Löhne rauf, Renten rauf, kurze Vollzeit für alle
Löhne, Rente, Vollzeit und Populismus sind die Stichworte, die den Wirtschaftssoziologen Prof. Klaus Dörre von der Friedrich-Schiller-Universität Jena in seiner Forschung beschäftigen. 2017 war er eingeladen, am 1. Mai die Festrede zur DGB-Kundgebung in Braunschweig zu halten. oxiblog.de dokumentiert hier seine Rede.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist der 1. Mai und es redet ausgerechnet ein Soziologe! Auch das noch, werden viele von euch gedacht haben. Und ich gestehe, diese Rede halte ich mit gehörigen Manschetten. Es gibt aber einen wichtigen Grund, weshalb ich diese Rede gerne übernommen habe.
Gegenwärtig erleben wir eine Zeitenwende. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass wir uns am 1. Mai treffen – und der US-Präsident heißt Donald Trump? Und wer hätte ernsthaft geglaubt, dass ein rassistischer Hassprediger und Kriegsbefürworter wie Stephen Bannon zeitweilig im nationalen Sicherheitsausschuss der USA sitzen konnte – einem Gremium, das über den Einsatz von Atomwaffen entscheidet?
Trump steht für eine brandgefährliche Entwicklung, die manche das Zeitalter des Postfaktischen nennen. Man kann es auch deutlicher sagen: Die Lüge hat der Wahrheit den Kampf angesagt. Mit sogenannten alternativen Fakten schaffen sich Populisten vom Schlage Trumps ihre eigene Wahrheit. Von Menschen gemachter Klimawandel, wie weit mehr als 90 % der Wissenschaftler behaupten? Fake News, sagt Trump, von den Chinesen in die Welt gesetzt, um der US-amerikanischen Wirtschaft zu schaden. Das erinnert an George Orwells Roman 1984. Dort indoktriniert ein Ministerium für Wahrheit die Menschen mit »Neusprech«:
Krieg ist Frieden.
Freiheit ist Sklaverei.
Unwissenheit ist Stärke.
(George Orwell, 1984, S. 23)
lautete die Botschaft, mit der in Orwells 1984 regiert wurde.
Gegen »Neusprech« hilft nur die Wahrheit, helfen nur Fakten! Und Fakten brauchen Öffentlichkeit. Wo die Wahrheitssuche bedroht ist, haben WissenschaftlerInnen keine Wahl. Sie müssen den Elfenbeinturm verlassen und sich mit allen verbünden, die ein Interesse an Fakten haben, weil modischer »Neusprech« sie mit Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Unsicherheit und Ausbeutung aussöhnen will.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das für mich kein gewöhnlicher 1. Mai! Wir sind viele, wir sind eins, das wird in Zukunft nur funktionieren, wenn wir, wenn ArbeitnehmerInnen und WissenschaftlerInnen gemeinsam dafür sorgen, dass es Öffentlichkeiten gibt, in denen Fakten Fakten bleiben.
Ungerechte Gesellschaft
Mit der Wahrheitssuche sollten wir in der eigenen Gesellschaft beginnen. Lauscht man den Worten mancher Arbeitgebervertreter und nicht weniger Politiker, so leben wir in einer Gesellschaft, in der ständig alles besser wird. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt unentwegt, die Erwerbstätigkeit erreicht Rekordniveau, die Löhne steigen wieder und im Vergleich mit anderen europäischen Ländern geht es uns allen richtig gut. Das alles trifft zu und doch ist es nicht einmal die halbe Wahrheit. Betrachten wir die Fakten:
- Erstens: Deutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten Welt. Das räumen selbst liberale Ökonomen wie Marcel Fratzscher ein. Das oberste Tausendstel der Gesamtbevölkerung verfügt bei uns – konservativ geschätzt – über 17 % des Gesamtvermögens; die reichsten zehn Prozent besitzen einen Anteil von mehr als 64 %. Würde man 000 Euro Vermögen mit einem Zentimeter abbilden, läge das Durchschnittvermögen dann bei ca. 1,8 cm. Würde man hingegen z.B. das Vermögen des einstmals reichsten Deutschen, des Herrn Albrecht von den Aldi-Märkten, abbilden, dann müsste die Säule 4,14 km groß sein! Es handelt sich, sprechen wir es ruhig aus: um Klassenunterschiede! Um Klassenunterschiede mit einer Reichtumskonzentration, die sinnlich gar nicht vorstellbar ist. Doch nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich vergrößert, auch die Einkommensungleichheit unter Lohnabhängigen hat zugenommen. Vier von 10 ArbeitnehmerInnen verdienen heute weniger als noch Mitte der 1990er-Jahre. Auch die Lohnsteigerungen der letzten Jahre, die die Gewerkschaften teilweise in harten Auseinandersetzungen erstreiten konnten, haben die ungerechten Verteilungsverhältnisse nicht grundlegend verändern können. Die Lohnquote stagniert noch immer auf einem Niveau, das deutlich unter dem der 1990er-Jahre liegt.
