Wirtschaft
anders denken.

Neue Sammlungsbewegung? Die Linken und das Form-Substanz-Problem

13.01.2018
Jenny Paul,Lizenz: CC BY-SA 4.0

Wagenknecht und Lafontaine trommeln für eine neue »Sammlungsbewegung«. In der Linkspartei kommt das nicht gut an. Und nicht nur dort. Was ist da los? Und was bedeutet es? Tom Strohschneider über neue Kohärenzen, Widersprüche und einen kleinen Stein, der in ein sehr großes Wasser geworfen wurde.

Die Debatte über eine neue »Sammlungsbewegung« geht weiter: Termingerecht zu einem parteipolitischen Event der Linkspartei und zum die SPD in Unruhe versetzenden Sondierungsergebnis hat nun Sahra Wagenknecht im »Spiegel« erneut die Werbetrommel für das Projekt gerührt. Schon zuvor hatte Oskar Lafontaine mehrfach in diese Richtung Vorstöße unternommen. Er glaubt, »dass für die politische Linke insgesamt in Deutschland die Zeit für einen Neuanfang gekommen ist«. Es brauche »eine neue Sammlungsbewegung der politischen Linken«, so Lafontaine – und immer wieder wird dann als Beispiel auf den Wahlerfolg von Jean-Luc Mélenchons Bewegung »La France insoumise« verwiesen.

In den Medien wird das Projekt vor allem durch zwei Brillen betrachtet: erstens als Teil der innerparteilichen Auseinandersetzungen bei der Linken, zweitens als Frage des Verhältnisses dieser zur SPD. Vor allem der erste Punkt ist gewiss schillernd, Geschichten über den »Zweikampf« der Vorsitzenden Katja Kipping und der Fraktionschefin Wagenknecht tragen dem Bedürfnis des medial-politischen Komplexes nach Personalisierung Rechnung.

Zugleich verspricht die gar nicht so neue Frontlinie eine bessere »Orientierung« – das früher übliche Raster der Strömungslogik, hier die Reformer, dort die Antikapitalisten, ist längst von komplizierteren Machtarrangements überholt. Und auch die inhaltlichen Bruchstellen haben sich unter dem Eindruck der Debatten über Flucht, Migration, Identitätspolitik und neue Klassenorientierung verschoben. Die realen Voraussetzungen der Linkspartei haben sich zudem verändert: dies vor allem durch die Neuzusammensetzung der Mitgliedschaft (jünger, urbaner, akademischer); was sich auch in Wahlergebnissen niederschlägt, die in eine ähnliche Richtung tendieren. Wobei dabei ein »stummer Faktor« nicht unterschlagen werden darf: Die Linkspartei wird auch deshalb jünger, weil ihr die wortwörtlich »alte« Basis im Osten wegstirbt.

Was war eigentlich das Ziel der Linkspartei-Gründung?

Wenn man sich die Vorstöße von Wagenknecht und Lafontaine ansieht, lassen sich im Grunde drei Aspekte erkennen – jeder für sich verdient eine eigene Bewertung. Erstens fällt auf, dass hier als führend bezeichnete Parteipolitiker ihrer eigenen Organisation attestieren, den Anforderungen der Zeit nicht mehr zu genügen – beziehungsweise dem, was die Protagonisten als Anforderung betrachten.

Lafontaine erklärte mit Blick auf die von ihm mitgegründete Linkspartei, »das Ziel, die Sozialdemokratie zu einer Kurskorrektur zu bringen, wurde nicht erreicht«. Wagenknecht verweist auf Mehrheiten in der Bevölkerung für einen sozialen Kurswechsel, meint aber – als Fraktionsvorsitzende – »solange das allein die Linke vertritt, kann daraus keine Regierungspolitik werden«. Hinzugefügt wird ein Zeitaspekt, sozusagen eine politische Ungeduld: »Um eine linke Volkspartei zu werden, müssten wir noch viel an Breite und Akzeptanz gewinnen. Das wäre auch ein Weg, aber er würde länger dauern«, so Wagenknecht.

