Wirtschaft
anders denken.

Zurück in die Zukunft oder: Degrowth

11.11.2023
Die Letzte Generation blockiert die Straße am Hauptbahnhof in Berlin. Die Aktivisti kleben auf dem Boden mit Banner in der Hand. Vor ihnen stehen Autos die im Verkehr blockiert werden.Foto: Stefan MüllerAktivist:innen der Letzen Generation setzen auf Mittel des friedlichen Widerstands. Der verrohte Backlash gefährdet sie zunehmend.

Der Autor erklärt nicht zuletzt, worin der Unterschied zwischen Letzte Generation und dem Berliner Senat besteht.

Das Jahr ist kurz gewesen, die Sekundenkleber haben die Hände voll zu tun. Ein Gespenst geht um durch Europa: das Gespenst des Cyanakrylats. Hätten Marx und Engels diese chemische Errungenschaft zur Hand gehabt, würden sie wohl bis heute mit den Fingern an der Quadriga des Brandenburger Tors kleben. Denn auch schon solche vier Pferdekräfte produzieren eine Menge Mist. Stattdessen stehen die beiden maßvoll überlebensgroßen Klassiker als menschelnde DDR-Relikte mit dem Rücken zur Wand des Palasts der Republik, nunmehr Humboldtforums, und schauen der Morgenröte entgegen, die ihnen annähernd aus der Richtung der St. Marienkirche erscheinen soll. Genaugenommen sitzt der Meister Marx, während Engels der Geselle steht, denn er ist besser zu Fuß und außerdem reicht laut dem damaligen DDR-Witz der Platz – wie in der Straßenbahn – nur für einen. Auch künftig wird es nicht für alle reichen.

Die Besitzer des Sekundenklebers hingegen setzen auf Mobilität, sie sind in der ganzen Stadt unterwegs, nicht nur unter den Heimwerkern bei Hornbach oder toom. Mir und meinem Auto Sandra ist die Einweihung in eine ihrer Aktionen am Ernst-Reuter-Platz widerfahren, als wir Requisiten unserer Theaterproduktion transportierten. Zwischen der Technischen Universität und dem Kreisel gingen annähernd zweihundert Studenten mit einem Kaffeebecher oder sonstigem Getränk in der Hand auf und ab. Die Aktivisten hatten sich praktischerweise unweit des Eingangs der Uni eingenistet, allerdings geriet die Blockade nur über anderthalb Fahrstreifen, entweder war der Klebstoff ausgegangen oder sie befanden sich bereits im Prozess der Ablösung. Einige anwesenden Polizisten redeten ihnen fürsorglich zu.

Kleben und kleben lassen

Nun aber mal Hand von der Fahrbahn aufs Herz: Ist so ein viertel- oder einstündiger Stau ein armageddonhaftes Ereignis in Berlin? Als ich vor zehn Jahren hierherzog, erkannte ich in der allgegenwärtigen Bautätigkeit einen Optimismus des Aufbruchs. Mittlerweile habe ich mich integriert und Berlin ist mir mein lieber Flughafen geworden. Selbst bei kurzen Strecken schalte ich das Navi an, um nicht in nächster Minute auf erratische Abwege zu geraten. Somit entscheidet zwischen gutem und schlechtem Stau wie in der katholischen Kirche die böse Absicht. Für die Stadtverwaltung bzw. den Senat spricht in dieser Hinsicht immerhin, dass sie die Welt nicht verbessern wollen, jedenfalls nicht Berlin. »Staus sind in einer Stadt wie Berlin nicht zu vermeiden«, steht auf der Homepage des Verkehrsdezernats. Im Sommer habe ich dort 312 systemrelevante Straßenbaustellen verzeichnet gefunden; bei der Hälfte finden keine für den Laien erkennbaren Aktivitäten statt. Dahingegen stehen auf dem Internetauftritt Wiens ganze 23, mit dem charmanten k.u.k.-Zusatz: »welche zu größeren Behinderungen führen« – was sich bei uns Preußen von selbst versteht. Eher verwundert es, warum die erbosten Autofahrer, welche die Angeklebten von der Fahrbahn wegzuzerren versuchen, nicht im gleichen Zug das Büro des Regierenden Bürgermeisters oder der Verkehrssenatorin stürmen, um diese von ihren Schreibtischen wegzuziehen, an denen die beiden nicht minder kleben?

Im gegenwärtigen Stadium begnügen sich die Aktionen nicht allein mit der Fahrbahn, sondern greifen auch auf die eigentlichen Schädlinge, die Autos über. Kleben entwickelt sich zu neuem Menschenrecht. Wenn ich mit meiner betagten Sandra wieder mal eine Spritztour mache, um sie ein wenig auszulüften, erwarte ich mir, dass die Beteiligten von allen Seiten am Lack und den Fenstern kleben wie am Fliegenpapier. Ob sie anschließend auf Schadensersatz klagen, weil der Lack von Sandra und mir abgeht und an ihnen haften bleibt?

