Wirtschaft
anders denken.

»… exaltierten Unsinn in Grund und Boden zu kritisieren«: Marx in der neuen »spw«

25.02.2018

Die Zahl der Marx-Schwerpunkte in den Medien hat längst das Maß des Überschaubaren überschritten. Das spricht immerhin für die Aktualität des Alten aus Trier und seiner Kritik der Politischen Ökonomie. Nun hat sich die linkssozialdemokratische »Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft« dem Reigen angeschlossen. Ein Blick ins Heft.

Was hätte Karl Marx von den großen Plattformkonzernen gehalten? Und was wäre von ihm zum Einfluss der Künstlichen Intelligenz auf die Produktionsverhältnisse zu hören gewesen? Oder ganz allgemein zur Digitalisierung, diesem übergroßen Begriff, der so viel zudeckt, indem er so wenig sagt über das, was er da so laut und grell beschreibt? In der neuen »Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft« nimmt sich Michael R. Krätke solche Fragen vor und stellt in »Marx und die digitalen Zukünfte des Kapitalismus« ein paar Antworten zur Diskussion.

Marx selbst war als Zeitgenosse der industriellen Revolution in England von den damaligen technologischen Entwicklungen »begeistert. Da er den entwickelten Kapitalismus von Anfang an als eine hochtechnologische Produktionsweise sah, die die Welt weit gründlicher verändern werde als alle früheren Wirtschaftsformen«, so Krätke, habe er anders als viele andere Ökonomen damals »das gründliche Studium der zeitgenössischen Technologie und Naturwissenschaften für unabdingbar« gehalten.

Marx hielt aber »weder die Technik, noch die Technologie und Naturwissenschaften für die treibende Kraft«. Das, so Krätke, was das Tempo in die Sache brachte, die Geschwindigkeit also, mit der »die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit gesteigert wurde, lag für ihn in der spezifischen Dynamik des modernen Kapitalismus«. Die ständige Jagd nach technischen Verbesserungen und Neuerungen im Fabriksystem habe Marx »mit der Logik der ›relativen Mehrwertproduktion‹« erklärt, aber »neue Techniken bzw. Technologien schaffen nur die Möglichkeit mehr oder minder radikaler Veränderungen der kapitalistischen Betriebs- und Verkehrsweise.«

»Allein politische Ökonomie ist nicht Technologie«

Krätke zitiert hier Marx Diktum »Allein politische Ökonomie ist nicht Technologie.« Anders formuliert: Nicht die Produktions-, Transport- oder Kommunikationstechnologien selbst sind es, die den Gang der kapitalistischen Entwicklung bestimmen, »sondern anders herum. Es ist die neue, spezifisch kapitalistische Betriebsweise des Fabriksystems, mit der die ›moderne Wissenschaft der Technologie‹, die systematische Anwendung der Ergebnisse der Naturwissenschaften in der materiellen Produktion, die ständige Jagd nach Innovationen, die Beschleunigung des technischen Fortschritts, die lange Folge immer neuer industriell-technischer Revolutionen beginnt«.

Nun wäre das nur eine Henne-Ei-Frage aus der Vergangenheit, wenn man sie darauf beschränkte, historische Wirtschaftsentwicklungen zu analysieren. Aber von Marx und seiner Kritik der Politischen Ökonomie wird bis heute in der Regel mehr erwartet: nämlich immer noch der beste Werkzeugkasten zur Analyse bestehender Verhältnisse und aktueller Umwälzungen zu sein. Krätke schließt hier mit einer Kritik sowohl an den Werbelautsprechern der digitalen Ökonomie wie auch an übertriebenen Hoffnungen auf die systemveränderede Kraft des technologischen Kapitalismus selbst an.

Krätke formuliert es so: »Marx hätte die Mythen über eine digitale Ökonomie bzw. einen digitalen Kapitalismus, wie sie heute von Vielen geteilt und verbreitet werden, kaum akzeptiert. Im Gegenteil, er hätte seine Aufgabe als kritischer Ökonom gerade darin gesehen, exaltierten Unsinn und unhaltbare Behauptungen in Grund und Boden zu kritisieren, gerade dann, wenn sie von ›links‹ kommen«. Das ist auch ein Wink mit dem ganzen Zaun in Richtung Paul Mason und anderen heutigen Interpretationen unter anderem des berühmten »Maschinenfragments«.

Wie viel »Arbeit« braucht »Wissen«?

Es führt aber ebenso zu Fragen, deren Beantwortung nicht bloß durch das Heraussuchen von richtigen Zitatstellen in »Das Kapital« zu bewerkstelligen wäre. »Lässt sich die Ökonomie der Informations- oder Wissensgüter also noch in Wertbegriffen fassen?«, formuliert Krätke eine davon. Was lässt sich heute aus einem um 1857 aufgestellten Gedankenexperiment noch lernen, in dem Marx schon die menschenleere, automatische Fabrik dachte und die zentrale Rolle von »allgemeiner Produktivkraft« erkannte, dem berühmten »general intellect«? Wie viel »Arbeit« braucht »Wissen« und was bedeutet das? Und so fort.

Krätke führt weitere »Mythen« an, von denen er meint, Marx hätte dazu aktuell Kritisches vorzubringen. Etwa die Null-Grenzkostentheorie, bei der man nicht nur auf die schrumpfenden Kosten einer jeweils zusätzlich produzierten Einheit schauen dürfe, weil das nur einen Teil der Gesamtkosten ausmacht, sondern auch die Kosten zu berücksichtigen sind, die zum Beispiel für den Erhalt, die Überwachung, die Erneuerung der digitalen Technik durch Arbeitsaufwand nötig sind, mit der sich bestimmte Güter belieb reproduzieren lassen.