In der Linkspartei folgen auf Äußerungen der Fraktionsvorsitzenden stets Reaktionen – in diesem Fall nannte zum Beispiel der Berliner Sozialstaatssekretär Alexander Fischer das Interview »bemerkenswert«. Es sei »wohl ein Novum, dass die Fraktionsvorsitzende einer Bundestagspartei zur Gründung einer neuen Partei aufruft.« Andere wollen zumindest darüber reden.

Fischer markierte zugleich den zweiten Aspekt, der die Vorstöße von Wagenknecht und Lafontaine charakterisiert: Die Aufrufe zu einer »Sammlungsbewegung« stehen bei beiden immer im Kontext einer Kritik an der Flüchtlings- und Migrationspolitik der Linkspartei. Diese Debatte läuft auch nicht erst seit gestern. Neben einem linksreformerischen Zweig, der auf eigene Ansätze etwa bei einem Einwanderungsgesetz pocht, geht es dabei auch und eigentlich zuvörderst um Fragen der politischen Werte und einer für die Zukunft einschneidenden Orientierungsentscheidung – nämlich der, welchen Stellenwert man nationalstaatlichen Formen der Politik zubilligt und wo darüber, mindestens europäisch, hinausgewollt wird.

Neue Kohärenzen, die mit neuen Widersprüchen einhergehen

Ein dritter Aspekt, der bei der Debatte um diese »Sammlungsbewegung« betrachtet werden könnte, reicht über die Linkspartei hinaus. Dass zwischen den bestehenden Formen der Politik und deren Substanz immer stärkere Widersprüche hervortreten, wird seit längerem beobachtet. Bei den Grünen zeigt sich diese ebenso wie bei der SPD – bei jeweils unterschiedlichen Frontlinien innerhalb der Organisationen. So bilden sich neue Kohärenzen, die zugleich mit neuen Widersprüchen einhergehen.

Salopp formuliert passen Boris Palmer, Oskar Lafontaine und Thomas Oppermann in der Migrationspolitik viel besser zusammen als sie es jeweils mit Teilen oder gar Mehrheiten der Mitgliedschaften ihrer bisherigen Parteien tun. Dasselbe ließe sich für andere politische Kernpunkte durchbuchstabieren, etwa in Fragen der Verteilungspolitik, der Ansichten über die (noch zu befreienden) solidarischen Ressourcen der EU und so fort. Stets wird man dabei auf neue Kohärenzräume stoßen. Und immer stehen diese dann in konfliktreichem Verhältnis zu den bestehenden Formen der Politik.

Je länger man also auf die Sache blickt, desto mehr Ebenen werden sichtbar. So könnte man sich lange der Frage widmen, ob Lafontaine mit der Idee »Sammlungsbewegung« nicht vor allem seine frühere Entscheidung, die SPD zugunsten einer anderen Partei zu verlassen, bereut (»Ich stelle mir natürlich manchmal die Frage, ob ich innerhalb der SPD mehr hätte bewirken können. Aber das ist vergossene Milch.«) und was das bedeutet. Man könnte sich ebenso lange der Frage zuwenden, ob die Sehnsucht nach personenfixierten politischen Bewegungen nicht schon daran krankt, dass sich Entwicklungen wie in Frankreich oder Großbritannien (auch Jeremy Corbyn wird gern genannt) nicht einfach so auf andere Länder übertragen, quasi: nachahmen lassen.

Top-Down-Charakter, Entdemokratisierung, Rückschritt

Eine weitere Frage bestimmt derzeit die ablehnenden Reaktionen auf dem sich weit links verortenden Flügel in der Linkspartei. Dort ist man über die Äußerungen von Wagenknecht und Lafontaine alles andere als begeistert. Im Umfeld der Antikapitalistischen Linken, dereinst einmal eine Art innerparteiliche Vorfeldorganisation von Wagenknecht, wird die Idee als »Wahlinitiative mit Top-Down-Charakter«, als Beitrag zur »Entdemokratisierung« der Partei und zu »einer programmatischen Rechtsentwicklung« zurückgewiesen.

