Wirtschaft
anders denken.

Wie radikal müsste es sein?

04.05.2023
Aktivisten von Letzte Generation bringen Tempo 100 Schilder zum Verkehrministerium. Es werden Demopappen ins Bild gehalten, welche ein Tempolimit von 100 fordern.Foto: Stefan MüllerDie Letzte Generation schafft sich Aufmerksamkeit. Nun müssen konkrete Forderungen her.

Diskussionsreihe Letzte Generation gedruckt in der OXI 5/23 ab dem 12.05.

Ein Vorschlag an die Letzte Generation, welche Forderungen aufzustellen und zu diskutieren wären, um die thermophysikalische Bedrohung der Menschheit abzuwenden.

Die in der Öffentlichkeit oft gegen die »Letzte Generation« (LG) und Scientist Rebellion angeführte Kluft zwischen Blockaden und Kipppunkten einerseits und Minimalforderungen (9 €-Ticket, 100 km/h) andererseits benennt eine offenkundige Lücke. Es fehlt ein radikaler Vorschlagskatalog als Richtungsanzeige. Nur Blockaden, Moral und naiv wirkende Appelle an die Bundesregierung werden ansonsten womöglich zu einem baldigen Scheitern der LG führen. Auch Gesellschaftsräte bieten hier keinen Ersatz für eine Positionierung. Sollten sie tatsächlich die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung wiedergeben, träten sie derzeit für das Weiterlaufen der Atomkraftwerke ein. Glaubt man wirklich, dass das Politestablishment ihr nicht genehme Experten auswählt?

Angesichts des, selbst laut offizieller Quellen (Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltbundesamt, IPCC) für die Begrenzung von 1,5 Grad Erderwärmung weitestgehend aufgebrauchten Emissionsrestbudgets und des Artenschwundes von weltweit hundert Millionen Arten bis Ende dieses Jahrhunderts – über 30.000 Arten allein in Deutschland – fordert die LG eine zunächst deutsche Klimanotstandspolitik. Anstelle wolkiger Debatten um qualitatives oder grünes Wachstum bedarf es in der kurzen Frist erstens einer weltweiten Halbierung des Primär- und Endenergieverbrauchs, zweitens einer Reduzierung der Stoffströme um 90 Prozent (die derzeitige Recyclingquote liegt bei 10 Prozent) und drittens eines absoluten Endes des Flächenverbrauchs in den nächsten fünf Jahren.

Ehrlich ist einzugestehen, dass diese Ziele auf dem heutigen Produktions- und Konsumniveau selbst durch eine vollständige Umstellung auf Grünstrom sicher nicht erreichbar sind: Der ökomodernistische Traum ist ausgeträumt. Nach jahrzehntelanger Verschleppung bedarf es sofort der Einführung von Notstandsgesetzen. Wenn es so weitergeht, wird es bei Verschärfung v.a. der Klimakatastrophe, die nach Aussagen deutscher Klimaexperten bis zu sechs Grad Erderwärmung in Deutschland führen könnte, ansonsten wahrscheinlich zu einem Außerkraftsetzen der Demokratie über längere Zeiträume kommen. Was wir daher bräuchten, wäre eine Eine-Welt-Überlebensparteienallianz unter Ausklammerung des üblichen kleinkarierten Parteiengezänks, idealerweise unter Einschluss der EU, Chinas, den USA, Japans, Russlands und Indiens. Da dies derzeit unrealistisch ist, wäre eine solche Notstandsregierung vorerst auch erst einmal auf nationaler und dann europäischer Ebene anzustreben.

Zur Umsetzung der erwähnten drei wissenschaftlich abgeleiteten Primärziele (Halbierung des Energieverbrauchs, Reduzierung der Stoffströme und Ende des Flächenverbrauchs) könnten von LG neben Blockadeaktionen selbst organisierte Gesellschaftsratsgespräche auch als Weiterentwicklung ihrer Rekrutierungsveranstaltungen stattfinden, um mit der Zivilgesellschaft, aber auch Politiker:innen und Wissenschaftler:innen den vorläufigen Panoramaaufriss zu diskutieren und ihn auch in Interviews, Talkshows und auf der Website offensiv einzubringen, um über die sich leerlaufende Frage, ob Ankleben gut oder schlecht fürs Klima ist, hinauszukommen. Neben inhaltlichen Anregungen wäre auch zwecks Einbezugs vieler Menschen über niederschwellige Aktionsformen nachzudenken.

