Wirtschaft
anders denken.

Marktlogik außer Kraft gesetzt

03.08.2023
Ein Panoramabild von Barquisimeto., VenezuelaFoto: Wikimedia CommonsIn Nueva Segovia de Barquisimeto, der Hauptstadt des Venezolanischen Bundesstaates Lara, hat der Genossenschaftsverbund Cecosesola seinen Hauptsitz.

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In Venezuela gibt es mit Cecosesola einen Kooperativenverbund, der seit Jahrzehnten weitgehend ohne Hierarchien auskommt. Vergangenes Jahr gab es dafür den Right Livelihood Award – auch alternativer Nobelpreis genannt.

Seit sechs Uhr früh stehen Menschen Schlange vor dem Großmarkt von Cecosesola im venezolanischen Barquisimeto. Das Marktgebäude hat den Charme einer alten Maschinenhalle, auf großflächigen Holztischen liegen Gemüse und Obst. Giftgrüne Paprikaschoten, zartgelbe, verrunzelte Maracujas, orangenfarbene Papayas oder eine hellgrüne Wassermelone sind die Farbtupfer in der kargen Halle. Aus dem Lautsprecher verkündet eine schnarrende Stimme die Angebote des Tages. Elsabe Sánchez kommt jeden Samstag hierher, um einzukaufen. Die hagere Frau mit dem grauen Haarknoten trägt eine Corona-Maske, in der Hand ein Bündel Zwiebellauch und ein paar Maracujas. Sie ist Hausfrau, bekommt eine kleine staatliche Rente von ein paar Dollar monatlich. »Das reicht hinten und vorne nicht«, erklärt sie. Deswegen seien sie alle so schlecht ernährt. Elsabe Sánchez ist froh, dass es Cecosesola gibt: »Hier bekomme ich für mein Geld etwas mehr, Gott sei Dank«.
Dass ausgerechnet im kaputten und korrupten Venezuela eine Genossenschaft dafür sorgt, dass ein Viertel der etwa eine Million Einwohner:innen Barquisimetos gute und billige Lebensmittel erhalten, ist bemerkenswert. Dass dieser Genossenschaftsverband seit 57 Jahren ohne Chef, ohne Hierarchien, mit rotierenden Jobs und Einheitslohn nicht etwa eine Hinterhofexistenz führt, sondern ein kleines Firmenimperium mit 22 Lebensmittelmärkten, sechs Gesundheitszentren und einem Beerdigungsinstitut erbaut hat – das darf man mit Fug und Recht ein Wunder nennen.
1967 hatten ein paar von der Befreiungstheologie inspirierte Jesuiten den Genossenschaftsverband ins Leben gerufen. Dieser sollte die Beerdigungen für die Mitglieder der einzelnen Produzentengenossenschaften durchführen. Wenig später kaufte Cecosesola Busse und übernahm den Betrieb des städtischen öffentlichen Nahverkehrs. »Bald waren wir eine Genossenschaft, die sich in nichts von einem anderen Unternehmen unterschied. Wir hatten einen
Vorsitzenden, einen Aufsichtsrat, der hinter verschlossenen Türen tagte und einen Geschäftsführer
«, erinnerte sich Gustavo Salas in einem Gespräch vor sechs Jahren. Der Betriebswirt war als technischer Berater zu Cecosesola gekommen – und schaffte zuerst sich selbst ab und wurde Genossenschafter. »Nicht mehr das Fischen beibringen, sondern selber fischen«, lautete seine Devise.
Doch dann ging Cecosesola 1980 bankrott. Wegen politischer Auseinandersetzungen beschlagnahmte die Stadt Barquisimeto die Busse. Cecosesola stand mit Schulden da, die das Betriebsvermögen um das 60-Fache überstiegen. Viele Genossenschafter:innen traten aus.
»Als wir pleite gingen und verfolgt wurden, haben wir gelernt, dass es besser ist, keinen sichtbaren Kopf zu haben. So konnten sie uns nicht kaputtmachen«, sagt Teresa Correa, ebenfalls eine der ersten Genossenschafterinnen und heute mit ihren 70 Jahren vielfache Großmutter. Bis heute arbeitet die Frau mit den grauen kurzen Haaren und der großen Brille bei Cecosesola mit. »Nicht mehr im Verkauf, wegen meines Alters, aber im Radio«..
Nach der Pleite probierten die Genossenschafter:innen von Cecosesola 1984 eine neue Geschäftsidee aus: Sie bauten die Sitze aus einem der verbliebenen Busse aus und verkauften darin Gemüse in den Randbezirken der Stadt. Die Nachfrage war groß, die Märkte wuchsen.
Bis heute sind Selbstverwaltung, Jobrotation und Einheitslohn die Pfeiler von Cecosesola. Entscheidungen werden im Konsens und nach langen Gesprächen getroffen. Mehrmals pro Woche setzen sich die Genossenschafter:innen zum Gespräch zusammen, einmal pro Monat mit den angeschlossenen Produzentengenossenschaften, um die Preise auszuhandeln.
Als der 2013 verstorbene Präsident Hugo Chávez vor 23 Jahren seine bolivarianische Revolution ausrief, verhielt sich Cecosesola abwartend gegenüber den von der Regierung geförderten neuen Genossenschaften . »Zu paternalistisch, zu sehr von oben«, war das Gustavo Salas damals vorgekommen.