- Zweitens ist die Bundesrepublik zu einer prekären Vollerwerbsgesellschaft geworden, in der die Erwerbslosigkeit durch Ausweitung unsicher Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zum Verschwinden gebracht wird. Das Volumen bezahlter Erwerbsarbeitsstunden ist trotz einer Rekordzahl an Erwerbstätigen in den letzten 25 Jahren um 12 % gesunken und liegt noch immer unter dem Niveau von 1991. Schön, könnte man sagen, aber die Arbeit wird höchst ungleich verteilt. Jeder fünfte Arbeitnehmer, das sind 7,5 Mio., arbeitet in Teilzeit, einem Minijob, einem befristeten oder einem Leiharbeitsverhältnis. Jedes dieser Beschäftigungsverhältnisse ist mit einem überdurchschnittlich hohen Armuts- und Beschäftigungsrisiko verbunden. Betroffen sind vor allem Frauen in Dienstleistungsberufen. Hinzu kommt: Deutschland hat trotz gesetzlichem Mindestlohn noch immer einen der größten Niedriglohnsektoren der industrialisierten Welt, der kontinuierlich zwischen 22 und 24 % der Erwerbstätigen umfasst. Mehr als zehn Prozent der Vollzeitbeschäftigten sind Niedriglöhner. Auch bei der steigenden Zahl von Soloselbstständigen handelt es sich überwiegend um prekäre Beschäftigte. Für fünf Millionen ArbeitnehmerInnen ist der Minijob die einzige Erwerbsquelle. Das sind oft 100-Euro-Jobs oder »Arbeit auf Abruf«. Das gilt für viele Verkäuferinnen im Einzelhandel oder auch für Beschäftigte in der ambulanten Pflege. Da arbeiten fast 20 % in Minijobs und für Minilohn. Ohne Lohnfortzahlung bei Krankheit oder Urlaub. Ohne soziale Absicherung im Alter. All das trifft besonders Frauen, sie haben bis zu 60 % der Minijobs. Ca. fünf Prozent der Beschäftigten sind Multijobber. Viele von ihnen üben mehrere Erwerbstätigkeiten aus, weil sie sich und ihre Familien nur auf diese Weise finanzieren können. Das deutsche Jobwunder hat eine dunkle Seite, die in der Ausbreitung prekärer und deshalb unwürdiger Arbeit besteht.
- Drittens dürfen wir nicht vergessen, dass in Deutschland noch immer Millionen Menschen an oder unter der Schwelle gesellschaftlicher Respektabilität leben. Diese Schwelle bezeichnet in Deutschland »Hartz IV«. Es gibt einen harten Kern von etwa einer Mio. Menschen, der über zehn Jahre hinweg niemals aus dem Hartz-IV-Bezug herausgekommen ist. Mehr als 3 Mio. sind seit Jahren auf Hartz IV angewiesen. Sie sind dies nicht, weil sie zu wenig Eigeninitiative zeigen. Diese Menschen haben das Gefühl, sich in einem Hamsterrad zu bewegen. Auf die Arbeitslosigkeit folgt der Gelegenheitsjob, das Praktikum, die Fortbildungsmaßnahme – und das alles, um am Ende doch wieder im Leistungsbezug zu enden oder niemals aus ihm heraus zu kommen. Hamsterrad, das heißt: Man rennt und rennt, nur um am Ende doch auf der Stelle zu treten. Diese Menschen fühlen sich als Halbbürger, als Menschen zweiter Klasse. Das dürfen wir nicht hinnehmen, denn die, die keine Chance auf würdige Arbeit haben, gehen uns alle an.
