Wirtschaft
anders denken.

Über die mangelnde Wertschätzung von Produktionsarbeit

09.11.2017
Solidarity Center / flickr, Lizenz: CC BY-SA 2.0

Die Produktionsarbeit verschwindet – aus Deutschland und dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Das liegt auch an der gesellschaftlichen Bewertung von Arbeit. Die sich auch in der Vergütung niederschlägt.

Die meisten von uns erleben kaum noch, wie produziert wird. Dieses Verschwinden von Menschen zeigt sich drastisch in der Urproduktion. Waren vor 100 Jahren noch fast 40 Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, sind es heute unter zwei Prozent. Maschinenarbeit hat die Menschen ersetzt.

Neben dem Verschwinden der Menschen aus der Produktion gibt es das Verschwinden der Produktion aus unserer Lebenswelt. Das gilt vor allem für die Bereiche, wo Handarbeit – bisher – maschinell nicht ersetzt werden kann. Solche Arbeit muss natürlich da stattfinden, wo Menschen bereit dazu sind – obwohl sie anstrengend und schlecht bezahlt ist. Das ist nicht hier.

Wo Produktionsarbeit unsichtbar wird, ist ihre Unverzichtbarkeit nicht mehr erlebbar. Andersherum verschwindet Produktion aus Deutschland, weil niemand diese Arbeit machen will. Grund dafür sind letztlich falsche Anreize: Produktionsarbeit wird vergleichsweise wenig wertgeschätzt und schlecht entgolten.

Der Lehrstellenradar zeigt im Raum Berlin 24 unbesetzte Ausbildungsplätze als Bäckerin, 13 als Anlagenmechanikerin und 20 als Dachdeckerin. Das macht mich nachdenklich – wo werden in meinem Altenheim wohl die Brötchen herkommen und wer wird das Gebäude Instand halten? Laut Arbeitsagentur sind Angebot und Nachfrage an Ausbildungsplätzen derzeit zahlenmäßig ausgeglichen, allerdings blieben 8,4 Prozent der Stellen unbesetzt.

Wie nehmen die Betriebe selbst und ihre Interessenvertretungen die Situation wahr? Sie programmieren Portale wie den Lehrstellenradar und organisieren Veranstaltungen wie die »Lange Nacht der Wirtschaft«. Lange Nacht, da war doch was. Geht es da nicht darum, etwas zusammenzubringen, was tags nicht zusammenfindet, zum Beispiel Nicht-Museumsbesucherinnen und Museen?

Die »Lange Nacht der Wirtschaft« verspricht »Führungen bei laufender Produktion«, das erinnert an die Fütterungszeiten bei Zoobesuchen, wo ich eine fremde Spezies bei einer Aktivität erlebe, die mir sonst verborgen bleibt. Wer das alles erleben soll, erklärt sich im nächsten Programmversprechen. Es gibt nämlich auch »Informationen zu Berufen und Ausbildung«, nicht etwa zu Produkten. Als Event verpackt hört sich das spannender an als eine Jobbörse im Berufsinformationszentrum. Für alle Fälle verspricht das Programm zusätzlich auch Musik und Aktionen.

Wie so oft in der Wirtschaft wird über Ursachen und Auswirkungen nicht geredet. Ein paar erprobte Entertainment-Konzepte werden das Ganze schon richten und überhaupt weiß man ja auch gar nicht, wie alles zusammenhängt.

Ein Zusammenhang scheint mir aber recht klar: Wir haben ein Problem mit der gesellschaftlichen Bewertung von Arbeit. Geld und Anerkennung fallen nicht gleichermaßen für Tätigkeiten an, die wichtig sind für ein gutes Leben. Nicht unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben geraten hier als erstes in den Weg. Wir alle wollen gesundes Essen, Hilfe bei Unfall und Krankheit, Begleitung für unsere Kinder und noch einiges mehr – erst in Bezug auf dieses Mehr gehen die Meinungen auseinander.

Geld und Anerkennung fallen nicht gleichermaßen für Tätigkeiten an, die wichtig sind für ein gutes Leben.

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Schauen wir also auf die erst-genannten Punkte, sozusagen die Pflichtaufgaben. Dann folgt, dass Menschen, die zum Beispiel Gemüse anbauen, gut entlohnt sein sollten. Ein Blick in die Gehaltsstatistik zeigt: Eine Gärtnerin rangiert mit ihrem Einkommen weit unten.

Vergütet wird in unserem Wirtschaftssystem nicht primär der Versorgungsbeitrag von Arbeit, sondern der Beitrag zum Erhalt einer wirtschaftlichen Organisation sowie ein Versprechen über eine Leistung. Die Vergütung misst sich also neben der konkreten Leistung auch maßgeblich an der Macht des Trägers von Arbeitskraft: Der Macht, auf das Geschick eines Betriebs Einfluss zu nehmen und der Macht, Annahmen über Wirtschaft und Rahmensetzungen wirtschaftlichen Handelns zu gestalten, aus denen Leistungsversprechen erst ihren Wert beziehen.

Und die soziale Anerkennung von Arbeit steigt analog mit der Vergütung. Es greift das Prinzip der Akkumulation: Mehr wird mehr. In der ökonomischen Theorie ist es unproblematisch, Größen gen Unendlich laufen zu lassen, wie bei einer exponentiellen Funktion. In der Welt hingegen kippen Systeme mit solchen Funktionsprinzipien irgendwann um.

Dabei gibt es bereits Ansätze, um Produktionsarbeit adäquat zu vergüten, zum Beispiel indem Erzeuger und Verbraucher zu einer Wirtschaftsgemeinschaft zusammengebracht werden. Mit der sogenannten Solidarischen Landwirtschaft entsteht auf Basis alter Prinzipien ein neues Modell für die Ernährungswirtschaft, von dem auch andere Wirtschaftsbereiche lernen können.

Wie weit sich Versorgungsbeitrag und Vergütung von Arbeit auseinanderentwickeln können, werden wir sehen. Die Berufswünsche junger Menschen entstehen jedenfalls nicht aus dem Nichts. Gerade in unserem Denken über Arbeit spielen gesellschaftliche Signale eine wichtige Rolle. Arbeit anders zu bewerten und zu vergüten, ist als sozialpolitische Forderung nicht neu. Mittlerweile stellt sich unser Versäumnis, etwas an der herrschenden Bewertung zu ändern, als akutes Problem dar.

Ich bin gespannt, wie lange wir die Folgen noch mit technischen Mitteln kompensieren können. Der Dachdeck-Roboter ist soweit ich sehe noch nicht einsatzreif, die Sturmschäden hingegen mehren sich.

Geschrieben von:

Corinna Vosse

Wissenschaftlerin

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