Klima: Der EU-Emissionshandel wäre vor 30 Jahren ein effizientes Instrument gewesen, bei einem Notstandsprogramm kann er nur sehr begrenzt lenkend wirken; mit den Öl-, Kohle- und Gasförderländern müsste ein Superkartellvertrag geschlossen werden, demgemäß unter Wahrung der Interessen dieser Länder (Kompensationszahlungen, Preis- und Abnahmegarantien usw.) die fossilen Ressourcen im Boden bleiben. Die Treibhausgase sind in der EU bis 2035 linear auf netto Null zu senken, unter Anrechnung der Senken (Bindung des CO2 durch Wälder usw.). Keine weitere Verwendung von Palmöl und sonstigen durch Entwaldung hergestellten Produkten; Anpflanzen von Bäumen, Renaturierung von Böden, Mooren und anderen CO2-Speichern, auch bei nur geringen Senkeneffekten; Entwaldung verbieten sowie Aktivitäten, die organischen Zerfall verursachen – Feldfrüchte und Gartenabfälle verbrennen Lager- und Grillfeuer usw. –; Militär weitestmöglich reduzieren.

Verkehr: 100 km/Höchstgeschwindigkeit und 9-Euro-Ticket als sofortiger Einstieg; alle fossilen Individual-Transportmittel werden zunächst eingeschränkt und so schnell wie möglich überflüssig gemacht; der private Benzin- und Dieselverbrauch liegt zukünftig bei 500 Liter pro Person/Jahr; er ist nicht übertragbar und in 5 Jahren auf 0 zu reduzieren. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist kostenfrei, der Rad- und Schienenverkehr hat absoluten Vorrang; Verkehrsberuhigung erfolgt auch durch den Abbau von Straßen/Autobahnen usw.; die Frachtschifffahrt und der Straßengüterfernverkehr sinkt jährlich um 20 Prozent, bis auf 90 Prozent Reduktion im Vergleich zu 2023; Kreuzfahrtschiffe und Niedrigpreis-Fluglinien sind wie alle Flüge unter 1000 km und über 3000 km sofort einzustellen; Business- und First-Class entfallen unmittelbar; es gibt das Recht auf einen Hin- und Rückflug/Jahr, in fünf Jahren einen Flug alle drei Jahre, das Recht ist nicht übertragbar. Schließung der meisten Flughäfen; Forschungen in alternative Formen des Fliegens und Antriebssysteme können subventioniert werden.

Verteilung/Soziales/gesellschaftlicher Zusammenhalt/Kommunikation: Einführung eines bedingten Grundeinkommens: Vollbeschäftigung durch einen dritten, öffentlichen Sektor mit sozial-ökologischen Arbeitsplätzen; ein Maximaleinkommen des zehnfachen des Mindestlohns; hohe Vermögens- und Erbschaftssteuern (ggf. Deckelung des max. zulässigen Vermögens), auch um finanzielle Umstellungslasten besser zu verteilen; eine CO2-Steuer für über 2 Tonnen/Person: 5 Prozent des persönlichen Jahreseinkommens pro mehr verbrauchter Tonne sind zu entrichten; nur eine öffentliche Krankenversicherung und entfallen der Beitragsbemessungsgrenze.  Sorge- und Pflegearbeit sind zu entkommerzialisieren, angesichts geringerer Einnahmen z.B. für Pflegepersonal: Einführung eines sozialen Dienstes für alle Bürger:innen (als Mitsorgearbeitende z.B. in Krankenhäusern oder Pflegeinrichtungen).

