Wirtschaft
anders denken.

Lohn und Leistung

10.08.2019
Illustration: Created by Berkah Icon and Rudez Studio from the Noun Project

Flausen der Vulgärökonomie: Was uns Marx und Keynes zur Neoklassik und zur Arbeitskraft im Kapitalismus zu sagen haben. Ein Beitrag aus dem OXI-Schwerpunkt des Juni-Heftes.

Debatten und Kontroversen über das Verhältnis von Lohn und Leistung, genauer Arbeitsleistung, sind ein klassisches und kontroverses Thema, sowohl aus mikroökonomischer wie makroökonomischer Sicht. Hier die wesentlichen Sichtweisen: Auch wenn die Klassiker der politischen Ökonomie, Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx eine Ausbeutungstheorie des Lohnes entwickelt und verfeinert hatten, nach der die Arbeitsleistung einer Arbeitskraft höher war als ihr Lohn und die Differenz durch den Kapitalisten angeeignet wurde, hat in der akademischen Volkswirtschaftslehre eine dazu konträres theoretisches Modell durchgesetzt. Die Neoklassik gibt an, die neue Klassik zu sein und wechselt dabei die Basis dieser Theorie.

1. Die Neoklassik 

Aus neoklassischer Sicht wird der Wert der Produkte nicht mehr durch gesellschaftliche Arbeit, sondern durch die Nachfrage nach Produkten bestimmt. Der Preis orientiert sich dabei am sogenannten Grenznutzen, das heißt am letzten Gut einer Menge identischer Güter, für das der Käufer den Marktpreis akzeptiert. Wenn diese Grenznutzentheorie auf die Arbeitskraft angewendet wird, so wird der Grenznutzen dieser Arbeitskraft als Grenzproduktivität der Arbeit definiert. Diese Grenzproduktivität bestimmt den Reallohnsatz. 

Dahinter steht die Vorstellung, dass der Lohn der geleisteten Arbeit entspricht, dass also ein Tausch gleicher Größen stattfindet. Von den Vorgängen in der Produktion, also von der Vernutzung der Arbeitskraft im Arbeitsprozess, wird abstrahiert. Insofern markiert die Grenzproduktivität entgegen dem Wortsinn keine Größe der Produktivität dieser Arbeitskraft, sondern beschreibt das Verhältnis von Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften. Der Lohn, der für bestimmte Arbeitsprozesse für die letzte eingestellte Arbeitskraft bezahlt wird, entspricht der Grenzproduktivität dieser Arbeit. Wenn die Nachfrage nach Arbeitskräften sinkt und das Arbeitsangebot steigt, so sinkt mit den Löhnen auch die Grenzproduktivität der Arbeit. 

Lohnerhöhungen können dann mit dem Hinweis verweigert werden, dass der neue Lohn höher als die alte Grenzproduktivität des Lohns sein könne oder werde. Lohnsenkungen können mit dem Hinweis auf die zurückgehende Nachfrage nach Arbeitskräften begründet werden. In der Sprache der neoklassischen Sicht bedeutet das, dass es einen inversen Zusammenhang von Lohnhöhe und Beschäftigung gibt. Je höher die Löhne, umso niedriger die Beschäftigung und umgekehrt. 

Mit dieser Theorie wird die Höhe des Lohns und damit der Zusammenhang zwischen Lohn und Leistung nicht erklärt, sondern es werden nur die Prozesse auf dem Arbeitsmarkt nachgezeichnet und kausal mit der Größe des Lohns verbunden. Damit werden alle anderen Prozesse und Zusammenhänge, die den Arbeitsmarkt beeinflussen systematisch ausgeschaltet. Es tauschen sich in diesem Modell die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Wird die Arbeit billiger, so ersetzt sie Kapital, wird sie teurer, so wird sie durch vermehrten Einsatz von Kapital verdrängt. 