Nichts fürchten ArbeitnehmerInnen mehr, als auf eine Position zurückzufallen, die ihnen ihre Würde nimmt. Diese Angst ist es, die viele zur Aufnahme einer unsicheren, schlecht bezahlten, wenig anerkannten und deshalb prekären Arbeit bewegt. Und der große Bereich mit unsicherer Arbeit hängt wie ein Bleigewicht am Tarifsystem. Wird nicht gegengesteuert, zieht er Löhne und Arbeitsstandards immer weiter nach unten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
all das sind Fakten. Sie zeugen von Ungleichheit, Unsicherheit und Ausgrenzung. Und sie belegen: Bei uns geht es nicht allen ständig besser! Aber es muss uns auch nicht ständig schlechter gehen, um unzufrieden zu sein. Gerade der Rückgang der Arbeitslosigkeit kann dazu führen, dass diejenigen, die hinter der medial vermittelten Welt des Jobwunder-Landes zurückbleiben, nun beginnen, ihre Ansprüche an gute Arbeit und ein gutes Leben selbstbewusster, teilweise aber auch mit Verbitterung vorzutragen. Ein von uns befragter Gewerkschafter hat eine in den Betrieben verbreitete Stimmung mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht:
»Es ist nicht einfach Angst, es ist eine Mischung von vielen Einflüssen, die Arbeitnehmer unzufrieden macht. Man kann fest angestellt sein und verdient doch nicht genug, um sich ein Leben leisten zu können, wie es die Medien als normal darstellen. Viele haben das Gefühl, in einer prosperierenden Gesellschaft nicht mithalten zu können, den Anschluss zu verlieren. Für diese Probleme gibt es aber keine gesellschaftliche Öffentlichkeit. Arbeiter kommen nirgendwo vor.«
Keiner der von uns befragten Arbeiter und einfachen Angestellten würde sich als arm bezeichnen. Aber es gibt das verbreitete Empfinden, in einem Wagon zu sitzen, der vom dahinbrausenden Wohlfahrtszug abgekoppelt ist. Man fühlt sich unverschuldet abgehängt. Und das erzeugt Unmut, Wut Frust, und zwar zu Recht!
Demokratisch umverteilen
Täuschen wir uns nicht. Wenn sich solche Ungerechtigkeitserfahrungen verfestigen, ist das demokratiegefährdend! Es steht zwar nicht im Armuts-Reichtumsbericht der Bundesregierung, aber es trifft dennoch zu. Wer am wenigsten besitzt, der hat auch die geringsten Möglichkeiten, seine Interessen politisch durchzusetzen! Und wer nichts durchsetzen kann, verliert das Interesse an Parteien, Wahlen und damit letztendlich auch an der Demokratie. Dem können wir entgegen wirken. Durch Umverteilung von oben nach unten, von den Reichen zu den Armen! Fünf Gerechtigkeitsprojekte scheinen mir vordringlich:
- Projekt eins: Wir brauchen Löhne, die für ein gutes, erfülltes Leben reichen! Das muss deutlich mehr sein als 8,50 Euro! Ein Pakt für anständige Löhne klingt attraktiv, es kommt aber darauf an, dass den Worten Taten folgen. Gerade bei jungen Leuten erleben wir so etwas wie ein Ende der Bescheidenheit. Für sie ist nicht einsichtig, dass sie, nur weil sie Leiharbeiter sind, bei einem Zulieferer oder in einem ausgegründeten Betrieb arbeiten, für die gleiche Arbeit erheblich weniger bekommen als Stammbeschäftigte bei einem Endhersteller. Sie sind bereit, für ihre Interessen zu kämpfen, gegebenenfalls zu streiken. Auch deshalb nimmt die Zahl insbesondere der kleinen Arbeitskämpfe in Deutschland seit Jahren zu. Diese Bereitschaft müssen wird stärken, denn niedrige Löhne bedeuten, dass Deutschland Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten seiner Nachbarn herstellt. Das schafft wirtschaftliche Ungleichgewichte in Europa und der Welt. Das wird von unseren Nachbarn zunehmend kritisiert. Deshalb ist es ein Beitrag zur Stärkung Europas, wenn wir hier in Deutschland für gerechte Löhne kämpfen.
