Was ist Marktwirtschaft, was Neoliberalismus?
Kapitalismus, Ordoliberalismus, Marktradikale – Hermann Adam im Gespräch über Begriffe, die für die Diskussion über ökonomische und sozialpolitische Fragen essenziell sind.
Je nachdem wie jemand politisch denkt, charakterisiert er das Wirtschaftssystem in Deutschland als soziale Marktwirtschaft, als eine kapitalistische oder marktradikale oder neoliberale Wirtschaftsordnung. Helfen Sie uns zu unterscheiden: Was sind die Merkmale, die unzweideutig eine soziale Marktwirtschaft kennzeichnen und diese von anderen unterscheidet?
Adam: Der Ausdruck »soziale Marktwirtschaft« stammt vom langjährigen engen Mitarbeiter Ludwig Erhards, Alfred Müller-Armack, der einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität Köln innehatte. Der Leitgedanke der sozialen Marktwirtschaft besteht darin, das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden. Unter einem sozialen Ausgleich verstand Müller-Armack: Der Wohlstand steigt ständig, Vollbeschäftigung ist gesichert, und es gibt eine Sozialpolitik, die die Einkommensverteilung im Sinne von mehr Gerechtigkeit korrigiert, indem der Staat Einkommen umleitet.
Was ist das: Einkommensumleitung?
Es ging Müller-Armack nicht um eine Umverteilung der Einkommen von den Reichen zu den Ärmeren. Mit Einkommensumleitung meint er beispielsweise: Die Gesunden finanzieren mit ihren Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung die Behandlungskosten der Kranken. Die Erwerbstätigen finanzieren über ihre gesetzlichen Rentenversicherungsbeiträge die Renten der Ruheständler. Oder, was in den 1950er Jahren, nach dem Krieg, eine große Bedeutung hatte: Diejenigen, die nicht ausgebombt waren, finanzierten mit einer Vermögensabgabe die Unterstützung für diejenigen, die ihr Hab und Gut verloren hatten. Lastenausgleich nannte man das damals.
Wichtig war Müller-Armack: Der Staat kann eingreifen, aber er muss immer marktkonform handeln. Das heißt, er darf nie den Preismechanismus antasten. Ein Beispiel, das heute wieder aktuell ist: Wenn Wohnungen knapp sind und die Mieten deshalb stark steigen, soll der Staat nicht die Mieten gesetzlich festlegen, sondern den einkommensschwachen Haushalten Wohngeld geben, damit diese auch teure Mieten bezahlen können.
Kapitalismus und Marktradikalismus
Und was sind die entscheidenden zwei, drei Merkmale einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung?
Für die Marktwirtschaft steht, wie der Begriff sagt, der Markt im Mittelpunkt: Mit ihm wird die Wirtschaft gesteuert. Beim Kapitalismus steht im Mittelpunkt: Wem gehören die Produktionsmittel, und welche Rechte hat der Eigentümer? Zum Produzieren werden Arbeit und Kapital gleichermaßen benötigt. Aus dem Verkauf der gemeinsam von Kapital und Arbeit erzeugten Waren entstehen Erlöse. Aber wem stehen diese Erlöse zu? In einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung erhält die Arbeit für ihren produktiven Beitrag einen Lohn, das Kapital Zinsen. Das, was dann noch übrig bleibt, ist der Gewinn. Der wird in einem kapitalistischen System qua Eigentumsordnung automatisch den Kapitaleignern zugerechnet. Alle Ansprüche der Arbeit gelten mit dem Lohn als abgegolten. Außerdem wird das Management in einem kapitalistischen Unternehmen allein von den Kapitaleignern eingesetzt, ist allein ihnen gegenüber verantwortlich und hat die Aufgabe, deren Interessen zu verwirklichen.
Heute wird auch oft der Begriff des Marktradikalismus verwandt. Was kennzeichnet eine marktradikale Wirtschaftsordnung?
Das ist ein Begriff, der weniger in der Wissenschaft, sondern eher in der politischen Diskussion gebraucht wird. Spätestens seit sich die Planwirtschaften der sozialistischen Systeme als ineffizient erwiesen haben, geht es in der politischen Auseinandersetzung nicht mehr um die Frage Marktwirtschaft oder Planwirtschaft. Es geht vielmehr darum, welchen Mix aus Markt und staatlicher Lenkung in der Wirtschaftspolitik eingesetzt wird. Dabei ist sowohl in der Wissenschaft als auch erst recht in der Politik das optimale Mischungsverhältnis von Markt und Lenkung heiß umstritten. Diejenigen Ökonomen werden als Marktradikale bezeichnet, die Marktmechanismen in fast allen Teilbereichen der Gesellschaft befürworten und korrigierende Eingriffe des Staates ablehnen. Sie lehnen diese ab, weil sie überzeugt sind, dass nur der Markt auch unter sozialen Gesichtspunkten die besten Ergebnisse erzeugt. In ihren Augen kann der Staat nur schaden. Ab wann vertritt jemand marktradikale Positionen? Das lässt sich wissenschaftlich nicht sauber und zweifelsfrei abgrenzen. Von der politischen Linken wird dieses Wort im öffentlichen Diskurs als Kampfbegriff verwendet, um alle Ökonomen und Politiker anzugreifen, die für weniger oder gar keine Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsablauf eintreten.
