Verkommen oder revolutionär?
Marx und Engels prägten den Begriff »Lumpenproletariat«. Dessen Uneindeutigkeiten hatten entscheidende Folgen für die Arbeiterbewegung und die Konzeption von Revolution. Aus OXI 3/22.
Wer beginnt, sich mit dem Klassenmodell von Karl Marx zu beschäftigen, liest meist zunächst das »Kommunistische Manifest«. Dort begründen Marx und Engels ihre Lehre, die gesamte Geschichte menschlicher Gesellschaft sei als Geschichte von Klassenkämpfen zu verstehen. Im Kapitalismus stünden sich Bourgeoisie und Proletariat gegenüber und der proletarische Sieg im Klassenkampf führe in den Sozialismus. So weit, so klar und so bekannt. Wer dabei jedoch nicht stehen bleibt, findet in Marx’ eher soziologisch inspirierten Schriften wie »Die Klassenkämpfe in Frankreich« oder »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« weitere Klassen und Klassenfraktionen. Marx beschäftigt sich dort verstärkt mit Mittel- und Zwischenklassen, auch die Bauernschaft und der Adel gewinnen an Bedeutung und das führt dazu, dass Marx sein bisheriges Zwei-Klassen-Modell zunehmend relativiert. Am Ende des dritten Bandes des »Kapitals« schreibt Marx dann von den »drei [!] großen Klassen« der kapitalistischen Produktionsweise und meint damit »Lohnarbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer«. Wäre dies nicht schon verwirrend genug, zieht sich durch sein gesamtes Schaffen eine weitere »Klasse«, der in der marxistischen Klassentheorie kaum Beachtung geschenkt wurde: das Lumpenproletariat.
Welch seltsamer Begriff. Er vereint das Ausbeutungsverhältnis des Proletariats mit dem Schimpfwort »Lump«, das zu Marx’ Zeiten einen »liederlichen menschen« bezeichnet, »der die sorge für seinen häuslichen wohlstand aufgeben hat«, wie es im Grimmschen Wörterbuch heißt. Doch was verstehen Marx und Engels, die als »Erfinder« des Begriffs gelten können, nun genau darunter? Wie hat sich der Begriff bei ihnen entwickelt und welche Folgen hatte diese Sichtweise auf den Umgang der politischen Linken mit »den Unterklassen«?
Der Blick in die Werke von Marx und Engels zeigt, dass sie den Begriff des Lumpenproletariats knapp hundertmal in rund 50 Dokumenten – sowohl in publizierten Schriften als auch in privater Korrespondenz – verwendet haben. Nachdem der Begriff im August 1846 das erste Mal bei Engels aufgetaucht war, wurde er im Dezember 1890 letztmalig ebenfalls von Engels verwendet. Über die Hälfte der Begriffsverwendungen findet in den ersten zehn Schaffensjahren statt.
In den Frühschriften wurde das Lumpenproletariat mit »Dieben, Räubern und Mördern« in Verbindung gebracht. Es zeichne sich durch seine »Käuflichkeit und Verkommenheit« aus. Von Anfang an ging es Marx und Engels mit ihrer Konzeption des Lumpenproletariats darum, die Arbeiterklasse von dessen negativen Einflüssen fernzuhalten. So entwickelte sich das »Lumpenproletariat« zu einem Begriff, der es ihnen ermöglichte, die revolutionären Arbeiter:innen in Abgrenzung zum Lumpenproletariat darzustellen. Marx und Engels bestimmten das Lumpenproletariat somit nicht in erster Linie ökonomisch, sondern werteten es anhand moralischer Kategorien ab.
Auch im »Kommunistischen Manifest« von 1848 tauchte das Lumpenproletariat auf zwei Seiten auf. Dort betrachteten es Marx und Engels als »passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft«. Es sei der Ausdruck einer »längst dagewesenen Sache«. Passivität und Verfaulung verweisen darauf, dass sie das Lumpenproletariat lediglich als Rest der vergangenen Gesellschaft verstanden. Durch die Entwicklung der Produktivkräfte würde das Lumpenproletariat in den kapitalistischen Produktionsprozess eingesogen beziehungsweise so unbedeutend, dass es keine relevante Größe mehr darstellen würde. Daraus zogen Marx und Engels die Schlussfolgerung, das Lumpenproletariat seinem Schicksal zu überlassen.
Das Scheitern der Revolutionsversuche von 1848/49 zwang Marx jedoch dazu, seine vorschnellen Hoffnungen auf die Revolution aufzugeben und so beschäftigte er sich verstärkt mit Gegenwartsanalyse sowie seiner Kritik der politischen Ökonomie. Auch die Konzeption des Lumpenproletariats veränderte sich dabei. Dieses wurde nun als eine gegenwärtige Klasse angesehen, deren Größe nicht mehr zu übersehen sei.