In einer anderen Kritik heißt es, die Vorstöße bedeuteten »einen Rückschritt weit hinter die Positionen von Marx und Engels«, die damit »zu ihrer Zeit die moderne sozialistische oder zumindest antikapitalistische ArbeiterInnenbewegung begründeten«. Lafontaines »Idee einer Sammlungsbewegung auf Basis einer national beschränkten, etatistischen Kritik am Kapitalismus in Kombination mit den proudhonistischen Wirtschaftsvorstellungen seiner Ehefrau Sahra Wagenknecht, bedeuten in jeder Hinsicht einen politischen Rückschritt.«

»Sind personenfixierte Sammlungsbewegungen die politische Zukunft?«, wird im Übrigen eher skeptisch auch außerhalb der Linkspartei gefragt – in diesem Fall von Gustav A. Horn, dem Chef des gewerkschaftsnahen Wirtschaftsforschungsinstituts IMK. Dass Lafontaines und Wagenknechts Aufrufe zu einer »Sammlungsbewegung« bei den eigentlichen Adressaten, der SPD-Linken und bei linken Grünen, kaum auf Widerhall stoßen, beschreibt ebenfalls die derzeitigen Erfolgsaussichten.

Partei versus Fraktion, Apparat versus Basis

Damit wird, ob nun gewollt oder nicht, der Vorstoß zu einer »Sammlungsbewegung« vor allem zu einer Ableitung der innerparteilichen Auseinandersetzungen. Die Konflikte werden entlang durchaus üblicher Fronten geführt: Welche Rolle spielt die Partei gegenüber der in der Regel mit den größeren Ressourcen ausgestatteten Fraktion? Wie stark sind die Widersprüche zwischen den Eigenlogiken im Parlamentsbetrieb und den demokratischen Ansprüchen der Basis?

Auf diesen Aspekt hat die »Sozialistische Linke« bereits kurz nach der Bundestagswahl hingewiesen. »Auseinandersetzungen um die Aufstellung der Fraktion und der Partei gehen die gesamte Partei, alle Mitglieder, an. In linken Parteien kann es keine Unabhängigkeit der Fraktion von der Partei geben, sondern es muss nicht nur eine enge Verzahnung, sondern auch ein Primat der Partei (also der vielen Tausend aktiven Mitglieder, des Parteitages und des von ihm gewählten Parteivorstandes) geben. Das heißt: Die Abgeordneten sind an das Wahlprogramm und Beschlüsse der Partei gebunden, auch wenn es in bürgerlichen Repräsentativdemokratien kein imperatives Mandat gibt. In bürgerlichen Parteien dominiert, das ist eine alte Erkenntnis marxistischer Staats- und Parteientheorie, die Spitze des Fraktionsapparates über die Medien, informelle Netzwerke und ihre bezahlten MitarbeiterInnen die politische Willensbildung.«

Weiter heißt es dann, dies sei in der Linkspartei nicht der Fall – was in der Linken auch anders gesehen wird. Der Nachsatz »Soweit darf es aber auch nicht kommen« verweist aber auf zumindest auch in diesem Flügel bestehende Sorgen. Die Schlussfolgerung: »Statt über mehr Personalisierung sollten wir darüber diskutieren, wie die innerparteiliche Demokratie in der Partei wie der Fraktion gestärkt werden kann.« Auch innerhalb der »Sozialistischen Linken« bestehen so wichtige Meinungsunterschiede in zentralen Fragen, dass zu der zitierten Erklärung ein »Minderheitenvotum« abgegeben wurde. Das kann als weiteres Indiz für das oben angerissene Form-Substanz-Problem betrachtet werden.