- Projekt zwei: Wir brauchen eine Aufwertung aller sorgenden, pflegenden, erziehenden, bildenden Arbeitstätigkeiten. All diese Arbeitstätigkeiten werden vorwiegend von Frauen ausgeübt. Der Streik in den Sozial- und Erziehungsdiensten im Jahr 2015 war – wenngleich die Forderungen der Erzieherinnen sich nur teilweise durchsetzen ließen – wegweisend. Den Erzieherinnen ging und geht es um sehr viel mehr als nur um mehr Geld. Sie wollen, dass ihre für die frühkindliche Entwicklung so ungeheuer bedeutsame Arbeit endlich die gebührende gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Dafür haben sie gestreikt. Sie sind stolz auf ihren Beruf und ihre Fähigkeiten. Sie haben Facharbeiterinnenbewusstsein entwickelt. Und deshalb waren und – so hoffe ich – sind sie weiter konfliktbereit. Ihr Kampf hat exemplarischen Charakter. Es ist ein Kampf für die Aufwertung aller Sorgearbeiten. Es ist ein Kampf für die Überwindung der Lohndifferenz, die noch immer zwischen Männern und Frauen besteht. Und es ist ein Kampf, der politischen Charakter hat, weil er letztendlich eine verbesserte Einnahmesituation öffentlicher Kassen und eine verbesserte soziale Infrastruktur einklagt. Dieser Kampf ist noch nicht zu Ende, er muss weiter gehen. Und er verdient unsere Unterstützung!
- Projekt drei: Wir brauchen eine gerechtere Verteilung der Arbeitszeit! Viele Streiks der vergangenen Jahre sind an wahrgenommener Lohnungerechtigkeit aufgebrochen. Im Hintergrund waren häufig aber auch andere Probleme: Stress im Beruf, überlange Arbeitszeiten bei gut Qualifizierten, zu wenig Arbeit bei prekär Beschäftigten, dadurch ausgelöste Gesundheitsprobleme usw. Da müssen wir ansetzen. Die Arbeitszeitfrage gehört wieder auf den Tisch. Wir benötigen eine kürzere Vollzeit für alle. Diejenigen, die zu viel arbeiten, müssen deutlich reduzieren können. Und diejenigen, die mehr arbeiten möchten, sollen das tun dürfen. Ein Rückkehrrecht für Frauen, die in Teilzeit gearbeitet haben, auf eine Vollzeitstelle, wäre hier nur ein erster, aber absolut sinnvoller und notwendiger Schritt.
- Projekt vier: Wir wollen eine Politik der Entprekarisierung und robuste gesellschaftliche Sicherungssysteme. Ich nenne nur ein Beispiel, das mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen besonders wichtig ist – die Rente. Die Rente ist sicher! Das ist aus heutiger Sicht »Neusprech«. Es stimmt: Zum 1. Juli steigen die Renten, etwa 2 % im Westen und 3,7 Prozent im Osten. Prima! Doch wir sollten uns nicht vom »Neusprech« täuschen lassen. Wir befinden uns auf einer abschüssigen Bahn, die das Rentenniveau auf 42 % absinken lässt. Wird nicht gegengesteuert, ist Altersarmut in großem Ausmaß vorprogrammiert. Dass dieses Problem mittels Privatisierung der Alterssicherung zu lösen sei, ist ein Ammenmärchen! Dergleichen spielt allenfalls Versicherungskonzernen und privaten Kapitalinteressen in die Hände. Die einen machen Extraprofite und die anderen müssen Versorgungslücken hinterhersparen – ohne Arbeitgeberbeteiligung und mit den Unwägbarkeiten der Finanzmärkte. Ein solches Rentensystem lehnen wir ab, wir wollen eine völlig andere, solidarische Alternative. Wir wollen eine verlässliche Rentenversicherung, auf die sich alle Generationen verlassen können – auch und vor allem die Jungen! Und in die alle einzahlen: auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte und Politiker! Deshalb: Rauf mit dem Rentenniveau. Runter mit der Lebensarbeitszeit! Her mit der solidarischen Arbeitsversicherung. Das sind Forderungen, an denen wir alle messen sollten, die sich im September zur Bundestagswahl stellen. Und eines sei hinzugefügt: Wir brauchen robuste Sicherungssysteme auch, um mit den Folgen der digitalen Revolution fertig zu werden. Es ist doch keine Frage, dass die Digitalisierung Jobs kosten wird. Das kann die soziale Polarisierung noch verstärken. Und gerade deshalb benötigen wir eine gute Absicherung, um negative Folgen abzufedern.
