Wirtschaft
anders denken.

Marktkonforme Ethik

01.05.2022
Ein altmodischer BilderrahmenFoto: Alexander LesnitskyDie Ordnungsethik möchte den Rahmen für den Wettbewerb setzen.

In einem geistigen Umfeld, das nur Marktwirtschaft und sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft kennt, ist kein Platz für nicht-marktwirtschaftliche Alternativen. Aus OXI 5/22.

Viele Diskussionen, zum Beispiel um Mindestlöhne, eine ökologische Transformation oder systemrelevante Berufe, sind eng mit ethischen Fragen verbunden. Doch trotz der Verbundenheit erfahren diese ethischen Aspekte des Wirtschaftens keine allzu große Aufmerksamkeit in der Ökonomik und öffentlichen Debatte. Gleichwohl ist im deutschsprachigen Raum eine beeindruckende Zahl unterschiedlicher ethischer Konzepte entstanden, zu denen zum Beispiel die Kulturalistische Wirtschaftsethik oder die Integrative Wirtschaftsethik gehören.

Wenn aber in der heute unterrepräsentierten Spezialisierung »Wirtschaftsethik« eine Konzeption besonders heraussticht, dann ist es die Ethik mit ökonomischer Methode – auch Ordnungsethik genannt. Das mag vor allem daran liegen, dass ihren Vertreter:innen eine im Vergleich mit anderen Ethik-Konzepten intensive Institutionalisierung gelang: Der Gründungsvater der Ordnungsethik, Karl Homann, war bis zu seiner Emeritierung (2008) Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, darüber hinaus gibt es Lehrstühle an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Handelshochschule Leipzig und der Technischen Universität München. Verschiedene Akteure agieren im 1998 gegründeten Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik (WZGE bzw. englisch: WCGE), das u. a. Axel Springer SE, die Friede-Springer-Stiftung, die Deutschen Bank AG und die Commerzbank AG, aber auch die IG Bergbau Chemie Energie (IGBCE) zu seinen Unterstützern und Förderern zählt. Die Arbeit des WZGE beschränkt sich nicht auf Diskussionspapiere, Studien und Seminare, es wird auch eine gestaltende Rolle eingenommen. So zum Beispiel in der Begleitung des Wittenberger-Prozesses der Chemie-Sozialpartner (IG BCE und Bundesarbeitgeberverband Chemie). Vergleichbares muss mensch mit Blick auf andere Ethik-Konzepte lange suchen. Und so kommt es, dass eine Beschäftigung mit Fragen der Wirtschaftsethik gute Chancen hat, auch auf die Ethik mit ökonomischer Methode zu stoßen.

Entwickelt wurde das Konzept von Karl Homann und seinem Schüler Christoph Lütge. Ausgangspunkt dieser Ethik ist ihre Kritik an (vermeintlich) leichthändigen Moralpostulaten und an moralisierenden Schuldzuweisungen an die Wirtschaft, Politik usw. Homann ist der Meinung, dass Moral ebenso wenig ökonomische Gesetze überwinden kann, wie sie Naturgesetze überwindet. Dementsprechend betont er in einem Aufsatz von 2015: »Moral lässt sich im Alltag nicht gegen, sondern nur in und mit den ökonomischen Gesetzmäßigkeiten realisieren und stabil halten.« Als ein zentrales Problem identifiziert Homann ein Moralversagen: Unter den Bedingungen moderner Marktgesellschaften (Konkurrenz, Gewinnmaximierung usw.) besteht immer die Gefahr der Ausbeutung moralisch handelnder Menschen durch weniger moralisch integre Personen. Deshalb müssen die Problemstrukturen analysiert werden, die moralischem Handeln in modernen Marktwirtschaften entgegenstehen. Moralisches Handeln muss anreizkompatibel sein, oder in den Worten Homanns: »Moral muss schon aus Eigeninteresse gelebt werden können.« Das führt in eine mit ökonomischer Methode rekonstruierte Ethik – eine Ethik, die auf einem Denken in Vorteilen und Nachteilen basiert und moralisch integres Handeln an individuelle Vorteilserwartungen bindet. Moralisch ist, was sich auszahlt.

Methodisch wird dabei auf die neue Institutionenökonomik und die Spieltheorie zurückgegriffen: Homann spricht vom produktiven Wettbewerb in den Spielzügen, die in ein mit Sanktionen bewährtes System von Spielregeln eingebettet sind. Ausgehend davon ist von einer Handlungsethik die Rede, die systematisch in eine Regelethik eingebunden sei. Die Rahmenordnung ist dabei von zentraler Bedeutung, denn diese soll durch anreizkompatible Regeln die Voraussetzungen dafür schaffen, unter den Bedingungen moderner Marktwirtschaften – also unter Wettbewerb und Eigennutz – moralisch handeln zu können.

