Wirtschaft
anders denken.

»Den Aktivist:innen von ‚Letzte Generation‘ gilt meine absolute Hochachtung«

Der Wirtschaftswissenschaftler Helge Peukert über zu moderate Ziele trotz radikalen Ungehorsams.

04.05.2023
Der Ökonom Helge Peukert
Helge Peukert ist Professor für Staats- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Siegen. Peukert ist Mitgleid im Netzwerk Scientist Rebellion, welches für Sofortmaßnahmen, zur Begrenzung der Klimakrise kämpft. In seinem politischen Forderungskatalog, den er für die Letzte Generation entworfen hat formuliert er radikale Forderungen.

Diskussionsreihe Letzte Generation gedruckt in der OXI 5/23 ab dem 12.05.

Herr Peukert, Sie sind Wirtschafts- und Staatswissenschaftler, haben an der Universität Siegen gelehrt und sich mit Wirtschaftsgeschichte und post-autistischer Ökonomie befasst. Jetzt unterbreiten Sie einen wirklich sehr radikalen Vorschlag an die »Letzte Generation«. Es gebe, sagen Sie, eine Lücke zwischen der Radikalität der Methoden und der »Sanftheit« der von der LG an die Politik gestellten Forderungen. Das finden Sie nicht gut?

Ich höre in persönlichen Gesprächen und bei Vorträgen immer wieder, dass zwischen der meines Erachtens zutreffenden Aussage von LG, dass wir vor entscheidenden Kippunkten stehen und den moderaten Zielsetzungen (9 Euro-Ticket/100 km/h) eine Lücke zwischen Diagnose und Forderungskatalog besteht. In Talkshows wird das auch gerne von Teilnehmern, die gegen die LG sind, vorgebracht. Die wohl aus taktischen Gründen so vorgebrachten minimalistischen Forderungen sind auf Dauer von großem Nachteil, wenn man ansonsten gar nichts zur notwendigen großen Transformation zu sagen hat. Natürlich muss man aufpassen, sich durch inhaltliche Vorschläge nicht zu verdiskutieren und so den aktivistischen Kern von LG zu schwächen.

Ihr Vorschlag, den wir zu diesem Interview im Wortlaut veröffentlichen ist wirklich umfassend. Er zielt auf eine weltweite Halbierung des Primär- und Energieverbrauchs. Zugespitzt gefragt: Ist das nicht völlig illusorisch?

Angesichts der bestehenden Macht- und Interessenverhältnisse, z.B. der Riesengewinne der Autokonzerne mit fetten SUVs, der geopolitischen Konfrontationslage, kurzfristorientierter Hasenfußpolitiker:innen auch hierzulande und der Nichtbereitschaft breiter Bevölkerungskreise in unserer Konsumdemokratie, der Katastrophe ins Auge zu schauen, stehen die Zeichen definitiv schlecht. Ich bin aber Wissenschaftler, der u.a. bei Scientist Rebellion mitmacht, und als solcher muss man sagen, was aus wissenschaftlicher Sicht der Fall ist, und was daraus folgen müsste. Aus der deutschen Vergangenheit habe ich als Jugendlicher die Lehre gezogen: Wer in Grenzsituationen schweigt, macht sich mitschuldig. Heute liegen die Fakten offen auf dem Tisch. Matthias Glaubrecht schreibt in »Das Ende der Evolution« die Vernichtung der Arten, niemand werde behaupten können, das nicht gewusst zu haben. Der offizielle EU-Erdbeobachtungsdienst Copernikus meldet gerade, dass Europa bereits bei 2,2 Grad Erderwärmung angelangt ist und 2022 der heißeste Sommer überhaupt war. Der von der Bundesregierung eingesetzte Expertenrat für Klimafragen erteilte jüngst der Klimapolitik dieser Bundesregierung eine saftige Ohrfeige. Das Versagen hat demnach einen offiziellen Stempel.

Im Prinzip wäre die weltweite Ausrufung eines Notstandes und des Ausnahmezustandes geboten, wollte man diese Forderungen auch nur annähernd umsetzen. Mal abgesehen von der Utopie, die da drin liegt: Wäre das nicht das Ende der Demokratie – also liefe man nicht Gefahr, dann die von vielen an die Wand gemalte drohende Ökodiktatur zu bekommen?

