jemand finden, der mir das finanziert. Das ist auch international so. Egal ob im Ausland private Haushalte zu viel konsumieren oder die Unternehmen oder der Staat: Importe, die die Exporte übersteigen, müssen bezahlt werden, und dafür benötigt das Ausland einen Kredit. Die meisten von uns denken an Bankkredite. Es gibt aber noch weitere Möglichkeiten für das Ausland, an finanzielle Mittel zu kommen: Haushalte und Unternehmen aus Deutschland können z.B. Staats-, Unternehmensanleihen oder Aktien vom Ausland kaufen. Weil das in der Vergangenheit so erfolgt ist, besitzen Haushalte und Unternehmen Finanzprodukte aus dem Ausland.

Jetzt zu den Problemen.

Es ist kein Problem, wenn ein Land mal ein Jahr einen Überschuss hat. Aber in Deutschland sehen wir seit den 50er Jahren eine Historie von hohen Leistungsbilanzüberschüssen. In der Vergangenheit war es aber immer so, dass früher oder später Aufwertungen der D-Mark die Exportchancen wieder verringert haben und damit der Überschuss abgebaut werden konnte. Seit der Einführung des Euros haben wir aber einen kontinuierlichen Überschuss. Das ist problematisch, weil wir dadurch Arbeitslosigkeit exportieren. Wenn wir viele Waren exportieren und wenig importieren, also wenig im Inland konsumieren, fallen in den Importländern Arbeitsplätze weg.

Was noch problematischer ist und auch der Internationale Währungsfonds immer wieder thematisiert, sind die dadurch entstehenden Gläubiger- und Schuldner-Verhältnisse. Wenn der Rest der Welt konstant mehr von uns kauft als wir von ihm, dann muss das über Kapitalbewegungen finanziert werden. Deutschland wird immer mehr zum weltweiten Gläubiger. Nach neuer Berechnung der Bundesbank macht die Position 61 Prozent des BIP aus. Der Rest der Welt schuldet uns im zweiten Quartal 2021 netto 2,1 Billionen Euro. Ein hoher Betrag!

Und das soll schlecht sein für Deutschland?

Natürlich ist es angenehmer, Gläubiger zu sein, als Schuldner. Durch die konstanten Überschüsse und Defizite haben sich allerdings weltweit Strukturen von Gläubigern und Schuldnern herausgebildet. Wir sind abhängig davon, dass diese Schuldner zahlen können. Nach der Finanzkrise im Jahr 2007/8 meinte ein US-Kollege, dass eigentlich wir die Dummen sind. Die USA als Defizitland haben sich mit den Kapitalzuflüssen ein schönes Leben gemacht. Nach der Finanzkrise war klar, dass ein Großteil davon nicht zurückgezahlt werden kann. Und Deutschland musste viele Forderungen einfach abschreiben. Das »Gürtel-enger-Schnallen« und immer Sparen hat sich also im Nachhinein gar nicht gelohnt. Dieses Geld wurde zudem in Deutschland nicht in die Wirtschaft investiert.

Was hat der Euro mit den Überschüssen zu tun?

Auch bis zur Einführung des Euros hatte Deutschland Überschüsse. Der Euro forciert diese allerdings. Durch die Auf- oder Abwertung einer ausländischen Währung kommt es sonst zur Korrektur der Exportüberschüsse. Da es diese Wechselkurse innerhalb des Euroraums nun nicht mehr gibt, fällt dieser Mechanismus gegenüber den Mitgliedsstaaten vollständig weg. Der Wechselkurs spielt für diesen Handel keine Rolle mehr.

Gegenüber den Ländern außerhalb des Euroraums ist es so, dass der Euro jetzt nicht mehr allein auf die deutsche Wirtschaftskraft reagiert, sondern auf die der gesamten Länder im Euroraum. Da ist Deutschland zwar das größte Land, aber eben nur eins unter vielen. Deswegen waren die Aufwertungen nie so stark, wie sie gewesen wären, wenn Deutschland eine eigene inländische Währung gehabt hätte. Das hat deutschen Exporteuren unglaublich geholfen.

Eine Wiedereinführung der D-Mark und ein Auseinanderfallen des Euroraums ist keine Option. Was sind andere Möglichkeiten?

Es wäre nicht schlimm, dass wir viel exportieren, wenn wir gleichzeitig viel importieren würden. Da gibt es eine Reihe von Vorschlägen: Die in der Vergangenheit schwache Lohnentwicklung, durch die wir wenig Nachfrage der privaten Haushalte hatten, muss sich verbessern. Das hat sie auch schon. Die Auswirkungen der stark lohndämpfenden Arbeitsmarktreformen wurden relativiert, zum Beispiel durch die Einführung des Mindestlohns. Gerade die Hartz-Reformen hatten dazu geführt, dass eine Spreizung der Löhne eintrat: Löhne für gering Qualifizierte sind gefallen. Der Mindestlohn hat eine untere Kante eingezogen und die Lohnentwicklung insgesamt stabilisiert. Zusätzlich müsste man staatliche Investitionen deutlich ankurbeln, um die Nachfrage aus Deutschland zu stärken. Das stärkt dann auch private Investitionen.

Ohne die Wechselkurskorrektur sind Löhne zentral. Die Corona-Pandemie hatte auf diese einen Einfluss. Was heißt das für den Leistungsbilanzüberschuss?

Lohnentwicklungen sind in Relation zur Produktivität relevant. Diese Relation, die Lohnstückkosten, sind ein wichtiger Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. In Deutschland sind diese über lange Zeit weniger stark gestiegen als im übrigen Euroraum. Der Unterschied zum restlichen Europa hatte sich zuletzt durch die bessere Lohnentwicklung verbessert. Aktuell sehen wir einen Zusatzeffekt: Die Lohnzahlungen laufen größtenteils weiter, weil sie staatlich gestützt werden, zum Beispiel durch Kurzarbeitergeld, aber die Produktion wurde verringert. Heißt: Lohnstückkosten steigen. In anderen Ländern mit weniger staatlicher Absicherung der Krisenfolgen ist das nicht so. Daher haben wir aktuell eine Angleichung im europäischen Vergleich. Damit sich die Handelsüberschüsse reduzieren, braucht es aber mehr. Eine weiterhin stabile Lohnentwicklung auch für die gering Qualifizierten könnte zu mehr Nachfrage nach Gütern aus dem Ausland beitragen. Gleichzeitig müsste aber auch mehr investiert werden. Der Bedarf dafür ist ja da.

Das Interview führte:

Philip Blees

OXI-Redakteur

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