Homann ist sich dabei der negativen Wirkungen des Wettbewerbs bewusst und plädiert keineswegs für unregulierten Wettbewerb. Ein Ordnungsrahmen soll dafür sorgen, dass bestimmte negative Handlungen wie Raub, Erpressung, Kartellbildung, Betrug usw. stillgelegt werden. Gleichzeitig soll die Rahmenordnung die als positiv angesehenen Parameter des Wettbewerbs wie Preise, Leistung, Innovation und Qualität entfesseln. Unter diesen Bedingungen ist Homanns Behauptung zu verstehen, dass (marktkonform regulierter) Wettbewerb solidarischer als Teilen sei.

Diese Konzeption erfuhr verschiedene Weiterentwicklungen. In der Ordonomik von Ingo Pies werden zum Beispiel verschiedene »Spielebenen« unterschieden, um Diskurs-, Politik- und Marktversagen zu analysieren. Andreas Suchanek erweitert die Perspektive von Spielzügen und Spielregeln um das Spielverständnis: Wie wird das (marktwirtschaftliche) Spiel gespielt? Suchanek weist darauf hin, dass Normen, Werte, Prinzipien von besonderer Bedeutung für ein konsistentes und begründetes Spielverständnis sind. Die zunächst etwas befremdlich wirkende Spielmetapher kann auf diese Weise hilfreich sein, um Problemstrukturen offenzulegen und Ursachen von Moraldefiziten zu lokalisieren: Geht moralisches Fehlverhalten auf einen individuellen Mangel an Integrität zurück oder existieren Lücken im Ordnungsrahmen?

Trotz dieser positiven Aspekte ist die Ordnungsethik reger Kritik ausgesetzt. So hilfreich die spieltheoretische Perspektive bei der Analyse der Problemstruktur sein mag, so scheinen sich ethische Probleme nur zu verschieben oder zu verlagern. Nach wie vor ist es den Vertretern der Ordnungsethik nicht gelungen, überzeugend und konsistent darzulegen, wie die »Moral« in den Regelrahmen kommen soll. Das ist auch von praktischer Relevanz, weil so der Eindruck entsteht, sich in moralischen Fragen einen schlanken Fuß zu machen. So meinte Homann 2009 zur damaligen Banken- und Finanzkrise: »Das Problem in der aktuellen Finanzkrise ist, dass wir innovative Finanzprodukte haben, aber keine Rahmenordnung dafür.« Im Nachhinein, so Homann, sei diese Krise keineswegs überraschend gewesen. Ja, hinterher ist mensch immer schlauer. Aber wie hätten denn Vertreter der Ordnungsethik im Vorfeld der Banken- und Finanzkrise auf etwaige Regulierungsmaßnahmen reagiert? Hätte es nicht Anlass zu vehementer Kritik gegeben, weil solche Regulierungen nicht anreizkompatibel seien, »die Wirtschaft« damit unnötig moralisiert und der Wettbewerb beeinträchtigt worden wäre?

Kritisch gesehen werden kann auch der Primat des Ökonomischen, den diese Ethik vertritt. Es ist zwar durchaus plausibel, auch auf die Bedingungen für moralisch gutes Handeln in Marktwirtschaften abzustellen. Doch steht dieses in der ökonomischen Rekonstruktion unter einem Verwertungszwang, der den moralischen Gehalt und die intrinsische Motivation zum moralisch integren Handeln unterminiert. Daher ließe sich kritisch fragen, ob es denn nicht mehr moralisch richtig ist, zum Beispiel faire Löhne zu zahlen oder für sichere Arbeitsbedingungen zu sorgen, wenn sich das nicht (mehr) in Gewinn übersetzen lässt. Moralisch richtig ist (nur), was Profit abwirft? Und wie steht es um einen »Verdrängungseffekt«, bei dem extrinsische Motivation – zum Beispiel durch Geld – intrinsische Motivation für ethisches Handeln verdrängen kann?

Darüber hinaus fällt eine ideologische Färbung auf, die »Wettbewerb« und eine darauf basierende »Marktwirtschaft« zwar in regulierter Form, aber dennoch apodiktisch als alternativlos vertritt. Im Köhlerglauben des Wettbewerbs bringe dieser eben für alle Vorteile, zum Beispiel gute, preiswerte und innovative Güter. Das Gegenteil wäre Sozialismus, der auf Solidarität setze, aber zur Bildung von Diktaturen neige und die vielen Vorteile des Wettbewerbs nicht haben könne. In diesem geistigen Umfeld, das nur Marktwirtschaft und sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft kennt, ist kein Platz für nicht-marktwirtschaftliche Alternativen.