Marian Pérez dagegen war anfangs begeistert von der bolivarianischen Revolution. Die 35-jährige Wirtschaftsingenieurin mit der langen schwarzen Lockenmähne leitet die Produktion der genossenschaftlich organisierten Nudelfabrik »8 de marzo« in Sanare, einer Kleinstadt im Hinterland von Barquisimeto. »8 de marzo« wurde vor fast 40 Jahren von vier Frauen gegründet, mit nichts als einer handbetriebenen Nudelmaschine, die ein italienischer Volontär dort gelassen hatte. Heute arbeiten hier 34 Genossenschafterinnen in der Herstellung von Teigwaren aus Grieß und Gemüsesaft. Sie gehören zum Netzwerk von Cecosesola, das die Nudeln der Frauen auf seinen Märkten in Barquisimeto vertreibt.
Die Ernüchterung kam, als die Regierung – nun schon unter Chavez ’Nachfolger Nicolás Maduro – den Genossenschafterinnen immer neue Auflagen machte, um das Grießmehl für die Nudelproduktion zu importieren. »Wir fuhren immer wieder in die Hauptstadt, das war für uns mit großen Kosten verbunden – ohne Erfolg«, erzählt Marian Pérez. Andere, größere, nicht genossenschaftliche Unternehmen bekamen die Genehmigungen dagegen im Nu. »Das war alles nur heiße Luft, dass sie die Genossenschaften fördern wollen.« Noch heute hört man die Empörung und Enttäuschung in der Stimme von Marian Pérez.
In der Wirtschaftskrise Venezuelas sind auch der Nudelfabrik Abnehmer weggebrochen. Längst produziert die Genossenschaft mit einer industriellen, meterhohen Anlage. Momentan mit gedrosselter Kapazität. Venezuela liegt wirtschaftlich am Boden, über sieben Millionen Menschen haben das Land verlassen, wer geblieben ist, kämpft ums Überleben. Die Lebenshaltungskosten sind in Venezuela vergleichbar mit denen in Deutschland – die Löhne ähneln dagegen eher denen von Haiti. Rund 7 bis 10 US-Dollar verdient eine staatliche Lehrerin im Monat. In der freien Wirtschaft liegt der Durchschnittslohn bei 150 Dollar.
In Sanare ist die Nudelgenossenschaft der größte Arbeitgeber, mit 7 Dollar Tageslohn gehören die Genossenschafterinnen zu den besser Bezahlten. Marian Pérez kam vor zehn Jahren zur Genossenschaft und ist bis heute begeistert von dem Modell. »Ich dachte, ich würde die Arbeiterinnen anleiten, stattdessen habe ich gelernt, dass es nicht nur um mich geht. Wenn du viele Bedürfnisse aufbaust, dann dreht sich alles darum, sie zu befriedigen. Wenn du merkst, dass du deine Bedürfnisse viel besser zusammen mit anderen befriedigen kannst, dann krempelt diese Erkenntnis dein Leben um«.
Als ich Marian Pérez, Gustavo Salas oder Teresa Correa danach fragte, was sie im Innersten anspornt, um dieses Wirtschafts- und Lebensmodell durchzuhalten, erwartete ich Namen wie Marx, Gramsci, einen Genossenschaftsvordenker oder von mir aus auch die Bibel. Weit gefehlt. Stattdessen fallen Worte wie Vertrauen, Gespräch, Zusammenleben, Spiritualität.
»Wir reden viel darüber, was wir besser machen wollen, auch welche Fehler wir gemacht haben, das wirst du in keinem kapitalistischen Unternehmen finden«, sagt Marian Pérez.
Die Marktlogik ist durch den Einheitslohn außer Kraft gesetzt. Wie das funktionieren kann? Weil sie anders seien, lacht Teresa Correa. Weil sie sich permanent hinterfragen, wer wo wie Macht anhäuft. Ihnen geht es um harmonische Beziehungen, nicht um Konkurrenz. »Vielleicht sind wir auch gar keine Genossenschaft mehr, sondern eine Organisation, der es um das persönliche Wachstum und das Miteinander geht.«
Für Gustavo Salas ist Vertrauen der Schlüssel zu allem: »Wenn das Vertrauen untereinander stimmt, dann lösen sich alle wirtschaftlichen Probleme von allein.«
Und wenn das Vertrauen missbraucht wird? Auch das gibt es in Cecosesola, sagt Teresa Correa. Da alle aufpassen, und sich rechtzeitig korrigieren, sei es aber relativ selten, dass jemand die Genossenschaft verlassen müsse.
Bis 2022 war Cecosesola vor allem den Menschen im armen Westteil der Stadt Barquisimeto und Kennern der Genossenschaftsbewegung ein Begriff. Dies änderte sich letztes Jahr: 2022 gewann Cecosesola den Right Livelihood Award, auch alternativer Nobelpreis genannt, und wurde schlagartig international bekannt.
Wie man das Modell denn kopieren könne, frage ich Teresa Correa zu Schluss. »Alles ist eine Frage der Prioritäten«, sagt die Genossenschafterin. »Ihr müsst euch auf die menschlichen Beziehungen konzentrieren, weniger aufs Materielle. Ich glaube, wenn wir ein angenehmes, familiäres und vertrauensvolles Arbeitsumfeld haben, dann lösen sich auch die materiellen Fragen.«

Hildegard Willer ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru)

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