Bis 1848 wurde der Begriff eher von Engels genutzt. Marx verwendet ihn in einem eigenständigen Text erstmals am 7. November 1848. In »Sieg der Konterrevolution zu Wien« schrieb er, die Revolution von 1848 sei gescheitert, da sich ein »bewaffnetes und erkauftes Lumpenproletariat« gegen die Revolution gestellt habe. Diese »schnapslustigen Lumpenproletarier« hätten im Auftrag der Herrschenden die Barrikaden der Revolutionäre niedergerissen und durch ihre »Nachlässigkeit und Unordnung« im Kampf dazu beigetragen, die revolutionäre Moral zu untergraben. Diese Entwicklung beobachteten Marx und Engels in ganz Europa: In Frankreich habe sich die konterrevolutionäre Mobilgarde aus dem Lumpenproletariat gebildet und in Italien seien vor allem die städtischen »Lazzaroni in Neapel«, die aus »Bettlern, Vagabunden, Gaunern und kleinen Dieben« bestünden, eine gesellschaftliche Gefahr. Überall, so Marx und Engels, sei die Bestechlichkeit des Lumpenproletariats zu reaktionären Taten ursächlich für die Niederschlagung der Revolutionen. Gleichzeitig blieb das Lumpenproletariat nicht auf untere Schichten beschränkt. Klassentheoretisch blieb seine Fassung weiter ungenau. So bezeichnete Marx etwa den späteren französischen Kaiser Napoleon III. als »Chef des Lumpenproletariats«. Auch Spekulanten, Adelige, Neureiche und Journalisten wurden nun so bezeichnet, um vor allem ihre Bestechlichkeit und ihr kriminelles Verhalten zu betonen.
Marx und Engels taten sich sichtlich schwer, das Lumpenproletariat sozial zu verorten. War es Teil einer Klasse oder gehörte es verschiedenen Klassen an? Sie gaben darauf keine eindeutige Antwort. In einer bemerkenswerten Stelle aus »Die Klassenkämpfe in Frankreich« bildet das Lumpenproletariat eine vom Proletariat »genau unterschiedene Masse«. Dies tritt allerdings in Widerspruch zu Engels’ späterer Aussage, das Lumpenproletariat bestehe aus den »verkommenen Subjekten aller Klassen«. Auch Marx selbst wies wenige Sätze nach seiner scharfen Trennung darauf hin, das Lumpenproletariat rekurriere sich doch aus dem Proletariat selbst und stamme »aus seiner eigenen Mitte«. Daraus spricht eine große Unsicherheit, wie das Lumpenproletariat als Kategorie der Sozialstrukturanalyse brauchbar sei. Vollkommen klar scheint jedoch Marx’ und Engels’ politisches Urteil zu sein: Ob nun Teil des Proletariats oder nicht, es ist der Geist des Verrats, der aus dem Lumpenproletariat spricht. Somit erscheint es ratsam, den Begriff eher als Attribut zu lesen, mit dem eine Reihe moralischer Merkmale bezeichnet wurde, die in verschiedenen sozialen Kontexten auftreten können, und weniger als sozioökonomische Klasse. In »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« erweiterte Marx seine Überlegungen zum Lumpenproletariat dahingehend, dass es nun als »Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen« verstanden und der Begriff zu einem Ensemble von ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Typen wurde.
Eine abschließende Begriffsdefinition des Lumpenproletariats haben Marx und Engels nicht hinterlassen. Vielmehr haben sie versucht, sich ihm über dessen Verhalten zu nähern. Über alle Verschiebungen und Widersprüchlichkeiten des Begriffs hinweg kann ein Kern herausgeschält werden, der das Lumpenproletariat ausmacht: Es geht im Gegensatz zum Proletariat keiner produktiven Arbeit nach, wird also nicht ausgebeutet. Das Verhältnis zur Gesellschaft ist parasitär, da es von ihren produktiven Erträgen erhalten wird. Die Mitglieder des Lumpenproletariats können aus allen Klassen stammen. Aus diesen sind sie ausgeschieden, weil sie nicht mehr dasselbe Verhältnis zu den Produktionsmitteln und keine Loyalität mehr zu ihrer Ausgangsklasse haben. Diese objektive und subjektive Bedingung sowie ihre unterschiedliche soziale Herkunft führen dazu, dass sich im Lumpenproletariat vielfältige Bewusstseinsformen finden lassen können. Die unterschiedlichen Erfahrungen der Mitglieder des Lumpenproletariats treffen sich in der gemeinsamen Erfahrung der Deklassierung.
Die Reaktion auf ihre Klassenposition bleibt unklar. Der Begriff wurde für jene reserviert, die nicht in der Lage seien, über die revolutionäre Bewegung des Proletariats nachzudenken. Die Argumente, die Marx und Engels benutzten, um das Lumpenproletariat zu diskreditieren, waren in aller Regel moralischer Natur. Dafür spricht auch, dass sie stets den Bezug zur Kriminalität herstellten, das herrschende Vokabular des Staates und der Polizei übernahmen und ihr Bild damit in großen Teilen mit dem bürgerlichen Bild der vermeintlich »kriminellen« Armen konvergierte. Für Marx und Engels verkörperte das Lumpenproletariat stets ihre Angst vor der Kriminalität und die Sorge vor ihrer Unkontrollierbarkeit und Spontaneität. Das Lumpenproletariat blieb eine Gefahr – jederzeit bereit, mit reaktionären Kräften zusammenzuarbeiten. Es ist sehr schwierig, in dieser Verachtung des Lumpenproletariats nicht auch Anklänge an die Angst und Verachtung der herrschenden Klassen zu erkennen.