Es handelt sich um ein statisches Tauschmodell, das auf den ersten Blick plausibel erscheint. Es unterstellt aber ein einziges Kapitalgut und eine einfache Produktionsfunktion, damit dieser inverse Zusammenhang von Kapital- und Arbeitseinsatz funktionieren kann. Dieses Modell existiert nur als ideologische Konstruktion mit wirklichkeitsfernen Annahmen, wie vollkommener Wettbewerb, vollkommene Information und flexible Mengen 

2. Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie 

Das Gegenprogramm finden wir in der Kritik der Politischen Ökonomie von Marx. Die marxistische Sicht: Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft, ihr Arbeitsvermögen, ist größer als ihr »Tauschwert« genannter Preis, der Lohn. Es findet kein Tausch von Äquivalenten statt, sondern die Arbeitskraft produziert einen über ihren Preis oder Lohn mehr oder minder deutlich hinausgehenden Mehrwert, den sich der Kapitalist unentgeltlich aneignet und der die ökonomische Basis für den Unternehmerprofit bildet. Es handelt sich daher um eine Ausbeutung der Arbeitskraft. 

Der Tauschwert oder Lohn der Arbeitskraft wird aus dieser Sicht durch die sogenannten Reproduktionskosten der Arbeitskraft bestimmt, deren Größe variabel ist. Sie werden durch die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit und die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften bestimmt. 

Aus der Sicht der Wert- und Mehrwerttheorie lassen sich die Arbeitszeit und die Arbeitsverausgabung in zwei Teile zerlegen, in die notwendige Arbeitszeit, die dazu dient, den Lohn zu erarbeiten, und die Mehrarbeitszeit, deren Resultat sich der Kapitalist unentgeltlich aneignet. Das Verhältnis beider Größen zueinander wird als Mehrwertrate bezeichnet. 

Marx zeigt in dieser Analyse zugleich, wie sich dieser Zusammenhang von Arbeit und Ausbeutung im Bewusstsein der Akteure verdreht oder mystifiziert darstellt. Der Lohn erscheint im Austausch von Arbeitskraft und Lohn als Preis der geleisteten Arbeit und nicht als Preis für das Zur-Verfügung-Stellen der Arbeitskraft. Bei dieser Verwechselung von Arbeitskraft mit Arbeit, auch als Fetischcharakter des Lohns bezeichnet, verdeckt »das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters«. Marx fährt fort, dass auf dieser Erscheinungsform, die das »wirkliche Verhältnis unsichtbar macht«, sämtliche Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten und alle »apologetischen Flausen der Vulgärökonomie« beruhen“. 

Wenn wir heute die lohnpolitischen Appelle der Gewerkschaften lesen, wie »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« oder »Arbeit hat ihren Wert«, wie Verdi eine Kampagne gegen Niedriglöhne betitelte, so scheint das die Marx‘sche Kritik zu bestätigen. Das war aber nicht von Anfang der Fall. 

In der Zeit der Weimarer Republik gehörten die Ausbeutungstheorie des Lohns und eine daraus resultierende Unterkonsumtionstheorie, die den Gegensatz von Produktion und unzureichender konsumtiver Nachfrage betonte, zur Standardargumentation der Gewerkschaften. Auch in den 1970/80er Jahren wurde diese Sicht wieder populär und findet sich in den Lehrbüchern der IG Metall zur betrieblichen Lohnpolitik. 

Das heißt, dass es in den Gewerkschaften zeitweise möglich war, die auf diesen illusionären Rechtsvorstellungen basierende Vorstellung eines (gleichen) Tausches von Arbeit und Lohn zu überwinden. Andererseits kam es in den 1990er Jahren zu einer folgenreichen Verflachung der tarifpolitischen Diskussionen in den DGB-Gewerkschaften, die dann 1995 und 1999 in den Angeboten für ein Bündnis für Arbeit und eine damit verbundene Theorie der Lohnzurückhaltung mündeten. 

Letztlich waren die Gewerkschaften damit, ohne es zu merken, auf die Lohn- und Arbeitsmarkttheorie der Neoklassik eingeschwenkt. Anders gesagt wurde ein vorher erreichtes wissenschaftliches Niveau in der konzeptionellen Begründung der Tarifpolitik durch den Rückfall in eine auf dieser Mystifikation durch die Lohnform basierende Sicht preisgegeben. 