Kommunikation/Forschung: unabhängige Online-Suchmaschine und sicheres Internet; drastische Einschränkung der Handlungsfreiheit der IT-Konzerne des Überwachungskapitalismus; Kommunikationsorganisation zur Einsicht in Veränderungen und Notwendigkeit radikaler Maßnahmen entwickeln, lokales Feedback und Vorschläge – Bürgerräte. Sofortige Einrichtung eines Sondervermögens zur Einrichtung von Forschungseinrichtungen und -aufträgen zur Umsetzung des Notstandsprogramms; Ausrichtung der Lehre und Forschung auf eine Überlebenswissenschaft, gerade auch in den Sozialwissenschaften und insbesondere in den wachstumsfixierten Wirtschaftswissenschaften.

Wohnen: Alle Neubauaktivitäten sind im Prinzip einzustellen, jedem Inländer steht so viel Energie zu wie für 45 qm bei 20 Grad zum Heizen benötigt wird; Neubauten nur als 0-Emissionshäuser; keine weitere Versiegelung von Freiflächen und Ansiedlungen auf der grünen Wiese; EE-Sanierung (Wärmepumpen usw.) auch beim Altbestand; Förderung auch kleiner Solarpanelen (auf Balkons) sowie des Baus von Solarparks und Windrädern durch Bürgergenossenschaften; Waschmaschinen usw. müssen A+++ entsprechen und eine Mindestzahl an Nutzern aufweisen (gilt z.B. auch für Rasenmäher); der Müll von Privathaushalten darf max. 10 Prozent des Vorjahreswertes vor Einführung des Notstandsprogramms betragen; Höchsttemperatur in Gebäuden von 20 Grad, Mindesttemperatur von nicht unter 26 Grad. Firmen Haushalte und Gebäude müssen ihre Emissionen um 12 Prozent jährlich reduzieren (70 Prozent in zehn Jahren).

Arbeit/Wirtschaft/Industrie: Angesichts der zeitlichen Dringlichkeit – wie stark kann man auf Beeinflussung von Preissignalen auf Märkten angesichts des Scheiterns früherer Planökonomien setzen? Es bedarf dennoch einer starken gesamtwirtschaftlichen Rahmenplanung: Aus (auf z.B. auf Deutschland bezogenen) Input-Output-Matrizen ist zu entnehmen, welcher Konsum angesichts welcher Produktionsinputs möglich ist, um dann möglichst demokratisch über den gewünschten Mix zu entscheiden. Um die nötigen 90 Prozent zu schrumpfen, sind jedenfalls folgende Produktionsbereiche weitgehend rückzubauen: Fossilenergieunternehmen, Zementhersteller, Entwaldungsfirmen, Automobilhersteller, Flug- und Schiffsgesellschaften, Chemieunternehmen, Düngemittelhersteller, Metallhersteller und der Finanzsektor. Umweltverträglichkeitsprüfung aller Arbeitsplätze und ggf. Einstellung und Umschulungen; Arbeitszeitreduktion auf max. 25 h/Woche; bis 25.000 € keine Steuern, dann linear ansteigend. Die Mehrwertsteuer entfällt, stattdessen kompensierende CO2-Besteuerung auf Herstellung und Kauf von Produkten, die den Hauptanteil der Steuererträge ausmachen soll; 25 Prozent-Steuer auf Onlinekäufe. Einsatz fluorierter Gase untersagen; alle Einwegprodukte sind zu verbieten, auch Becher, Flaschen, Plastikfolien und sonstige nichtentsorgbare Verpackungen; sonstiges ist zu sammeln und kann an der Quelle zurückgegeben werden. Alle nichtessenziellen Maschinen sind zu verbieten: Fahrstühle, Rolltreppen, Brotschneidemaschinen, Leuchtreklame usw., und nur (Aufzüge für Behinderte z.B.), sofern Strom aus EE kommt. Werbedisplays an Straßen entfallen, Schaufenster werden nachts nicht beleuchtet. Schaffung einer Einrichtung zur Regulierung des Produktdesigns mit dem Ziel der Maximierung der Lebensdauer. Sicherstellen, dass vorrangig Recycling stattfindet; nicht wiederverwendbare Produkte müssen in drei Jahren verschwinden; Müllexporte sind zu verbieten; Herstellern komplexer Produkte (Autos, Handys) ist vorzuschreiben, diese am Produktionsende zu zerlegen und alle Rohstoffe zu entnehmen, unabhängig von den Kosten. Das Privateigentum an Wasser, Land und natürlichen Ressourcen (Holz) muss sehr stark eingeschränkt und reguliert werden (z.B. Erbpacht anstelle von Privatgrund und Boden).