Daraus entwickelte sich eine Traditionslinie der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung, die das »Lumpenproletariat« ebenfalls als den konträren Begriff zur »respektablen« Arbeit konstruierte. Bei Marx’ Erben stand das Lumpenproletariat der ehrbaren Welt der Arbeiterbewegung gegenüber. Um ein klassenkämpferisches, handlungsfähiges Proletariat konstruieren zu können, brauchte es das bestechliche und passive Außen des Lumpenproletariats. Handlungsfähigkeit und Protest der Unterklassen zeigten sich lediglich in Resignation oder zielloser Gewalt. Diese – in Form von Aufständen artikuliert – sei unkontrollierbarer, spontaner und eruptiver Ausdruck einer irrationalen, kaum mehr steuerbaren Bewegung, die bspw. mit Plünderungen ein politisches Ziel völlig aus den Augen verloren habe. In der Arbeiterbewegung verfestigte sich dabei die Vorstellung, das Lumpenproletariat auf der Verliererseite der Geschichte zu positionieren. Ohne politische Idee oder geschichtliche Tendenz sei es gegen den (sozialistischen) Fortschritt gerichtet. Daher stammt auch die Forderung nach Einhegung »defizitärer« Massenrevolten in weniger militante und reformistische Organisationsformen und daher auch der Glaube – letztendlich die Konsequenz des orthodoxen Marxismus, die Lenin offen ausspricht –, zum revolutionären Umsturz sei nur eine gut ausgebildete und organisierte Avantgarde befähigt, die von außen ein sozialistisches Klassenbewusstsein an die Klasse heranträgt.
Doch nicht die gesamte Arbeiterbewegung übernahm diese polemischen Konnotationen, die Marx dem Lumpenproletariat angelegt hatte. Vor allem im Anarchismus, aber auch in den Schriften von Frantz Fanon, die heute als Gründungstexte postkolonialer Theorie gelten, oder der Black Panther Party finden sich Ansätze, das Lumpenproletariat positiv zu bestimmen: Untergründige Widerstandsformen wurden dabei als Kraft des revolutionären Umbruchs verstanden. Von Subsistenzrevolten des 19. Jahrhunderts über Kämpfe von Erwerbslosen in der Weimarer Republik bis hin zu bäuerlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts und den Aufständen in den Kolonien und Ghettos fanden sich immer wieder soziale Kämpfe von Deklassierten, die ihr Existenzrecht einfordern.
Ein genauer Blick auf diese Protestformen legt sie in ihrer Eigenständigkeit frei: nicht immer wohl überlegt und eloquent, sondern undifferenziert, derb, unstrukturiert und möglicherweise auch militant, sind sie genuiner Ausdruck der Handlungsfähigkeit des Lumpenproletariats. Insbesondere im Aufstand findet es eine Möglichkeit, seine Handlungsmacht zu beweisen. Dies geschah in den Brotpreisrevolten der frühen Neuzeit direkt auf den Märkten, wo Waren gehandelt wurden, aktuell werden die Innenstädte und Orte des Konsums vermehrt zu Schauplätzen sozialer Kämpfe. Plätze werden besetzt und Kaufhäuser geplündert. Die Plünderung – also die Aneignung von Waren zum Preis null – ermöglicht die Reproduktion jenseits der Lohnarbeit. Ebenso kann die immer größere Menge an Deklassierten und Erwerbslosen die Produktion nicht direkt angreifen. Dementsprechend liegt das Widerstandspotenzial der Deklassierten nicht in der Unterbrechung des Produktionsprozesses, sondern in der Störung der Distribution. An die Stelle des Streiks tritt der Aufstand.
Soziale Kämpfe werden auch von denjenigen geführt, die nicht im kapitalistischen Maschinenraum stehen. Dabei sind diese Kämpfe nicht bloß anomisches, defizitäres Verhalten, das aus Desintegration folgt und sich einer formalisierten Bewegungsorganisation ein- und unterzuordnen habe. Vielmehr stellen sie eine neue Offensive in der Austragung gesellschaftlicher Widersprüche dar. Somit können Devianz, Aufstände und Sozialproteste in ihrer schier unüberschaubaren empirischen Vielförmigkeit als Teil der proletarischen Bewegung verstanden werden.
Christopher Wimmer beschäftigte sich in seiner Doktorarbeit mit dem Klassenbewusstsein der marginalisierten Klasse in der Bundesrepublik. www.christopherwimmer.de
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