- Ich höre schon die Frage: Wie soll das alles bezahlt werden? Zum Beispiel mit Projekt fünf, mit mehr Steuergerechtigkeit, lautet meine Antwort. Große Vermögen und Erbschaften müssen wieder in die gesellschaftliche Pflicht genommen werden. Dazu brauchen wir nicht nur eine Reichen- und eine Vermögenssteuer, sondern auch eine Erbschaftsteuer, die ihren Namen verdient. Arbeit wird jeden Monat mit bis zu 43 % besteuert, Kapitalerträge aber nur mit maximal 25 %. Diese Ungerechtigkeit muss ein Ende haben! Nehmen wir noch einmal das Bild mit dem Vermögen, das in einer Säule von 4,14 km abgebildet wird. Eine Erbschaftssteuer, die große Vermögen in Eigentum auf Zeit verwandeln würde, könnte leistungsloses Einkommen im Umfang von 4 km beanspruchen und den Erben blieben mit 0,14 km gegenüber dem Durchschnitt von knapp 1,8 cm noch immer ein riesiges Vermögen.
Gegen Rechtspopulismus
Ist das alles realistisch? Offen gestanden: Es gibt keine Garantie. Aber was ist die Alternative? Machen wir uns nichts vor: Je aussichtsloser es ihnen erscheint, von oben nach unten umzuverteilen, desto eher neigen Menschen dazu, den Verteilungskampf als einen zu begreifen, der zwischen Innen und Außen, zwischen Fluchtmigranten und einheimischer Bevölkerung ausgetragen wird. Das ist das Einfallstor für die Propaganda einer neuen, kulturrassistischen Rechten. Das ist das Einfallstor für die Trumps, le Pens, die Gaulands, Petrys und Höckes dieser Welt.
Sie alle spielen sich als Beschützer der »kleinen Leute« auf. Und wir dürfen nicht übersehen, dass sie mit dieser Botschaft durchaus erfolgreich sind. Trump verdankt seinen Wahlsieg Arbeitern aus dem niedergehenden Industriegürtel der USA. Mit 10 Mio. hat er überdurchschnittlich viele Stimmen aus dem Gewerkschaftslager bekommen. In Österreich haben sage und schreibe 86 Prozent der Arbeiter den knapp unterlegenen Kandidaten Hofer von der rechtspopulistischen FPÖ gewählt. Und auch die Wahlerfolge der AfD fügen sich in dieses Muster. Bei den Landtagswahlen des vergangenen Jahres war die AfD bei Arbeitern und Arbeitslosen stärkste Partei. Ein von uns befragter Gewerkschaftssekretär erklärt das mit Blick auf organisierte ArbeitnehmerInnen mit folgenden Worten:
»Die haben schon Angst, das, was sie haben, jetzt zu verlieren, im Sinne von teilen müssen. Irgendwas müssten sie ja abgeben, irgendwas muss ja neu verteilt werden, wenn die Flüchtlinge jetzt kommen, die Ausländer, […] der Kuchen ist begrenzt und es werden immer mehr vom Kuchen haben wollen […] und es ist überhaupt nicht klar, wo und was und wie eigentlich dieser Kuchen aussieht […] Und dann kommen die Flüchtlinge und erhalten eine Aufmerksamkeit, die man selbst nicht bekommt. Es gibt Investitionen, Lehrer, Personal für Sprachkurse und berufliche Qualifizierung. Das halten viele für ungerecht. Und deshalb ist es selbst für manche Betriebsräte und aktive Gewerkschafter inzwischen kein Widerspruch, sich aktiv an einem Arbeitskampf zu beteiligen und gleichzeitig zur PEGIDA-Demonstration zu gehen oder die AfD zu wählen.«
Wer mit den Rechtspopulisten kokettiert, dem sollten wir sagen: Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber! Deshalb ist es mehr als gefährlich, Unzufriedenheit und Protest durch einen Stimmzettel für die neue Rechte auszudrücken.
