Wirtschaft
anders denken.

Die Freiheitsfrage schlechthin

07.01.2020

Die FDP will kurz vor dem traditionellen 1. Mai bundesweit »vor die Werkstore« ziehen und mit den Arbeitern ins Gespräch kommen. Wir haben da schon einmal eine Rede für Christian Lindner vorbereitet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wir haben uns hier vor dem Werkstor versammelt, weil es – ich habe das schon auf dem Dreikönigstreffen in Stuttgart gesagt, ein Irrtum ist, zu denken, dass alle Arbeiter eine linke Politik wollen. Ich meine natürlich auch die Arbeiterinnen, jedenfalls geht es uns als Freidemokraten um eine breite Mitte von Menschen, die gegenwärtig auf der Suche sind. Auf der Suche nach einem Liberalismus der Arbeiterinnen und Arbeiter, nicht nur der Apotheker und Privatisierungslobbyisten. Auf der Suche nach einer politischen Haltung, die noch etwas vom Kapitalismus versteht. Deshalb sind wir hier heute vor das Werktor gekommen, und wir wissen, dass wir als FDP in der Schuld stehen, ihnen erst einmal zu erklären, warum sich Liberale nach Jahren als Interessenvertretung der Couponschneider, Renditejäger und privaten Aneignung, des »schlanken Staates« und der marktwirtschaftlichen Entfesslung nun den Arbeiterinnen und Arbeitern zuwenden. Also dann:

Die aus der Kritik des kapitalistischen Systems entsprungene Arbeiterbewegung und die zunächst von liberaldemokratischer, wie später von sozialdemokratischer Seite initiierte Gewerk­schaftsbewegung hat das geschichtliche Verdienst, die Perver­sion des kapitalistischen Systems nicht nur aufgehalten, son­dern in einen evolutionären Prozess der ständigen Steigerung der Leistungsfähigkeit, wie der Menschlichkeit dieses Wirtschaftssystems umgekehrt zu haben.

Die Auffassung, dass Liberalismus und Privateigentum an Produktionsmitteln in jedem Fall identisch seien, gehört zu den Grundirrtümern der jüngsten Geschichte, die in unsere Zeit fortleben. Sie erklärt sich aus der Tatsache, dass das aufkommende Bürgertum als festumrissene Gesellschaftsschicht seinen Aufstieg von der Durchsetzung liberaler Ideen abhängig sah. Das gab dem Liberalismus im 19. Jahrhundert seine Stoßkraft und seine soziale Basis. 

Das Bürgertum hat den Liberalismus groß gemacht, als es seinen gesellschaftlichen Aufstieg mit ihm verbunden glaubte. Es hat ihn schnell (vor allem in Deutschland) verraten, als es meinte, seine gesellschaftlichen Interessen im Bündnis mit den konservativen Kräften wirksamer und risikoloser vertreten zu können und der Arbeiterschaft den gesellschaftlichen Aufstieg verbauen wollte… Der Liberalismus lässt sich heute weder als Großunternehmer-Philosophie missbrauchen, noch auf eine Kleinhändler-Ideologie reduzieren. Der Liberale hat bei der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft allerdings eifersüchtig darauf zu achten, dass nicht auch die bürgerlichen Freiheiten verlorengehen.

Die Theorie von der Mobilisierung des Egoismus als Motor allgemeinen wirtschaftlichen Fortschritts war ja auch ohne Zweifel erfolgreich und ist es in Grenzen noch heute. Doch bald zeigte sich, dass absolute Vertragsfreiheit, das freie Spiel der Kräfte, nich zum vollkommenen Wettbewerb führen… Heute sehen wir noch viel klarer, dass Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu einer immer größeren Ungleichheit führten, welche die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit kleiner Gruppen unerträglich einschränkt. Die Vermögenskonzentration in den westlichen Industriegesellschaften führt selbst bei wachsendem Lebensstandard und steigernder sozialer Sicherung der lohnabhängigen Massen zu einer Disparität, welche der Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht.

Verteilungsinstrument ist das Steuersystem, über das Investitionen, Abschreibungen und Abschöpfungen nach gesamtgesellschaftlichen Gesichtspunkten gesteuert werden können. Das Problem der kapitalistischen Staaten besteht nicht darin, dass der gesellschaftliche Ausgleich durch das Steuersystem nicht möglich ist, sondern in der Tatsache, dass es weitgehend nach den Wünschen und Interessen ›der Wirtschaft‹ gestaltet und gehandhabt wird. An den Kapitalismus bleibt die alte marxistische Frage nach dem ›Mehrwert‹ gestellt. Es bleibt ein Geheimnis jeden Wirtschaftens, dass der Zusammenklang der Produktionsfaktoren am Ende mehr ergibt als die Summe der Kosten der einzelnen Faktoren.

Der Unternehmer haftet bei Kapitalgesellschaften nur mit seiner Einlage, der Manager oder Arbeitnehmer häufiger mit seiner ganzen Existenz, vor allem, wenn er älter ist. Das Schlimmste, was dem Unternehmer passieren kann, ist ein ›Heruntersinken‹ auf den Status seiner Arbeitnehmer, dass er auch vom Verkauf seiner Arbeitskraft leben muss, wie die große Mehrheit ohnehin. Dazu kommt, dass bei großen Unternehmungen nur die Gewinne privatisiert werden, die Verluste dagegen sozialisiert.

