Wirtschaft
anders denken.

Linker Widerspruch gegen »kapitalorientierte Positionen«: Die Memoranden zur Wirtschaftspolitik als Archiv

28.03.2018
OXI

Die Papiere der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sind eine Fundgrube für kritische Ökonomen. Nun gibt es das komplette Archiv der Memoranden. Das kann der linken Wirtschaftspolitik von heute nur hilfreich sein.

Die Bundesregierung habe in jüngster Zeit »Beschlüsse gefaßt und teilweise bereits durchgeführt, die die unterzeichnenden Wirtschaftswissenschaftler zu entschiedenem Widerspruch herausfordern«.

Mit diesen Worten beginnt ein am 4. November 1975 in Bonn vorgestelltes Papier einer Reihe von Ökonomen und Gewerkschafter. Zu den Unterzeichnern gehörten Professoren verschiedener Universitäten, auch Mitarbeiter des Wirtschafts- und sozialwissenschaftliches Institut der Gewerkschaften waren dabei. Der spätere SPD-Linke Detlev Albers hatte unterschrieben, namhafte kritische Ökonomen wie Rudolf Hickel, Jörg Huffschmid und Klaus-Peter Kisker ebenfalls. Ihr Memorandum trug den Titel »Für eine wirksame und soziale Wirtschaftspolitik«.

Es sollte der Beginn eines bis heute andauernden Bemühens sein, alternative wirtschaftspolitische Positionen in die Debatte zu bringen. Über die Jahre stießen auch Ökonominnen zu der zunächst extrem männerlastigen Veranstaltung. Die nächste Wortmeldung der alsbald in der Öffentlichkeit als »Memo-Gruppe« bezeichneten Ökonomen sollte zwar erst 1977 erscheinen. Das Papier mit »Vorschlägen zur Beendigung der Massenarbeitslosigkeit« war aber nicht nur deutlich ausführlicher geraten, es hatte auch noch mehr Unterstützer gefunden. In dem zweiten Memorandum setzten sie sich mit der Politik der damaligen sozialliberalen Regierung auseinander und formulierten eine »Kritik herrschender Konzepte aktueller Wirtschaftspolitik«, die sich damals unter anderem gegen die »Sanierungs-Konzeption« der »Wirtschaftsweisen« richtete, welche Sozialabbau, Lohnzurückhaltung und zu viel Staat gefordert hatten.

»Gegengutachten« zu den Veröffentlichungen des Sachverständigenrates

Man würde solche Einflüsterung des ökonomischen Mainstreams heute neoliberal nennen. Damals stand im 1977er Memorandum: »Damit wird in das wirtschaftspolitische Denken eine Vorstellung eingepflanzt, die so tut, als gäbe es im ökonomischen Prozeß lediglich ein wirtschaftspolitisches ›Fehlverhalten‹ von Gewerkschaften und Staat. Die profitorientierten und in zunehmendem Maße preissetzenden Unternehmen werden demgegenüber in einem ›naturhaften‹ Modus von ökonomisch wirkender ›Sachgesetzlichkeit‹ untergebracht und damit gegenüber wirtschaftstheoretischer Kritik und Therapie abgeschottet.«

Der Befund war so richtig, wie die Realität auch noch 40 Jahre später ganz ähnlich aussieht. Man lese nur die Empfehlungen der Mehrheit im Sachverständigenrat für die aktuelle Große Koalition.

Hier lag auch schon damals ein Motiv für die Herausgabe der Memorandum. Das erste von 1975, nur wenige Seiten dick, kommentierte die Folgen des ersten Haushaltsstrukturgesetzes, mit dem der Sozialabbau in der Bundesrepublik eingeleitet wurde. Ab 1977 fand man den bis heute üblichen Rhythmus – die Memorandum erscheinen jährlich in der Woche vor dem 1. Mai. Derzeit ist die Kurzfassung für die Ausgabe 2018 im Umlauf unter kritischen Ökonomen und Gewerkschaftern. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die eine Art Sekretariat und zugleich die Gesamtheit der Beteiligten ist, bittet dafür wie üblich »um möglichst breite Unterstützung«.