- Die völkischen Populisten wohlen keine Umverteilung von oben nach unten. Sie greifen die soziale Frage auf, um die verbreitete Unzufriedenheit in ein nationalistisches und rassistisches Fahrwasser zu bringen. Sie reden nicht mehr von Rasse. Aber sie benutzen den Kulturbegriff, zur Abwertung von Anderen, Fremden. Jeder soll seine Kultur leben können, aber bitteschön bei sich zuhause, lautet ihre Botschaft. Würde man dies in die Tat umsetzen, hätten wir es mit einer Welt voller Apartheid-Staaten zu tun. Das wäre das Ende von Menschenrechten, Vielfalt und Demokratie. Das wäre nur im »Neusprech« die beste aller möglichen Welten.
- Deshalb dürfen wir uns auf die Sirenenklänge der neuen Rechten nicht einlassen. Wir müssen ihnen entgegentreten, im Betrieb, im Sportverein, am Biertisch, in der Schule oder der Kirchengemeinde. Wir brauchen keine Sündenböcke. Wer auf dem Mittelmeer sein Leben riskiert, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben in den reichen Ländern des Nordens, der hat zunächst einmal Hilfe verdient. Das ist ein Gebot der Humanität. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir alle Verantwortung für die Fluchtursachen tragen. Für den Klimawandel und seine Folgen, für Kriege, für Nichtentwicklung, Hunger und drückende Not.
- Wir sind viele, wir sind eins – aber nur, wenn Solidarität bei den Schwächsten beginnt. Und das sind in der Gegenwart Geflüchtete. Wir sind viele, wir sind eins, aber wir sind keine Volksgemeinschaft, die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr kennt. Wer, wie die noch immer Vorsitzende der AfD Petry, eine Rehabilitierung des Völkischen verlangt, fordert eine Rehabilitierung von Nazi-Sprech. Das Hetzblatt, das dem Völkischen diente, hieß Völkischer Beobachter. Und diese Hetze führte, wie wir alle wissen, zu Buchenwald und Ausschwitz, zu Völkermord und Krieg. Soweit sind wir noch lange nicht. Aber wir sollten gemeinsam alles daran setzen, den »Saatboden für einen neue Faschismus«, von dem der Philosoph Jürgen Habermas spricht, möglichst rasch und möglichst gründlich zu beseitigen.
Fehler im System
Damit komme ich zu einem wichtigen Punkt. Es geht nicht um kleinere Korrekturen, es gibt Fehler im System, das ist ein Satz, den ich von Beschäftigten immer wieder höre. Auch von solchen, die mit AfD und Pegida sympathisieren. Aber was sind diese Systemfehler? Wenn wir diese Frage nicht rechten Antidemokraten überlassen wollen, dann müssen wir uns mit ihr auseinandersetzen.
Nehmen wir den ökologischen Gesellschaftskonflikt. Den Klimaleugnern müssen wir Fakten entgegensetzen. Die Wahrheit ist, dass die bei uns vorherrschende Produktions- und Lebensweise nicht im globalen Maßstab verallgemeinerbar ist. Schon jetzt haben wir z. B. beim Klimawandel und der Artenvielfalt die planetarischen Belastungsgrenzen bei weitem überschritten. Die Hauptverantwortung für das Aufschaukeln ökologsicher Gefahren tragen die reichen Länder im Globalen Norden. Würden alle Menschen so leben wie die Bevölkerung der Bundesrepublik, benötigte die Menschheit mehr als 3 Erden, um ihre Bedarfe zu befriedigen. Insgesamt würden bereits 1,6 Erden benötigt, um den globalen Bedarf auf Ressourcen und Flächen zu decken. Solche Zahlen besagen vor allem eines: Wir können nicht weitermachen wie bisher. Wir befinden uns inmitten eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, dessen Richtung wir nur beeinflussen können, wenn wir Wege in eine bessere Gesellschaft erkunden.