Der Bremsweg eines großen Frachtschiffes

Hinzu kommt, dass frühere Konflikte in der Linkspartei starke »Tankereigenschaften« haben – das heißt, sie wirken lange nach, so wie der Bremsweg eines großen Frachtschiffes recht lang sein kann. Da nun in diesem Jahr die Wahl der Parteispitze auf dem Terminkalender steht, ist es kaum möglich, die »Sammlungsbewegung« nicht auch als »Sammlung« von Truppen für die anstehenden Abstimmungen zu betrachten. Die Vorsitzende Katja Kipping, die von Lafontaine unmittelbar nach der Wahl unter Beschuss genommen worden war, hat auf die Sammlungsrufe aus dem Saarland übrigens mit den Worten reagiert: »Verbinden und nicht spalten – so beginnt jede wirkliche Sammlung und jeder Aufbruch.«

In diesem Zusammenhang wird wohl auch eine weitere innerparteiliche Initiative bewertet werden – die nicht zufällig auch mit dem Begriff »Sammlung« operiert. Man ergreife »das Wort, weil wir unsere Partei als unverzichtbaren Teil linker Bewegung begreifen, als Teil des Lagers der Solidarität, das sich dem gesellschaftlichen Rechtsruck mit antirassistischem und antifaschistischem Engagement entgegenstellt und weil wir wissen, dass der Kampf um soziale Rechte, um gute Arbeit und gerechte Verteilung und der gegen Diskriminierungen jeder Art untrennbar zusammen gehören«, heißt es in einem neuen Aufruf.

Das ließe sich einerseits als Absage an Lafontaine und Wagenknecht verstehen, da hier die Linkspartei selbst schon als die »die zentrale Sammlungsbewegung in Deutschland« bezeichnet wird: »Ein medialer Wahlverein kann keine Alternative zu einer pluralen und demokratisch verfassten Partei sein, die verschiedene Milieus verbindet und in realen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen verankert ist.«

Und noch ein Aufruf aus der Linkspartei

Der Aufruf könnte ebenso als Beitrag zu der schon länger laufenden Debatte über die Rolle sozialer und kultureller Aspekte linker Politik betrachtet werden, nicht selten verkürzt als vermeintlicher »Gegensatz« von Identitätspolitik und Klassenpolitik beschrieben – das »untrennbar« in dem Aufruf markiert einen Standpunkt, der das Gemeinsame beider Aspekte betont.

Es wäre aber verkürzt, den Aufruf ausschließlich daran zu messen, welche Kritik er an den Vorstößen von Wagenknecht und Lafontaine äußert. Es tauchen darin Begriffe auf, die zur innerparteilichen Standortbestimmung der Linken schon seit Jahrzehnten gehören – dabei geht es um Grundansichten etwa zur Außenpolitik und zum Verhältnis zur EU.

Bisher war es immer schon so, dass sich Lagerbildungen, und seien es auch nur vorübergehende, um solche Begriffe herum organisierten. Der Aufruf zieht hier auch unsichtbare Grenzen zu anderen Lagerbildungen in der Linkspartei. Diese waren in der Vergangenheit in bestimmten Strömungsorganisationen kondensiert. Für diese scheint aber auch zu gelten, was oben mit Blick auf die aktuelle politische Landschaft generell formuliert wurde: »So bilden sich neue Kohärenzen, die zugleich mit neuen Widersprüchen einhergehen.«

»Eine zweite Achse« ins Parteiensystem gedreht

Bernd Ulrich hat unlängst in der »Zeit« auch auf dieses Problem hingewiesen. Er beschreibt es als »eine zweite Achse«, die ins Parteiensystem gedreht worden sei – »liberal/autoritär, global/national, ökologisch/gegenwartsrabiat, multikulturell/homogenistisch«. Das ist sozusagen die große Bühne, auf der sich eben auch die Debatten in der kleinen Linkspartei abspielen. Wer dem Theater beiwohnt, versteht manche Akte besser, wenn er zu unterscheiden weiß zwischen dem, was innerparteiliche Bedeutung hat, und dem, wo das Agieren der Protagonisten eher Ausdruck größerer, die ganze Gesellschaft ergreifender tektonischen Verschiebungen ist.

So oder so lässt sich Ulrichs vorläufige Bilanz zitieren: »Wie sich das alles nun neu mischt, bleibt vorerst offen. Dass es noch lange so bleibt, wie es war, scheint allerdings unwahrscheinlich. Lafontaine hat einen kleinen Stein geworfen – aber in ein sehr großes Wasser.«

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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