In dem Kontext nimmt es nicht wunder, dass diese Ethik mit ökonomischer Methode teils tatsächlich gegen Regulierungsvorhaben von »Markt« und »Wettbewerb« ins Feld geführt wird. Zum Beispiel diagnostizierte Ingo Pies, ein besonders lautstarker Vertreter der Ordnungsethik, vor dem Hintergrund der Mindestlohn-Debatte 2015 ein Diskursversagen in der Öffentlichkeit. Mindestlöhne lehnte er als ungeeignet ab, denn Unternehmen könnten die damit verbundene Aufgabe der Existenzsicherung in einer Marktwirtschaft gar nicht erfüllen. Dafür sei der Staat zuständig. Egal ob es um den Mindestlohn oder um sozial- und umweltpolitische Standards geht, viele ordnungsethische Texte kommen kaum ohne markigen, belehrenden bis herablassenden Tonfall aus. Auch Karl Homann ist nicht frei davon, wenn er schreibt, dass »die moralische Empörung über die vielen beklagenswerten Zustände in der Welt […] nicht wenige, auch wohlmeinende Kritiker zu einer Ablehnung des Gesellschaftssystems in toto bis hin zur Gesinnungsmilitanz« führe.

Vereinzelt stellen sich Ordnungsethiker damit aber selbst ins Abseits. So im Falle von Christoph Lütge: Seine Kritik an den Corona-Lockdown-Maßnahmen (als nicht verhältnismäßig, mittelalterlich), seine Relativierung der Corona-Sterbezahlen mit dem hohen Alter der Gestorbenen (»da stirbt man an Corona oder auch an etwas anderem«) und andere Äußerungen sorgten in Fachkreisen für Empörung, die ihm im Februar 2021 die Abberufung aus dem Bayerischen Ethikrat einbrachte.

Der auf Marginalisierung setzende Tonfall von Vertretern der Ordnungsethik ist ein Problem. Weitere Probleme liegen auf der inhaltlichen Ebene. So bleibt die Ordnungsethik beim Denken »inside the box« (Marktwirtschaft). Alternativen zum »Markt« werden entweder aufgrund der inhärent ökonomistischen Haltung der Ordnungsethik abgewertet oder gar nicht erst gesehen. Und das ist vor allem für eine sozial-ökologische Transformation ein Problem, wo solidarische Wirtschaftsformen, alternative Eigentumsformen und Demokratisierung von Wirtschaft eine Rolle spielen können. Hinzu kommt, dass in der Ordnungsethik für das Prinzip der Gewinnmaximierung und eine mit Wachstum verbundene Vorstellung von Wettbewerb und Wohlstand eingetreten wird. Eine Diskussion, die über die apodiktische Ablehnung von Degrowth oder Postwachstum hinausgeht, ist auf dieser Basis schwer vorstellbar. Verzicht, Zurückhaltung oder Mäßigung stehen nicht zur Debatte. Und so lässt sich auch nicht darüber diskutieren, ob und wenn ja welche klimabedingten Einschränkungen in welchem Umfang wem gegenüber zumutbar sein können oder nicht.

Es wäre sicher überzogen, es allein der Ethik mit ökonomischer Methode anzulasten, wenn eine sozial-ökologische Transformation heute auf der Stelle zu treten scheint und Maßnahmen, die die Wirtschaft klimapolitisch regulieren sollen, teils zahnlos wirken oder fragwürdige Formen annehmen (Stichwort: EU-Taxonomie). Nichtsdestotrotz fügt sich diese Ethik in ein Umfeld ein, in dem zum Beispiel einer sozial-ökologischen Transformation große Steine in den Weg gerollt werden. Denn es ist eine marktkonforme Ethik, die Wettbewerb als Solidarität verklärt und dabei einen regulierten Wettbewerb als alternativlose Lösung forciert, aber gleichzeitig das argumentative Rüstzeug dazu liefert, etwaige Regulierungsvorhaben zur sozial-ökologischen Transformation zu vereiteln oder abzuschwächen. Sie ist nicht nur gegenüber der Mainstreamökonomik anschlussfähig, sondern sie ist auch in der akademischen Landschaft gut institutionalisiert, so dass jene, die im Studium der Ökonomik einmal mit Wirtschaftsethik in Berührung kamen (und kommen), mindestens von ihr gehört haben, wenn sie nicht sogar in ihrem wirtschaftsethischen Denken maßgeblich durch diese Ordnungsethik geprägt wurden.

Dieser Zustand ist aber nicht in Stein gemeißelt. Mehr plurale Ökonomik, die auch normative Konzepte zu würdigen weiß und die seit über 20 Jahren von kritischen Studierenden gefordert wird, könnte ein erster Schritt zur Veränderung sein.

Geschrieben von:

Sebastian Thieme

Wirtschaftsethiker

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