Auch glaubt Krätke, Marx hätte sich in die Debatte über das so genannte Produktivitätsparadox eingemischt. Warum steigt die Produktivität nicht stärker, wo doch all die neue Technik zum Einsatz kommt? »Für Marx wäre das Ausbleiben von kräftigen Steigerungen der Arbeitsproduktivität aller Digitalisierung zum Trotz ein Problem gewesen, denn er erwartete von einer technischen Neuerung, die sich über viele Industriezweige hinweg verbreitet, eine Welle von ›Wertrevolutionen‹, von Kapitalvernichtung und Kapitalerneuerung, den Aufstieg neuer Industriezweige und den Verfall alter Industrien, also eine regelrechte große Transformation des Kapitalismus. Die wird bisher nur wortreich beschworen, aber in den relevanten Produktions- und Produktivitätsstatistiken taucht sie nicht auf.«

Draußen ändert sich der Kapitalismus rasend schnell

Oder noch nicht? Mag ja auch sein, dass es Marx heute so gehen würde wie es ihm damals schon widerfuhr: Während er seine Kritik der Politischen Ökonomie erdachte, entwickelte, abfasste, änderte sich draußen der Kapitalismus rasend schnell. Eine »fertige« Analyse war praktisch unmöglich, selbst für einen wie Marx, der den Anspruch hatte, nicht den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu begreifen, sondern eine große, zeitliche Konjunkturen übergreifende Theorie über das Ganze aufzustellen.

Das aktuelle spw-Heft ist auch über Krätkes Text hinaus ein Marx-Schwerpunktheft. Uwe Kremer schließt in seinem Beitrag an Krätkes Überlegungen an, verweist aber auf einige Felder, »die im Lichte der Digitalisierung eine Weiterentwicklung der allgemeinen Theorie bzw. marxistischen Kritik der politischen Ökonomie erforderlich machen«.

Michael Vester unterstreicht auch noch einmal, dass man das Gesamtwerk von Marx »weniger denn je als abgeschlossenes System angesehen werden, auf das sich eine einheitlichen Lehre stützen könnte, wie dies von Verfechtern wie von Kritikern des Marxismus lange vertreten worden ist«. Neue Erkenntnisse über Schriften, Vorarbeiten und so weiter, welche die Marx-Engels-Gesamtausgabe immer weiter wachsen lassen, zeigen, »dass in Marx‘ Theorien und Analysen viele Probleme ungelöst sind, unvereinbare Konzepte nebeneinander stehen und auch erhebliche Selbstzweifel zum Ausdruck kommen«.

Im Heft finden sich Anregungen dazu, wie man von Marx ausgehend weiterdenken kann. Thilo Scholle überblickt eine Vielzahl neuer Veröffentlichungen über den Alten aus Trier. Beatrix Bouvier denkt über das Bild nach, das wir von Marx haben, und wie aus Beschreibungen auch Zuschreibungen werden. SPD-Politiker wie Katarina Barley, Yasmin Fahimi und Oliver Kaczmarek schreiben darüber, wie Marx ihnen in ihrer politischen Biografie über den Weg lief. Auch die feministischen Ergänzungen der Kritik der Politischen Ökonomie werden in dem Heft bedacht. Das ganze Inhaltsverzeichnis findet sich hier.

Kein »Schlag nach bei Marx«-Wettbewerb

Wichtig scheint noch der Hinweis auf das Selbstverständnis dieses Heftes, denn dies politisiert das Motiv zu diesem Schwerpunkt – und ist darin ein aktueller Appell in Richtung Sozialdemokratie, wobei man darunter ja nicht nur die gleichnamige Partei verstehen muss, sondern einen weiter gefasste politische Matrix sehen kann. »Marxsches Denken ist keine Theologie«, schreiben Kai Burmeister, Thilo Scholle und Stefan Stache in ihrem Editorial. Weder gehe es um einen »Schlag nach bei Marx«-Wettbewerb noch um »ein schematisches Anwenden Marxscher Theorie«. Der Alte aus Trier bleibt eine bloße Ikone, würde man ihn lediglich als Promi für die eigene politische Ahnengalerie hernehmen.

Das spw-Heft zielt auf etwas anderes. »Es würde der Sozialdemokratie gut tun, endlich wieder an einer klaren Einschätzung zu arbeiten, was eigentlich ökonomisch und gesellschaftlich um sie herum passiert.« Das ist nicht nur eine Kritik an den ökonomischen und wirtschaftspolitischen Leerstellen, es deutet zugleich darauf hin, dass man die erst füllen muss, wenn man die Entwicklung eines alternativen Entwicklungspfads auch ökonomisch fundieren will. Das schließt Projekte zur »Regulierung oder Überwindung« des digitalen Kapitalismus ein.

Wobei die »spw« dabei eine Mahnung ausspricht, die man nicht oft genug wiederholen kann: »Ein den ›rheinischen‹ Kapitalismus der 1970er Jahre idyllisierendes Idealbild« ist so wenig zukunftstauglich wie die »Idee, technologische und arbeitsorganisatorische Entwicklungen einfach zu stoppen oder zurückzudrehen«. Es muss schon »darum gehen, emanzipatorische Potentiale in aktuellen Entwicklungen auszumachen und daran anschließend diese verstärkende und auch darüber hinausweisende und politische Projekte zu entwickeln«. Sagt ja keiner, dass das der einfachere Weg ist.

Geschrieben von:

Tom Strohschneider

Journalist

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