Wirtschaft
anders denken.

Linkskeynesianismus an der Regierung: Das britische Nachkriegskabinett Clement Attlees

19.03.2018
GemeinfreiClement Attlee bei Arbeiterinnen in Hereford

»Im gesamtwirtschaftlichen Interesse«: Das britische Nachkriegskabinett Clement Attlees gilt bis heute als Paradebeispiel für Linkskeynesianismus an der Regierung. Die Bilanz war allerdings ernüchternd. Ein Text aus dem OXI-Schwerpunkt zur linken Wirtschaftspolitik.

Wenn aktuell über linke Wirtschaftspolitik gestritten wird, so geschieht dies in den allerseltensten Fällen in sozialistischer Perspektive. Die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Lohnarbeitsverhältnisses als Ziel auszugeben, und wenn auch nur als sehr entferntes, wie dies noch die frühen Theoretiker reformistischer Programme in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, vor allem Eduard Bernstein oder Rudolf Hilferding, propagiert hatten, erscheint nicht nur angesichts der Kräfteverhältnisse selbst gedanklich absurd zu sein.

Nach den Hunderten – gemessen an den Ansprüchen vieler ihrer Wähler, nicht aber ihrer Funktionalität für das Kapital – gescheiterten sozialdemokratischen Regierungen und dem unappetitlichen Erscheinen des Staatssozialismus und seines Untergangs ist die Linke bescheiden geworden.

Unter dem stets wiederkehrenden Beharren auf einem »gesamtwirtschaftlichen Interesse« – dem Versprechen, durch die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen und Subalternen auch eine Stabilisierung des Kapitalismus zu erreichen – zeichnen sich die Konzeptionen der linkeren sozialdemokratischen Parteien, wie die von Syriza, Podemos, der deutschen Linkspartei oder den progressiven US-Demokraten um Bernie Sanders, und auch die vieler antineoliberaler Bewegungen vielmehr dadurch aus, dass sie den Marxismus zugunsten eines linken Keynesianismus haben fallen lassen.

Im Zentrum ihrer Forderungen stehen dabei die aus dem »Goldenen Zeitalter« der Nachkriegszeit bekannten Maßnahmen der (Re-)Verstaatlichung zentraler Infrastrukturbereiche, der Regulierung des Finanzsektors sowie des Arbeitsmarktes und vor allem staatlicher Nachfrageerhöhung durch weitere Konjunkturpakete und die Ausdehnung sozialstaatlicher Maßnahmen.

Die Rolle eines Juniorpartners im Kapitalismus

Ganz neu ist dies nicht. Denn seinen Ursprung hatte dieser »linke Keynesianismus« als adäquate Theorie der Regierungsfähigkeit für die seit dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in staatspolitische Verantwortung gekommenen sozialdemokratischen Parteien, die die längst zur Makulatur gewordenen Aufrufe zum Kampf der Klassen in den Programmen ersetzte.

In der Folge der Weltwirtschaftskrise, die in allen politischen Lagern die Illusion eines krisenfesten Kapitalismus nachhaltig zerstört hatte, hatte eine seiner wichtigsten Theoretikerinnen, die Britin Joan Robinson, diese politische Perspektive auf den Punkt gebracht: »Augenscheinlich ist die Arbeiterbewegung nicht daran interessiert, auf der ganzen Linie einen Vorstoß auf den Sozialismus zu machen. Warum sollte sie dann nicht die Rolle eines Juniorpartners im Kapitalismus akzeptieren und ihn mit allen Kräften unterstützen, damit er prosperiert und Dividenden zahlen kann?«

Die Arbeitenden und die Krisenzyklen

Präziser noch forderte der ehemalige Marxist John Strachey in dem mit Sicherheit wichtigsten Werk dieser linkskeynesianischen Strömung, seinem 1956 erschienenen Buch »Contemporary Capitalism«, dass sich der »Anstieg des Arbeiter-Lebensstandards in einem zur Abwendung wirtschaftlicher und sozialer Krisen notwendigen Tempo fortzusetzen« habe. Denn nur diese Erhaltung der inneren Absatzmärkte könne dem Kapitalismus »das Fortbestehen« dauerhaft ermöglichen – und die Arbeitenden damit von dessen Zyklen unabhängig machen.

