Wirtschaft
anders denken.

Liefern am Limit

27.10.2021
LieferdiensteFoto: pixabay

Lieferdienste erleben in der Pandemie exponentielles Gewinnwachstum, zumeist auf Kosten von Arbeitsrechten und -bedingungen. Ein Beitrag aus OXI 10/21.

Während der Corona-Pandemie mussten zahlreiche Unternehmen in der Nahrungsmittel- und Gastronomieindustrie mit Gewinneinbrüchen rechnen. Nicht so bei Lieferdiensten. Diese sind während der Pandemie exponentiell gewachsen. Parallel dazu beklagen immer mehr Lieferfahrer:innen Arbeitsverdichtung und ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Insbesondere die Arbeitskämpfe der Fahrer:innen, auch »Rider« genannt, der Unternehmen Lieferando und Gorillas legten mit der Kampagne »Liefern am Limit« und wilden Streiks den Finger in die offene Wunde: Arbeitsbedingungen in der Plattformökonomie. Diese neuen digitalen Unternehmen geben sich innovativ und progressiv. Innovativ sind dabei vor allem die Möglichkeiten, erkämpfte Arbeitsrechte durch rechtliche Konstruktionen zu untergraben. So sind viele Rider als Subunternehmer:innen beschäftigt und müssen ihre Arbeitsmittel, wie Fahrrad und Smartphone, selbst stellen. Daran ändert auch ein DJ-Set im Warenhaus nichts. Diese Unternehmen bedienen sich zur Profitmaximierung jedoch auch klassischer Methoden: Prekarität und niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeiten, die vor allem Ausländer:innen anziehen, die den Arbeitsbedingungen ausgeliefert sind; Befristung der Arbeitsverträge; Union-Busting, also die Verhinderung demokratischer Mitbestimmung im Betrieb, und Intensivierung des Arbeitsprozesses sind seit der Entstehung des Kapitalismus gängige Mittel der Ausbeutung.

Die Tendenz des Kapitalismus, in seiner fortschreitenden Entwicklung die Arbeitsintensität zu erhöhen, beschrieb Karl Marx im »Kapital«, Band 1. Die Arbeiterbewegung erkämpfte eine gesetzliche Beschränkung des Arbeitstages, heute kennen wir ihn als 8-Stunden-Tag. Da sich der Mehrwert und damit der Profit nicht mehr so einfach erhöhen ließ, indem die Arbeitszeit verlängert wurde, sah sich das Kapital gezwungen, innerhalb dieses nun gegebenen Zeitraumes mehr Arbeit herauszupressen. Dies bezeichnet Marx als die Produktion des relativen Mehrwerts, relativ, weil die Arbeitszeit, in der die Arbeiter:innen Mehrwert für das Kapital produzieren, innerhalb der Grenzen des Arbeitstages erhöht wird. Dies ist der Motor kapitalistischer Entwicklung. Wenn man die Arbeitszeit nicht einfach unendlich verlängern kann, um die Profitrate zu steigern, muss der Arbeitsprozess an sich ständig effizienter gemacht werden, um denselben Zeitraum produktiver zu machen.

Ein Mittel, um diese Intensivierung zu erreichen, ist dabei die erhöhte Frequenz von Maschinen, so dass deren Bedienung mehr Anstrengung erfordert. Eine andere Methode ist eine strengere Disziplin, denn wenn die Arbeitszeit beschränkt wird, darf keine Sekunde durch langsames Arbeiten oder kleine Pausen verloren gehen. In vielen Fabriken des 20. Jahrhunderts wurde die Kontrolle durch Vorarbeiter oder Aufseher durchgesetzt. Heute wird diese Funktion vielerorts durch digitale Überwachungsmedien erfüllt. Bei Lieferfahrer:innen gehört ein eigenes Smartphone, das jederzeit checken kann, wo sie sind, zur Arbeitsausstattung. Das macht es nicht nur für das Management möglich, das Liefertempo zu überprüfen, sondern auch für die Kunden. Der Lieferdienst Gorillas garantiert seinen Kunden eine Lieferzeit von nur zehn Minuten. Der Druck wird damit ausgelagert, denn die Kunden wollen ihr Essen geliefert bekommen, so schnell es geht, ansonsten kann das schon mal eine Beschwerde bedeuten oder das Trinkgeld kosten, auf das viele Rider existenziell angewiesen sind.

Die Intensivierung hat dabei massive Folgen für die Arbeiter:innen: Sie werden durch die mentale und körperliche Überanstrengung schneller ausgelaugt. Es ist nur schwer möglich, sich vorzustellen, dass jemand so einen Beruf in Vollzeit über 30 Jahre ausüben kann. Gerade in großen Städten steigt auch die Wahrscheinlichkeit für Unfälle im Straßenverkehr, wenn die Lieferzeiten immer weiter verkürzt werden. Das wird noch schlimmer unter extremen Wetterbedingungen, wie Starkregen oder Blitzeis. Bei Lieferando bekommen die Rider eine firmeneigene App, die in Zusammenarbeit mit dem Google-Maps-Algorithmus die schnellste Route kalkuliert und eine:n auch schon mal über die Autobahn lenkt.

Gerade die Vereinzelung der einzelnen Rider durch den isolierten Arbeitsprozess unterscheidet ihre Arbeitsbedingungen und Organisierungsmöglichkeiten stark von Fabrikarbeiter:innen im 20. Jahrhundert, die durch die räumliche auch leichter eine soziale Nähe herstellen konnten. Trotzdem haben es viele Lieferfahrer:innen geschafft – auch mit Hilfe sozialer Medien –, sich für gemeinsame Arbeitskämpfe zu organisieren.

Geschrieben von:

Bafta Sarbo

Sozialwissenschaftlerin

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