Keines der großen Megathemen – Ungleichheit, ökologische Gefahren, Herausforderungen der Digitalisierung, Fluchtbewegungen oder das Risikopotential deregulierter Finanzmärkte – lässt sich ausschließlich auf nationalstaatlicher Ebene lösen. Deshalb sollte uns klar sein: Wir brauchen Europa. Aber wir brauchen kein Europa, dass Ländern wie Griechenland eine Austeritätspolitik »aufherrscht«, die deren Gesellschaften zerstört. Wir wollen keinen Europäischen Gerichtshof, der sich entgegen seiner eigentlichen Aufgaben anmaßt, soziale Rechte von ArbeitnehmerInnen mit einem Federstrich zu beseitigen. Wir wollen ein solidarisches Europa, das eine Alternative zum ungezügelten Finanzkapitalismus bietet. Wer den Marktradikalismus kritisiert, den europäischen Institutionen praktizieren, ist noch lange kein Antieuropäer! Das Gegenteil ist der Fall.
Für alle Zukunftsthemen, ökologische Gefahren und die Zukunft Europas eingeschlossen, gilt: »Pflästerlipolitik reicht nicht aus!« Es genügt nicht, nur an den Symptomen herumzudoktern, wir müssen die Krankheit besiegen. Und das heißt, wir müssen Systemfehler korrigieren!
»Im Kapitalismus über ihn hinaus – das ist, was heute vielerorts bereits passiert und was wir stärken wollen… Unsere Vision ist und bleibt diejenige einer sozialen und ökologischen Wirtschaftsdemokratie… Mehr Demokratie ist eine zentrale Voraussetzung dafür das die Digitalisierung zu einer wirklichen Chance für die Menschen wird…. Im Kern geht es darum, die Verteilungsfrage auszuweiten. Neben der steuerlichen Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums im Nachhinein braucht es eine gerechte Verteilung wirtschaftlicher Entscheidungsmacht. Indem Betroffene zu Mitbestimmenden gemacht werden, wirkt man der Entstehung ungerechtfertigter und schädlicher Ungleichheiten entgegen.«
Diese Sätze stammen, man höre und staune, aus einem gerade beschlossenen Positionspapier zur Wirtschaftsdemokratie der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, was die kleine sozialdemokratische Partei der Schweiz kann, sollten wir uns auch trauen. Nehmen wir den Ball auf, thematisieren wir die wirklichen Systemfehler. Kämpfen wir für eine bessere, eine gerechtere Gesellschaft. Dafür brauchen wir einen langen Atem. Aber irgendwann müssen wir damit anfangen. Und es gibt Gelegenheiten, auch bei der nächsten Bundestagswahl.
Trotz Frust über die Parteien, über Ungerechtigkeit und fehlende Demokratie: Nutzt euer Stimmrecht. Neue, bessere Mehrheiten für eine gerechtere Gesellschaft sind möglich. Aber belasst es nicht beim Wählen. Der Kampf für eine bessere Gesellschaft beginnt im Betrieb und im Büro, in Zukunft des Öfteren wohl auch im Homeoffice. Er funktioniert nicht ohne starke Gewerkschaften. Er bedeutet häufig und zuerst den Mut, sich der Arbeitgeberwillkür zu widersetzen. Wir kämpfen
- für einen Kurswechsel in der Rentenpolitik,
- für gerechte Löhne und eine stärkere Tarifbindung,
- gegen unwürdige, prekäre Arbeit
- für Investitionen in eine soziale und ökologische Infrastruktur, in Bildung und Ausbildung,
- für eine Stärkung des Öffentlichen, für eine gerechte Steuerpolitik und für Umverteilung von den Reichen zu den Bedürftigen.
Lasst uns gemeinsam dieses Land verändern! Packen wir es an, denn wir sind viele und nur gemeinsam stark!
Glück auf!
Der Wirtschaftssoziologe Prof. Klaus Dörre von der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist jeden Monat im lokalen Bürgerradio Jena mit der KD-Radioshow zu hören. Er betreibt »musikalische Gesellschaftskritik«. Gesendet wird, worüber er und seine KollegInnen sonst Vorlesungen halten oder Bücher schreiben: Populismus, Eigentum, Wirtschaftsdemokratie und Postkapitalismus.
KD-Radioshow: Jeden ersten Donnerstag im Monat um 18 Uhr und am Folgetag um 13 Uhr unter radio-okj.de/wp-content/themes/radiookj/okj-player.html oder bestellen unter KD-Radioshow@listserv.uni-jena.de
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