Joseph Beuys lässt grüßen

Auf dem anderen, dem Indoor-Betätigungsfeld, in den Museen, erleben wir übrigens in letzter Zeit ein Phänomen, das durchaus eine Verwandtschaft mit der Performance und der Fluxus-Bewegung aufweist. Auch hierbei findet, ob bewusst oder implizit, über den bloßen Protest hinaus der temporäre Versuch statt, neue kollektive Lebensformen zu schaffen. Selbst diejenigen, die sich über die gelegentlichen Aktionen gerne gelegentlich empören, werden mir recht geben, dass die ausgehängte klassische Malerei, genauso wie in der Musik die Stradivaris, zu einem nicht unerheblichen Teil zu Spekulationsobjekten mutiert ist. Ironischerweise gilt das ebenso für die Objekte der Fluxus-Bewegung, wie sich halt im Leben typischerweise der Protest zu seinem Gegenteil entwickelt (der Kunstbetrieb die Kunst auffrisst), und im schlimmeren Fall auch als Lehrstoff in den Schulbüchern landet. Für das bildungsbürgerliche Publikum bedeuten hierbei die musealen Sonntagsvisiten mit anschließendem Kaffee und Kuchen eine Mehrung, es versichert sich seines Besitzstandes, zu dem auch der unvermeidliche Schuss Ästhetik gehört, der aus Kostengründen oder wegen farblicher Unvereinbarkeit nicht daheim über das Sofa passt. Das Museum wird zur Fortsetzung des Wohnzimmers mit anderen Mitteln.

Die Events des Fluxus liefen darauf hinaus, die schönen Künste wie Theater oder Poesie stufenweise zu beseitigen. Sie wollten keine Objekte mehr, die durch menschliche Fähigkeiten und viel unnötiges Material zur Geltung kommen, sie wollten diese Fähigkeiten und das Material auf sozial konstruktive Ziele richten. Für die Cyanakrylat-Bewegung ist hingegen ein Monet oder Van Gogh vor allem wertvoll als Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie. So kommen sie ins Museum; man könnte auch denken, immerhin kommen sie so ins Museum. Nebenher und zuweilen absichtslos legen beide Strömungen den schöpferischen künstlerischen Impuls frei: die ursprüngliche Intention und das Staunen des Sehens… und somit die existenzielle Erfahrung, die dem ganzen Komplex irgendwann einmal zugrunde lag.

Komme was wolle

Aber wohin mit der ganzen schönen Energie, fragen kritische Stimmen aus etablierteren Kreisen und monieren die Kluft zwischen der Radikalität des Protests und der geradezu asketischen Selbstbescheidung der Klebebewegten (!) im Hinblick auf die geforderten Veränderungen. Das bisschen Klima bei Tempo 100 bzw. 30 kann es wohl nicht gewesen sein. Tastend melden sich immerhin mittlerweile aktivistische Fraktionen zu Wort, die »sich nicht davon abbringen lassen, für das Leben und echte Demokratie einzustehen, komme was wolle« und die soziale Wende herbeiführen wollen.

Der emeritierte Siegener Wirtschaftsprofessor Helge Peukert ist einer der Kritiker und Unterstützer zugleich, welcher der Bewegung mit einem Maßnahmenkatalog beispringt, der sich beim ersten Lesen als eine grundlegende Ausgestaltung jenes »komme was wolle« darbietet. Dafür, dass der Paradigmenwechsel keine fata morgana sein muss, führt er zurecht die Erfahrung Corona an, die sich als ein aufschlussreicher Feldversuch erwiesen hat. Seit 75 Jahren bestehende Sicherheiten können abgeschafft werden und es stellt sich heraus, sie waren keine. Das zeigten allein die von einem Tag auf den anderen entstehenden Schlangen ums Klopapier. Der Mensch ist kein Tier, er gewöhnt sich an alles, lautet eine tschechische Redensart. Der zentrale Begriff heißt Degrowth. Nicht zu verwechseln mit Bundeskanzler Schröders weiland Schöpfung Minuswachstum, ließe sich dieser als ein direktes Positivschrumpfen auf gesunde Maße übersetzen. Wie aber nun schrumpfen und bis wohin, etwa in die wilden Kohl‘schen Neunziger? Oder zu Erich und Margot? Oder zusammenschnurren zu Wilhelm II.? Denn die Wirtschaft ist – so wie anscheinend auch die Wirtschaftsexperten es sind – im Gegensatz zur Gesellschaftsordnung nicht ohne weiteres zu lenken. Dass sich das schnell zu einem Ritt auf dem Tigerrücken auswächst, zeigt uns dieser Tage die Inflation, begünstigt durch den munteren Druck von Billionen von Euros durch die EZB, in der Intention, die Wirtschaft zu stabilisieren.