Der Kapitalismus wird entweder weiter konzentrieren und ›feudalisieren‹ und dann eines Tages hinweggefegt werden – oder er wird neue Wege einer echten Eigentumsstreuung finden. Er wird vor allem im Konsumgüterbereich auch in Zukunft für  den Markt als Nachfragevermittler produzieren, aber einen zunehmenden Kapitalstock für die großen, unabweisbaren öffentlichen Zukunftsinvestitionen bereitstellen müssen. Wir werden immer häufiger vor die Frage gestellt werden, ob alles, was zu produzieren technisch möglich ist, was marktgerecht und absetzbar scheint, zu produzieren auch sinnvoll ist. Das man an einem dumm klingenden Beispiel deutlich werden. Ist es für eine Volkswirtschaft sinnvoller, Milliardeninvestitionen vorzunehmen, damit eine kleine Gruppe von Menschen künftig für den Weg von Frankfurt nach New York zwei Stunden weniger benötigt oder könnte man damit noch ein wenig warten, um erst den Massennahverkehr in den Ballungsgebieten in den Griff zu bekommen? 

Immer mehr wird technisch machbar, aber die Ökonomie zwingt zu Rangfolgen, und umso wichtiger werden Prioritäten bei den Großinvestitionen. Man kann die Entscheidung darüber wohl kaum Privatleuten anvertrauen, deren Legitimation durch den Zufall der Besitzgröße oder des Erbganges bestimmt wird. Das Problem des Privatbesitzes wird auch am Beispiel von Grund und Boden deutlich. Die Menschen werden immer zahlreicher, das Bodenangebot bleibt konstant. Relativ gesehen wird Boden sogar immer knapper. Diese Entwicklung zwingt einfach zu gemeinwirtschaftlicher Bodennutzung, zumindest aber zu einem modernen Bodenrecht mit stärkeren öffentlichen Eingrifffsmöglichkeiten. Die Freiheit der größeren Zahl zwingt hier auch vom liberalen Standpunkt zu einer Freiheitsbeschränkung einer kleinen privilegierten Gruppe.

Die Kehrseite des Eigentums des einen ist das Nichteigentum aller anderen. So wie es dem einen bestimmte Güter des Lebens zur freien Verfügung und zum ausschließlichen Gebrauch zu­ wendet, so schließt es zugleich andere von der Verfügung und dem Gebrauch eben dieser Güter aus. Da jedes private Eigentum ebenso wie jedes öffentliche Eigentum, das nicht dem Ge­meingebrauch gewidmet ist, zugleich den Freiheitsraum aller anderen einschränkt, kann sein Erwerb und Gebrauch, um der angemessenen und verhältnismäßigen Freiheit aller willen, selbst nicht unbeschränkt sein. 

Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtlichen Erfah­rungen bedroht durch die Tendenz zur Akkumulation von Be­ sitz und Geld, die die Reichen immer reicher werden läßt, und die Tendenz zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen. 

Die Tendenzen zur Akkumulation des privaten Kapitals, wie sie etwa in der Verzinsung des Geldes, aber auch in der Wertstei­gerung des Bodens sichtbar werden, sind einem über Gewinn­ streben und Marktnachfrage gesteuerten Wirtschaftssystem ebenso eigentümlich, wie die Tendenzen zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln. Sie sind die Kehrseite der durch eben diese Mechanismen gesicherten Lei­stungsfähigkeit eines solchen Wirtschaftssystems. 

Dem freien Selbstlauf überlassen müssen eben diese negativen Tendenzen, bei aller ungebrochenen Leistungsfähigkeit, dessen Menschlichkeit am Ende zerstören: durch permanente Überprivilegierung der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen, der Reichen gegenüber den Armen, der Produzenten gegenüber den Konsumenten, des Faktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit. 

In einer Gesellschaft, in der Besitz und Geld der Schlüssel für fast alle Betätigung der Freiheit ist, ist die Frage des gerechten Anteils an der Ertragssteige­rung der Wirtschaft und am Vermögenszuwachs der Gesellschaft nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage: sie ist die Freiheitsfrage schlechthin. 

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Und seien sie versichert, liebe Arbeiterinnen und Arbeiter, ich war selbst ein bisschen überrascht über meine Rede. Glück auf!

 


 

Die kursiv gesetzten Passagen stammen allesamt aus Karl-Hermann Flach: Noch eine Chance für die Liberalen. Eine Streitschrift, Frankfurt am Main 1971 und aus den Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik der Freien Demokratischen Partei, beschlossen auf dem Bundesparteitag in Freiburg vom 25./27. Oktober 1971. Wir kommen um den Hinweis nicht herum, dass die damalige FDP mehr vom Kapitalismus wusste als lange Zeit auch die SPD sich zu sagen traute. Wenn also am Ende »nur« die Sozialdemokratie selbst es sein würde, die sich des Geistes jener sozialliberalen Phase aktiv erinnern würde, wären wir schon sehr zufrieden.

Foto: Robin Krahl, CC-by-sa 4.0. Quelle: Wikimedia Commons.

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