Das hat auch mit Diskurspolitik zu tun, mit der mangelnden Hegemoniefähigkeit linker oder auch nur kritischer Positionen in der Wirtschaftspolitik. »Die einseitig kapitalorientierte Position der Unternehmensverbände und der Bundesregierung treten in Deutschland auch deshalb mit besonderer Autorität auf«, heißt es bei der Memo-Gruppe, weil sie von der überwiegenden Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler »unterstützt werden. Hierdurch wird der Eindruck verbreitet, zur aktuell betriebenen – in erster Linie auf private Gewinnförderung gerichteten – Wirtschaftspolitik gäbe es aus wissenschaftlichen Gründen keine Alternative«.

Die Memoranden geben jährlich eine Gegenstimme zu Protokoll. Und inzwischen gelten die Papiere auch als so etwas wie die »Gegengutachten« zu den jährlichen Veröffentlichungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Zum ersten Mal sind nun sämtliche Memoranden auf einem Speichermedium zusammengefasst, ein umfangreiches Archiv, das nicht nur für historisch an Wirtschaftspolitik Interessierte eine Fundgrube ist, sondern auch einen Überblick über die Themen kapitalismuskritischer Ökonomik verschafft.

Zwar stehen im Zentrum der Memorandum vor allem Positionen, die um einen linken Keynesianismus oszillieren. Zugleich aber spiegelt sich in dem Archiv, welche Forderungen in der Arbeiterbewegung wann und warum aktuell waren, wie man früher und noch viel selbstverständlicher mit an Marx angelehnten Begriffen präzise Kritik am Kapitalismus übte und inwieweit wirtschaftspolitische Forderungen immer zugleich auch gesellschaftspolitische Ziele hatten.

Über 10.000 Seiten Gedächtnis wirtschaftspolitischer Kritik

1980 wandte sich das Memorandum »gegen konservative Formierung«, es war die Zeit der von Helmut Kohl ausgerufenen »geistig-moralischen Wende« nach rechts. »Die kapitalorientierten Kräfte«, hieß es in dem Papier, würden »in einer groß angelegten Kampagne« versuchen, »die verstärkte konservative Formierung von Wirtschaft und Gesellschaft als Alternative zur gegenwärtig betriebenen Politik zu profilieren. Diese Strategie kann die sozialökonomischen Probleme in der Bundesrepublik jedoch nicht lösen, sondern würde sie mittelfristig verschärfen.«

Heute liest sich das wie eine frühe also rechtzeitige Warnung vor den gesellschaftlichen Folgen einer Politik der Umverteilung nach oben, der Deregulierung, Kommodifizierung und Austerität. Wer über den Rechtsruck und die AfD spricht, wird nicht an der Frage vorbeikommen, welche Gründe es gab, dass die seinerzeit geforderte »energische Durchsetzung der Prioritäten für beschäftigungs- und bedürfnisorientierte Wirtschaftspolitik, für konsequente Demokratisierung der Wirtschaft und gleichberechtigte Kooperation in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen« keine Chance hatten. Eine Frage, die sich nicht nur an die SPD richtet, sondern auch an Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke insgesamt.

Die Archiv-Ausgaben, laut Memorandum-Gruppe »ein zitiersicheres, volltextrecherchierbares, über 10.000 Seiten umfassendes« Gedächtnis wirtschaftspolitischer Kritik und sozialökologischer Alternativen umfasst alle Memoranden von 1975 bis 2016, hinzu kommen noch diverse Sonderveröffentlichungen aus drei Jahrzehnten.

Die Titel der Ausgaben lesen sich wie eine kurze Geschichte der Bundesrepublik, durch eine linke wirtschaftspolitische Brille geblickt: »Gegen soziale Zerstörung durch Unternehmerherrschaft« (1984), »Mit Arbeitszeitverkürzung und Umweltprogrammen gegen die Krise« (1987), »Gegen Massenarbeitslosigkeit und Chaos – Aufbaupolitik in Ostdeutschland (1991), »Neuverteilung von Arbeit und Macht – Alternativen zur Bedienung der Oberschicht« (2008) und so fort. 2011 nahm ein Sondermemorandum das »Euroland in der Krise« in den Blick und schlug ein alternative »Sieben-Punkte-Programm zur Wirtschafts- und Währungsunion« vor.

Memorandum-Archiv und der lehrreiche Rückblick

Von heute aus betrachtet fällt beim Stöbern in älteren Memoranden die Selbstverständlichkeit auf, mit der auch Positionen vorgetragen werden, die auch viele Linke, damit ist nicht nur die gleichnamige Partei gemeint, heute offenbar für zu radikal halten.