Wir werden in den kommenden Jahren mindestens mittelstarke Ökosystemzusammenbrüche erleben, dann wird es womöglich zu Formen der Ökodiktatur von oben kommen. International beobachten wir bereits auch angesichts diverser Verunsicherungen zunehmende Tendenzen zu autoritären Regimen und in westlichen Formaldemokratien gewinnen rechtspopulistische Akteure an Beliebtheit. Aber ich will das Problem möglicher negativer Folgen eines zwangsläufig gesamtplanerischen Vorgehens mit den daraus folgenden Einschränkungen nicht herunterspielen. Wenngleich die Bevölkerung nicht ganz so begeistert war, wie gelegentlich zu lesen ist, bieten die Kriegswirtschaften im 2. Weltkrieg auf Seiten der Alliierten doch ein Beispiel, wie man unter halbwegs demokratischen Bedingungen die Fokussierung auf ein großes Ziel schaffen kann. Auch die Corona-Politik bietet Anschauungsunterricht, wie man einen tendenziellen Lockdown hinbekommen kann, ohne in einer Corona-Diktatur zu enden, wobei man auch aus ihren Fehlern und hier nicht näher einzugehenden problematischen Zusammenhängen lernen könnte. Es ist für mich merkwürdig, aber doch ernst gemeint, hier noch auf die deutschen Notstandsgesetze hinzuweisen, da ich als Kind die Proteste gegen sie noch gut erinnere.

Eine völlige Umwälzung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen ginge mit einem solchen Weltrettungsprogramm einher, schreiben Sie. Wie wollen wir das nennen? Post-Kapitalismus? Denn im Rahmen der gegenwärtigen Wirtschaftsweise ist das ja nicht umzusetzen. Nicht einmal im Ansatz. Oder sehen Sie das anders?

Man kann es Post-Kapitalismus oder Postwachstums- oder Suffizienzökonomie nennen. Vor 30 Jahren wären die jetzt aufgesetzten systemimmanenten Maßnahmen der EU beispielsweise mit Fit for 55 richtig und zielführend gewesen. Man stünde auch anders da, wenn z.B. China den Weg eines »grünen Kommunismus« eingeschlagen hätte oder man sich in Indien an Mahatma Gandhis Vorstellungen orientierte. Da man aber Jahrzehnte die Emissionen immer weiter hat steigen lassen, sind wir jetzt in der fatalen Situation, im Grunde von heute auf morgen alles umstellen zu müssen: das Ziel des Wirtschaftens (Schrumpfung statt Expansion), eine starke ordnende Rolle des Staates bzw. der öffentlichen Hand, dessen Finanzierung derzeit an Verschuldung am Kapitalmarkt oder an durch Wachstum gesicherte Steuern hängt, eine Überwindung des individualegoistischen Konsumlebensstils, inklusive einer Verabschiedung vom Individualverkehr und vielem mehr. Und das alles in einer sehr komplexen, arbeitsteiligen Weltwirtschaft und wo nicht alle am gleichen Strang ziehen, sondern viele Menschen auf Verleugnung und Abwehrmechanismen setzen. Diese größte Herausforderung der Menschheit ist in ihrer Dimension erschreckend.

Sind Sie mit der LG im Gespräch?

Ja, über Scientist Rebellion bin ich mit Ihnen in Kontakt gekommen und habe einige Gespräche mit Henning, Friedrich, Kyle, Nana und anderen geführt und anfänglich an zwei Aktionen (Paperpastings) in Frankfurt und Bonn teilgenommen. Aus gesundheitsgründen halte ich mich als 66er bei Aktionen zurück, aber den Aktivist:innen gilt meine absolute Hochachtung. Was bleibt anderes übrig, wenn die Bundesregierung anstelle z.B. einer zupackenden Verkehrspolitik lieber die Sektorziele schleift und das einzig Konkrete in 144 Autobahnprojekten besteht. Neben den gut geplanten Aktionen und der professionellen Organisation fehlt nicht nur nach meinem Eindruck nur ein wenig eine inhaltliche Richtungsanzeige. Als Anregung dazu dienen die Vorschläge.

Sie sind weder ein logisch oder sachlich geschlossener Entwurf, noch konkurrieren sie z.B. mit Parteiprogrammen. Sie folgen bewusst nicht den vorherrschenden politischen »Frontlinien« und zu einzelnen Aspekten gibt es sicher abweichende Auffassungen, daher ist eine wohlwollende Haltung zu Einzelfragen erforderlich. In politischen Diskussionen könnte man aber auf den Vorwurf, neben kleinkarierten Forderungen nichts bieten zu können, darauf verweisen und sich einzelne Aspekte herausgreifen und diese je nach Situation beispielhaft einbringen oder Kontrahenten auffordern, doch mal konkret zu einzelnen Vorschlägen Stellung zu nehmen.

Das Interview führte:

Kathrin Gerlof

OXI-Redakteurin

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