Der Peukert nämlich steckt im Detail. Mich als den Mann fürs Kleingedruckte haben bei der Durchsicht seines Katalogs auf Anhieb die »nichtessenziellen Maschinen« gefesselt: zu verbieten seien Brotschneidemaschinen (…) Fahrstühle, letztere nur erlaubt für Behinderte z.B., und zwar sofern Strom aus erneuerbaren Energien kommt. Da man keine 18 Millionen Rentner zuzüglich 3 Millionen Schwerbehinderte in Parterrewohnungen umsiedeln kann, dürfte das in der überalterten Gesellschaft zum vormals vielbeschworenen sozialverträglichen Ableben beitragen. Was den Übeltäter Brotschneidemaschine angeht, wäre eine regelmäßige Visitation durch den Hausbeauftragten angezeigt, unter Einbeziehung des Badeschranks, wo manche Gewitzte die Maschine verstecken könnten. Bei verdächtigen Geräuschen finden sich wachsame Mitmenschen in der Nachbarschaft, die es auf kleinem Dienstweg weitermelden. Calvin lässt grüßen mit seinem Verbot der Marmelade, das ähnlich überprüft wurde. Gerechtigkeit kann nicht nur belohnend, sondern auch lustvoll strafend sein.

Es ließe sich viel Kleingedrucktes in dem Katalog finden. Wir alle haben uns gerade in den vergangenen Jahrzehnten daran gewöhnt, dass die Politik und auch andere Instanzen gerne Verfügungen treffen, deren tagtägliche Ausführbarkeit sie dann der Bevölkerung anvertrauen. Das Wichtigste wird sein, schon mal anzufangen – das Weitere wird sich ergeben – denn es handelt sich um Maßnahmen, »die nicht nur gegen die voranschreitende Zerstörung unseres Planeten kämpfen, sondern deren Ziele auch zu einem sinnerfüllteren, kreativeren, solidarischeren, schöneren und glücklicheren Leben führen können.« Am Ende seiner Darlegungen kommen dem Autor als nicht originärem Politiker dann doch andeutungsweise Zweifel, und so fühlt er sich bemüßigt, eine Kaskoversicherung gegen allerhand Petr Manteuffels einzubauen: es sei bei der Lektüre »eine wohlwollende Haltung zu Einzelfragen erforderlich«, gleichzeitig könne man »…sich einzelne Aspekte herausgreifen und diese je nach Situation beispielhaft einbringen oder Kontrahenten auffordern, doch mal konkret zu sein.« Auf Deutsch: nehmen Sie mich bitte nicht beim Wort.

Eine neue Partei entsteht

Wer Notstand sagt, meint Notstandsgesetze. Die taz-Journalistin Ulrike Herrmann hat sich bei ihrem Abgesang auf den Kapitalismus auf der Suche nach einem Gegenentwurf in die britische Kriegswirtschaft als neues Corona-Modell verguckt. Wieso schon wieder alles Angelsächsisches ungefiltert übernehmen? Wir haben ja keinen Churchill, nur Scholz und Baerbock. Höchstens Sahra Wagenknecht, die freilich gemäß dem bisherigen Eindruck weniger als eine Wirtschaftskapitänin denn als die Jungfer von Orléans daherkommen dürfte. Herr Peukert wiederum ist anscheinend aus Gesundheitsgründen bei den Straßen- und sonstigen Blockaden nicht mit von der Partie, somit bleiben die praktischen Lösungen der neuen alias letzten Generation überlassen. Diese müssen sich erst einmal von meiner Sandra freimachen und sich selber finden. Ob ihre Bewegung lediglich den Planeten retten, oder auch uns zu Kreativität und Glück führen möchte, sei ihnen überlassen. Man kann der Jugend selten Ratschläge geben; letztlich müssen sie ihre Erfahrungen selber machen und wieder einmal von vorne beginnen, ohne groß Rücksichten auf die Geschehnisse vergangener Zeiten und die Traumata verflossener Generationen zu nehmen. Was mir jedenfalls – ohne meinerseits Ratschläge erteilen zu wollen – unausweichlich erscheint, ist die Gründung einer neuen Partei. Die Fridays werden darin die Realos geben, die Letzte Generation und die Extinction Rebellion die Fundis. Ihre Zielsetzungen gleichen sich schon mal weitgehend.  Und auch die Grünen und die AfD haben ursprünglich als Ein-Punkt-Parteien angefangen. Ein Schuss strafende Gerechtigkeit wird mit dabei sein, aber letztlich sind sie, was ihre Forderungen genauso wie ihre eigenen Lebensentwürfe besagen, bedeutend weniger radikal und opferfreudig als die RAF, mit denen sie von manchen Opponenten verglichen werden. Die neue Partei wird sich links der Linken und grün der Grünen ansiedeln, und als Koalition mit den Grünen allemal in ihrer Alterskohorte die absolute Mehrheit erringen.

Uns Älteren bleibt nur, ihnen fürderhin auf ihrem weiteren Lebensweg Glück, Orientierungssinn und Augenmaß zu wünschen.

Geschrieben von:

Petr Manteuffel

Arzt und Autor

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