Das »Paradebeispiel« einer solchen Politik sah Strachey in der von Clement Attlee geführten Labour-Regierung der Jahre 1945 bis 1951, der er selbst seit 1946 als Ernährungsminister und später als Staatssekretär im Kriegsministerium angehörte und die sich sowohl auf die seit 1940 von ihm und anderen erarbeiteten Konzepte berief, als auch auf Joan Robinson als Beraterin zurückgriff.

Auch Wolfgang Abendroth lobte in seiner »Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung«, einem Werk, das einer ganzen Generation vor allem deutscher Linker diese durch den Nationalsozialismus verschütt gegangene Tradition wieder zugänglich machte, ausdrücklich die »Reformen zugunsten der Arbeiterklasse und der Demokratisierung Englands«, die er der halbherzigen Politik der deutschen SPD gegenüberstellte.

Blick auf die Wirtschaftspolitik unter Attlee

Grund genug also, angesichts der Renaissance des Linkskeynesianismus einen genauen Blick auf die Wirtschaftspolitik unter Attlee zu werfen. Es waren vor allem drei Erfolge, die Strachey als Beleg für die Verbesserungen der »Lebenshaltung der britischen Arbeiterklasse« anführte: die Reform der Sozialversicherungen, die Nationalisierungen wichtiger Industriezweige und vor allem die Erhöhung der Lohnquote um zehn Prozent zwischen 1945 und 1949, die zuvor über Jahrzehnte stabil bei etwa 40 Prozent gelegen hatte.

Letzteres war allerdings bei genauem Hinsehen weniger auf die Erhöhung der Reallöhne als auf die annähernde Vollbeschäftigung zurückzuführen. Um drastische Lohnforderungen angesichts der verbesserten Kampfbedingungen der Gewerkschaften zu unterbinden, wurde demgegenüber sogar die von der aus Konservativen und der Labour-Party gebildeten Kriegsregierung erlassene »Order 1305« in Kraft belassen, die die Tarifautonomie beseitigt, Streiks verboten und Zwangsschlichtungen institutionalisiert hatte.

So stiegen die Löhne lediglich analog zur Entwicklung der Produktivität, was vor allem Robinson eindringlich empfohlen hatte und eine Konstante keynesianisch inspirierter Maßnahmen, vom New Deal bis zur Konzertierten Aktion in der BRD, darstellte. Durch das enge Bündnis mit den Gewerkschaften konnte die Regierung seit 1948 gar eine Phase der Lohnstopp-Politik durchsetzen, die ab 1950 die Gewinne der Unternehmen auf Kosten der Lohnquote wieder drastisch ansteigen ließ.

Truppen als Streikbrecher ausgesandt

Zudem gelang es Labour besser, als es bei einer konservativen Regierung denkbar gewesen wäre, den sozialen Frieden zu erhalten und somit höhere Lohnforderungen schon im Keim zu ersticken. In der gesamten Regierungszeit gab es insgesamt lediglich etwa 12,7 Millionen Streiktage, während im selben Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg noch über 187,5 Millionen Tage durch Ausstände verloren gegangen waren. Gegen die, die diesen Frieden zu stören drohten, ging die Regierung mit ungeahnter Härte vor. Bei insgesamt zehn Anlässen wurden Truppen als Streikbrecher ausgesandt und auch die Notstandsartikel des »Emergency Powers Act« von 1920 kamen erstmalig seit dem Generalstreik von 1926 wieder gegen Streikende zum Einsatz.

Auch die Nationalisierungen brachten kaum die grundlegende »Strukturreform«, als die Strachey sie dargestellt hat. Mit Ausnahme der teilweisen Verstaatlichung der Stahlindustrie, die nach dem Wahlsieg der Konservativen 1951 wieder rückgängig gemacht wurde, betrafen sie ausschließlich defizitäre Bereiche, sodass angesichts der üppigen Entschädigungen für die Eigentümer eher von einer Sozialisierung der Verluste gesprochen werden konnte.