»Wenn sich«, und die Unterzeichner des Memorandums von 1977 vermuteten dies stark, »herausstellen sollte, daß verstärkte gewerkschaftliche Mitbestimmung und Neuorientierung des staatlichen Sektors nicht ausreicht«, um der »Sicherung sinnvoller Arbeitsplätze, der Verbesserung des Lebensstandards und dem Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit für die Arbeitnehmer sowie wirksamer Umweltsicherung in der Bundesrepublik« zu dienen, wie die Memorandum-Gruppe ihre grundlegenden Ziele einmal beschrieben hat, müsse man eben »einen Schritt weiter gehen und die wichtigsten Schlüsselbereiche und unternehmen der privaten Verfügung entziehen, in gesellschaftliches Eigentum überführen und demokratisch legitimierter Planung und Koordination unterziehen müssen«. Eine solche Vergesellschaftung sei mit dem Grundgesetz vereinbar, hieß es damals. Und man sehe so ein Vorhaben »nicht in erster Linie als den verwaltungsmäßigen Akt der Enteignung, sondern als demokratische Kontrolle der Gesellschaft über die wirtschaftliche Entwicklung und bestmögliche Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse.

Es hat in früheren Jahren mehr Debatte über die Memoranden, die Konzeption einer alternativen Wirtschaftspolitik innerhalb kapitalistischer Verhältnisse, auch über die politischen Konsequenzen für die Linken gegeben. Das Memorandum-Archiv erweitert die Möglichkeit eines lehrreichen Rückblicks, man wird manche der Papiere anders lesen, wenn man auch die zum Beispiel in der Zeitschrift »Prokla« seinerzeit stattfindende Diskussion zur Kenntnis nimmt – auch hier ist inzwischen das Altarchiv digitalisiert worden.

»Demokratische Wirtschaftspolitik macht sich die Entwicklungsbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung zu eigen. Dies bedeutet gegenwärtig vor allem, für die Durchsetzung für die Durchsetzung des Rechts auf Arbeit für alle, für die Humanisierung des Arbeitslebens und die Sicherung einer angemessenen Reproduktion sowie für die Herstellung ökologisch vertretbarer Lebensverhältnisse aktiv zu werden«, so hat es Memo-Urgestein Rudolf Hickel 1982 in der »Prokla« einmal in einer Debatte über die Memoranden und die daraus resultierenden Strategiefragen formuliert.

Hilfreich gegen die prekäre Lage linker Wirtschaftspolitik

Man wusste damals freilich auch: »Unter kapitalistischen Systembedingungen« würden diese Ziele »systematisch verfehlt«. Das hat aber im Umfeld der Memoranden niemanden abgehalten, dennoch auch die unmittelbaren Spielräume auszuloten, die für die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen nutzbar sind. Es ging immer darum, das Feld der Profitlogik zu Gunsten der gesellschaftlichen Interessen einzuhegen.

Die Memoranden waren, schaut man sich zum Beispiel die wirtschaftspolitischen Ideen der aktuellen Bundesregierung an, nicht erfolgreich. Einerseits. Andererseits sind um die Veröffentlichung der Papiere Arbeits- und Debattenzusammenhänge entstanden, die das intellektuelle, ökonomiekritische Überwintern in Zeiten neoliberaler Hegemonie mit ermöglichten. Es mag noch andere gegeben haben. Und es mag auch manchem kritischen Linken zu wenig weitgehend sein, was da in den Memoranden diskutiert wurde.

Aber auch daraus könnte man lernen. Auch und gerade wegen der aktuell eher prekären Lage linker Wirtschaftspolitik sollte das Archiv der Memoranden hilfreich sein. Über den Zusammenhang von Kurzfrist- und Langfristforderungen, über die »Schwierigkeiten der Begründung« alternativer Wirtschaftspolitik überhaupt und über das immer wieder zutage tretende Problem, dass die herrschenden Eigentumsverhältnisse eine weitergehende Gestaltung der Produktionsweise im gesellschaftlichen Interesse blockieren, wird man heute jedenfalls trotz Internet und Globalisierung nicht grundsätzlich anders sprechen können als damals – als die Geschichte der Memoranden begann.

Das »Memorandum-Archiv 1975–2017« ist auf CD oder USB-Card erhältlich und kann bei der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik für 49 Euro bestellt werden

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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