Die verschiedenen Schulen des Neoliberalismus
Was ist unter einer neoliberalen Wirtschaftsordnung zu verstehen?
Den Begriff Neoliberalismus gebrauchte zum ersten Mal der Ökonom und Sozialwissenschaftler Alexander Rüstow im Jahr 1938 beim Walter Lippmann Colloquium in Paris. Dort trafen sich liberale Ökonomen aller Richtungen, um zu diskutieren, welche Lehren aus der unbefriedigenden wirtschaftlichen Entwicklung in den 1920er Jahren und vor allem aus der verheerenden Weltwirtschaftskrise für die künftige Wirtschaftspolitik gezogen werden sollten. Die klassischen Liberalen folgten (wie Adam Smith) der These, der Staat solle sich auf eine Nachtwächterrolle zurückziehen; er sorgt also für Sicherheit, für eine Rechtsordnung und betreibt die Außenpolitik, mehr aber nicht. Davon setzten sich die Neoliberalen bewusst ab: Sie plädierten für einen starken Staat. Dieser soll vor allem einen ausreichenden wirtschaftlichen Wettbewerb sichern, also die Bildung von Kartellen untersagen und dafür sorgen, dass kein Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung erlangt.
Es gibt aber verschiedene neoliberale Schulen?
Das ist richtig, die sind keineswegs homogen. Eine speziell deutsche Form des Neoliberalismus ist der Ordoliberalismus, auch Freiburger Schule genannt, die mit dem Namen Walter Eucken verbunden ist. Er legt in seinen Schriften besonderen Wert auf die Wettbewerbstheorie und einen Staat, der stark genug ist, auch gegen die Lobby der Wirtschaft den Wettbewerb zwischen den Unternehmen zu sichern.
Eine andere Richtung des Neoliberalismus verkörpert der amerikanische Nobelpreisträger Milton Friedman. Für ihn steht die Geldpolitik der Notenbanken im Mittelpunkt. Die Notenbanken sollen, so Friedman in vielen seiner Arbeiten, die Geldmenge jedes Jahr nur in dem Umfang erweitern, wie sich die Produktionsmöglichkeiten der jeweiligen Volkswirtschaft erhöhen. So soll die Inflation unter Kontrolle bleiben. Da Friedman an der Universität Chicago gelehrt hat, wird diese Richtung auch Chicagoer Schule genannt. Und weil der Schwerpunkt der Betrachtung auf der Geldmengensteuerung liegt, wird diese Richtung auch Monetarismus genannt; ihre Vertreter sind die Monetaristen.
Wozu gehört dann Friedrich A. von Hayek?
Der verkörpert wiederum die österreichische Schule. Ihm waren die Vertragsfreiheit und der Schutz des Eigentums besonders wichtig. Da Interventionen des Staates in die Wirtschaft stets in die Vertragsfreiheit der Wirtschaftssubjekte eingreifen und auch das Nutzungsrecht des privaten Eigentums einschränken, kämpfte er Zeit seines Lebens gegen staatliche Lenkungsmaßnahmen. Er war der festen Überzeugung: In der Summe führten staatliche Interventionen in den Totalitarismus.
Was ist diesen Schulen gemeinsam?
Neoliberale sind in der Tat ein buntes Völkchen und vertreten teilweise sehr unterschiedliche Positionen. Aber in einem sind sie sich ziemlich einig: Sie lehnen es ab, dass der Staat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steuert, um auf diese Weise die Konjunktur zu beeinflussen. Sie lehnen also die Maßnahmen ab, die beispielsweise der Ökonom John Maynard Keynes empfiehlt. Aber auch hier gibt es Ausnahmen: Alfred Müller-Armack war beispielsweise anders als Ludwig Erhard dafür, dass der Staat für Vollbeschäftigung sorgt; er könnte also gewissermaßen als links-liberaler Ökonom bezeichnet werden. Und so ist Hans-Werner Sinn, langjähriger und sehr einflussreicher Präsident des Ifo-Instituts München, durchaus für Konjunkturprogramme als Reaktion auf Krisen im keynesianischen Sinne; bei einer solchen Krise bricht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auf breiter Front ein. Aber wegen anderer Positionen, die er vertritt, wird Sinn eher zu den Neoliberalen gerechnet.
Ist die hiesige Wirtschaftsordnung sozial?