Die Nationalisierungen der Kohle- und Gasförderung sowie der Elektrizitätswerke und des öffentlichen Transports waren bereits in den 1930er Jahren von den Königlichen Kommissionen dringend empfohlen worden, in denen konservative und liberale Ökonomen das Sagen gehabt hatten. Dass es keinerlei Einsprüche von Seiten der betroffenen Eigentümer gab, verdeutlicht, dass dies keineswegs einen Einbruch in die privatwirtschaftliche Ordnung darstellte, sondern die Profitrate im nationalen Maßstab stabilisiert beziehungsweise erhöht werden sollte. Zudem wurden die nationalisierten Unternehmen nicht in die Hände der Beschäftigten gegeben, sondern den zuständigen Ministerien unterstellt, was alles andere als der im Labour-Programm geforderten »Arbeiterkontrolle« entsprach.

Schaffung des »National Health Service«

Etwas besser sah die Bilanz in dem dritten Maßnahmenkatalog aus. Die Schaffung des »National Health Service«, die stark von dem Gesundheitsminister der Regierung, dem linken Labour-Abgeordneten Aneurin Bevan, geprägt war, schaffte tatsächlich erstmals ein allen Bürgern zugängliches Gesundheitssystem. Hier wurde endlich nachvollzogen, was in den meisten Industrieländern bereits existierte.

Dagegen blieben die eingeführten Sozialversicherungssysteme der Arbeitslosen-, Renten- und Unfallversicherung weit hinter den Erwartungen zurück. Nicht nur waren ihre Sätze ausgesprochen gering angesetzt, sondern vor allem beruhten sie auf dem System der allein von den Lohnabhängigen getragenen Beitragsfinanzierung, was die Labour-Party selbst im Vorfeld des Krieges noch abgelehnt hatte. Die langen Beitragszeiträume, nach denen Leistungen überhaupt erst in Anspruch genommen werden konnten, bedeuteten zudem, »dass gerade diejenigen keine Unterstützung bekommen, die sie am meisten brauchen«, wie der Labour-Dissident Denis Pritt in seiner Untersuchung über das Kabinett Attlee kritisch anmerkte.

Ernster nahm das Kabinett die Erhöhung der staatlichen Nachfrage – allerdings vor allem im Rüstungssektor. Im September 1948 legte die Regierung ein Aufrüstungsprogramm auf, dass den Bestand an Kampfflugzeugen verdoppelte, die Ausrüstung der Armee verbesserte, ein neues Flottenbauprogramm in Angriff nahm und die Wehrpflicht von 12 auf 18 Monate erhöhte. Es handelte sich um den größten in Friedenszeiten aufgelegten Wehretat der Geschichte des Vereinigten Königreichs, der die Fortsetzung der Kolonialpolitik und die Intervention im griechischen Bürgerkrieg ermöglichte.

Nicht viel anders als eine konservative Regierung

So fällt die Bilanz der ersten britischen Nachkriegsregierung und des Vorbilds vieler folgender sozialdemokratischer Regierungen in Europa ernüchternd aus. »Die Labour-Regierung handelte nicht viel anders, als auch eine konservative Regierung gehandelt hätte«, so das Fazit Christoph Deutschmanns in seiner Studie »Der linke Keynesianismus«.

Von den beiden Zielen, die Strachey für die linkskeynesianische Politik vorgegeben hatte, »dem System das Fortbestehen zu ermöglichen« und »die Lebensbedingungen der Arbeiter erträglicher« zu gestalten, ist vor allem Ersteres erfüllt worden. Dies weniger wegen des oft gehörten Verratsvorwurfs, vielmehr, weil die Handlungsfähigkeit jeglicher Regierungspolitik, auch der reformistischsten, letztlich auf der Akkumulationsfähigkeit des nationalen Kapitals beruht.

Und auch strategisch scheiterte Labour. Jeglicher Dynamik beraubt, mit der die Regierung gestartet war, läutete die Wahlniederlage von 1951 eine zwanzigjährige Herrschaft der Tories ein, der Labour wenig entgegenzusetzen hatte. Bei aller Geschichtsvergessenheit der gegenwärtigen Linken sollte man zumindest dies zur Kenntnis nehmen.

Geschrieben von:

Axel Berger

Historiker

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