Warum es zu diesem Verfall und der Revision bereits vorhandener theoretischer Kenntnisse in der Lohnpolitik gekommen war, ist eine nicht einfach zu beantwortende Frage. Einmal war das Lohnverzichtsangebot von Klaus Zwickel, der 1995 als Vorsitzender der IG Metal die Initiative für das Bündnis für Arbeit startete, eine Reaktion auf die Erosion der Tarifbindung und insofern ein Versuch, den Rückgang der Tarifbindung aufzuhalten. Zugleich war es ein Versuch, angesichts der weltpolitischen Zäsur 1989/90 sich auch ideologisch mit dem vermeintlich erfolgreichen Kapitalismus zu arrangieren. Drittens erschienen aus dieser Perspektive die tarifpolitischen Konzepte aus keynesianischer oder gar marxistischer Sicht und die damit verbundene Rolle der Gewerkschaften als Gegenmacht als faktisch überholt. Sie galten zu dieser Zeit als konservativ.

Unter dem Strich zeigt sich, dass sich die Macht dieser Mystifikation des Lohnes durch die Form eines gleichen Tausches und der darin eingeschlossenen Verwechselung von Arbeitskraft mit Arbeit wieder geltend gemacht hat. 

3. Löhne in der Keynes‘schen Theorie 

Keynes war zwar der Meinung, »dass alles durch Arbeit erzeugt wird«, aber er war kein Anhänger der Arbeitswerttheorie der klassischen Ökonomie, weil bei ihm der Wert der Waren im Austauschprozess knappheitstheoretisch begründet wird, also durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf den Märkten. 

Keynes‘ Analyse zielt nicht auf den Austausch von Lohn und Arbeit und auch nicht auf die Tauschverhältnisse von Produktionsfaktoren. Die Vorstellung, dass höhere Löhne zum Ersatz des Produktionsfaktors Arbeit durch Kapital führen, ist ihm fremd. Seine Analyse konzentriert sich auf die Bedingungen, unter denen eine Produktion zustande kommt, der Lohnsatz wird nicht definiert, sondern als bestehend vorausgesetzt. 

Es werden Bedingungen an Höhe und Stabilität der Lohnsätze gestellt, die erfüllt sein müssen, damit Produktion stattfindet. Hier spielen die Löhne einmal die Rolle eines Ankers der Stabilität in einer durch Unsicherheit geprägten Geldwirtschaft, zum Zweiten bestimmt ihre Größe die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. 

Ein mikroökonomisch begründetes Verhältnis von Lohn und Leistung existiert auf der von Keynes analysierten makroökonomischen Ebene nicht. Das ist auch für die Entwicklung der makroökonomischen Größen nicht notwendig. Lohnpolitisch argumentiert Keynes gegen die Senkung der Nominallöhne, weil er diese als Geldlohnanker versteht, der stabil in einer labilen Wirtschaft sein muss. 

Was die Entwicklung der Löhne betrifft, so kann mit seiner Theorie eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik begründet werden, weil die Löhne als wichtigste Größe der Nachfrage mit der Produktion wachsen sollen. Keynes begründet aber keine Kaufkrafttheorie des Lohnes als Ausweg aus einer Krise wegen Unterkonsumtion. Öffnungsklauseln in Flächentarifverträgen, wie sie die DGB-Gewerkschaften mit dem Ziel, Arbeitskosten zu senken, akzeptiert hatten, stehen im klaren Gegensatz zur Funktion stabiler Löhne als Geldlohnanker.

Michael Wendl ist Ökonom, Soziologe, Gewerkschafter und Mitherausgeber der Zeitschrift »Sozialismus«, er war Mitglied der SPD, trat dann zur Linkspartei über – und ist inzwischen wieder bei den Sozialdemokraten organisiert. Von ihm erschien unter anderem: »Machttheorie oder Werttheorie. Die Wiederkehr eines einfachen Marxismus« (bei VSA Hamburg).

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