Wie charakterisieren Sie – vor dem Hintergrund dieser Begriffe – nun die jetzige Wirtschaftsordnung in Deutschland?
Im Kern lautet Ihre Frage: Ist unsere Wirtschaftsordnung sozial oder nicht? Legt man die Maßstäbe an, die Müller-Armack selbst an die soziale Marktwirtschaft gestellt hat, dann hat sie die von ihm genannten sozialen Ziele nicht erreicht. So gibt es seit den 1980er Jahren keine ständige Steigerung des Wohlstandes mehr; das war ja sein erstes Ziel. Die Belege: In vielen Jahren sind die Realeinkommen der Arbeitnehmer gesunken. Und im Durchschnitt der letzten drei Jahrzehnte stagnieren die Reallöhne. Und die Vollbeschäftigung – das zweite Ziel Müller-Armacks – war nur ein kurzer Traum, der von 1960 bis 1974 dauerte.
Und Einkommensumleitung?
So, wie Müller-Armack sie verstand, hat sie stattgefunden, beispielsweise von Gesunden zu Kranken, von Erwerbstätigen zu Rentnern, also im Rahmen des Umlageverfahrens der Sozialversicherung. In Deutschland gibt es jedoch nicht nur eine erfolgreiche Einkommensumleitung im Sinne Müller-Armacks. Es gibt auch eine erfolgreiche Umverteilung von Einkommen. Der Beleg für diese Behauptung: Die Verteilung der Bruttoeinkommen ist noch viel ungleicher als die Verteilung der Nettoeinkommen, also der Einkommen nach Abzug der Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Der Steuer- und Sozialstaat verteilt also unbestreitbar Einkommen im Sinne von weniger Ungleichheit um – das ist politisch gewollt. Ob das ausreicht, ist eine andere Frage. Und ich rede hier nur von Erwerbseinkommen und nicht von der Verteilung von Vermögen.
Was ist dann Ihre Bilanz: Diese Wirtschaftsordnung ist ein bisschen sozial, hat aber nicht die Ziele erreicht, um sie soziale Marktwirtschaft nennen zu können?
Klar ist: Die von den »Erfindern« der sozialen Marktwirtschaft selbst gesteckten Ziele wurden im Wesentlichen nicht erreicht. Übrigens: In der Politikwissenschaft werden seit den 1990er Jahren andere Kategorien verwendet, um Wirtschaftsordnungen zu charakterisieren. Die US-Politologen Albert A. Hall und Davide Soskice unterscheiden zwischen liberalen, beispielsweise die USA, und koordinierten Marktwirtschaften, wie der in Deutschland. Die Wirtschaftsordnungen werden nach Merkmalen wie Finanzsystem, Arbeitsbeziehungen, Ausbildungssystem und den Wettbewerbsbeziehungen zwischen den Unternehmen analysiert. Die Politologen sprechen von Varianten des Kapitalismus, weil jede kapitalistische Marktwirtschaft spezielle Ausprägungen hat.
Die deutschen Vertreter des Marktradikalismus
Wer betreibt in Deutschland nach diesen Begriffen eine Politik des Marktradikalismus? War beispielsweise Kanzler Helmut Kohl ein Marktradikaler?
In Helmut Kohls Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 stand der Satz: »Wir führen den Staat auf seine Kernaufgaben zurück.« Das hörte sich so an, als wollte er zu einem Nachwächterstaat, zu einem Laissez-faire à la Adam Smith, zurückkehren. Doch dieser Satz war wohl mehr ein Kotau vor seinem Koalitionspartner FDP als eine ernst gemeinte Ankündigung, die konsequent umgesetzt wurde. Politikwissenschaftliche Analysen bilanzieren, unter Kohl sei es faktisch nur zu einem kleinen Politikwechsel gekommen, der erheblich moderater ausfiel als beispielsweise in Großbritannien unter Margaret Thatcher. So kritisierte auch der mehrheitlich neoliberal ausgerichtete Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, unter Kanzler Kohl, also von Mitte der 1980er Jahre bis 1998, seien die Handlungsspielräume für die Unternehmen, also die Angebotsbedingungen, nicht ausreichend verbessert worden. Am Ende der Amtszeit Helmut Kohls betrug die Staatsquote genau 48 Prozent; das ist der Anteil des Staates am Bruttoinlandsprodukt. Mit 46,5 Prozent war Kohl 1983 gestartet. Das ist keine marktradikale Politik. Am nächsten kommen »marktradikalen Vorstellungen« noch der Kronberger Kreis, ein loser Zusammenschluss von Ökonomieprofessoren, und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), eine vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall getragene Denkfabrik zur Verteidigung und Verbreitung des ordoliberalen Gedankenguts. Fundamental marktradikale Vorstellungen wie etwa die Tea-Party in den USA, die schon die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung für alle als Sozialismus bezeichnet, haben aber auch Kronberger Kreis und INSM bisher nicht entwickelt.
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