Ernährung/Landwirtschaft: Prinzipiell sind regional anbaubare Produkte zu bevorzugen. Weitgehender Importstopp von Lebensmitteln (insbesondere von außerhalb der EU), zumindest ist die Einfuhr von Lebensmitteln mit hohem CO2-Fußabdruck einzustellen. Vertrieb und Konsum erfolgen über ein Punktebezugssystem, um eine gesicherte Basisversorgung und Gleichverteilung der Bevölkerung angesichts der vorzunehmenden Begrenzungen insbesondere in der Übergangsphase zu erreichen. Die Vernichtung von Lebensmitteln ist verboten, nicht benötigte sind abzugeben und/oder kostenlos zu verteilen; kein Fleisch- und Wurstwaren-Verzehr mehr, oder eine geringe, maximale Quote/Kopf. Die Massentierhaltung ist zu verbieten (und nur so viele Kühe sind zulässig, wie genügend Wiese für die Gülle beim Halter vor Ort vorhanden ist). Die Emissionen in der Landwirtschaft sind um 12 Prozent jährlich zu reduzieren (70 Prozent in zehn Jahren), 2035 auf Null. Umweltschädliche Düngemittel und Pestizide sind zu verbieten; Fisch-Fangquoten unabhängig von der Nachfrage zwecks Erholung der Bestände neu festzulegen, der Beifang/Rückwurf ist zu senken, umweltschädliche (Groß)Fischereimethoden sind zu verbieten; höhere Biodiversität, keine Bodenverluste; mindestens 20 Prozent der Land- und Wasserfläche Deutschlands werden zu möglichst verbundenen Ökozonen, in denen es keinen versiegelten Boden, keine Straßen und keine Ortschaften gibt.

Finanzsektor: Drastische Schrumpfung von Derivaten, Optionen und Futures, nur zugelassen, sofern sie zur Abdeckung von Risiken in der Realwirtschaft dienen. Ökosoziale Ausrichtung öffentlicher und privater Kreditvergabe; ein sicheres Bankensystem für Alltagstransaktionen wie Bewegungen auf Girokonten (Trennbankensystem); Mindesthaltedauer von Aktien, Anleihen, Währungen usw. von einer Woche und Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Beendigung privater Geldschöpfung zugunsten der Geldschöpfung durch die öffentliche Hand (Vollgeldsystem); (Teil)Finanzierung des sozial-ökologischen dritten Arbeitsmarktes durch Schenkgeld der Zentralbank (keine Zinslast und ohne Tilgung); Größenbegrenzung der Banken auf 100 Mrd. Euro; rückzahlungsfreie Investitionen in die grüne Fundamentaltransformation, z.B. Schaffung eines integrierten europäischen Bahnnetzes (in sechs Stunden von Paris nach Athen).

Die frohe Botschaft: Die unerlässliche Entmaterialisierung führt wohl zwangsläufig zu einer völligen Umwälzung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Eine Postwachstumsökonomie entlastet und entschleunigt und erfordert ein neues transzendentes Weltbild jenseits von individualegoistischem Konsum, Expansion und Geschwindigkeit. Die Aktivist:innen der LG werfen nicht nur selbstlos ihre Körper in die Waagschale, sondern sie sind auch symbolische Persönlichkeiten und Repräsentanten einer zukünftigen biosphärischen Lebensökonomie, die nicht nur gegen die voranschreitende Zerstörung unseres Planeten kämpfen, sondern deren Ziele auch zu einem sinnerfüllteren, kreativeren, solidarischeren, schöneren und glücklicheren Leben führen können.

Professor Helge Peukert ist Wirtschafts- und Staatswissenschaftler und lehrte an der Universität Siegen, er beschäftigt sich mit der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften und der Post-autistischen Ökonomie (Real World Economics). Über die hier aufgestellten Forderungen haben wir mit ihm in einem Interview gesprochen.

Geschrieben von:

Helge Peukert

Professor für Staats- und Wirtschaftswissenschaften

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