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27.03.2023
Eine alte Fabrikhalle in Schwarz-weißFoto: Birmingham Museums TrustDie kapitalistische Logik, die sich in der Fabrik manifestierte, war für Marx' Ideen wichtiger als Erfindungen wie die Dampfmaschine.

Was Karl Marx und Friedrich Engels in England suchten und fanden. Aus OXI 3/23.

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»In England ist immer Wales eingeschlossen, in Großbritannien England, Wales und Schottland, im Vereinigten Königreich jene drei Länder und Irland.« (Karl Marx: »Das Kapital«, Bd. 23, S. 683, Fn. 107)

Im Vorwort zur Erstauflage des »Kapitals« von 1867 schreibt Karl Marx, dass die »klassische Stätte« der kapitalistischen Produktionsweise England ist. Dies sei der Grund, warum er es zur »Hauptillustration« seiner »theoretischen Entwicklung« herangezogen habe. Wer glaube, mit den Achseln zucken zu müssen, so Marx weiter, dem rufe er zu: »Über dich wird hier berichtet!« Sein Hauptwerk »Das Kapital« erschien fast 20 Jahre nachdem er auf die Insel geflüchtet war; die englische Übersetzung des ersten Bandes des »Kapitals« sollte er jedoch nicht mehr erleben. Sie erschien vier Jahre nach seinem Tod im Jahr 1883. Warum fand Marx England so zentral für die Analyse des Kapitalismus, stellte diese aber auf Deutsch an?

England war nicht Marx` Wahlheimat, sondern das Land, das ihn noch aufnahm, nachdem er aus einigen europäischen Ländern ausgewiesen wurde. Seit Ende 1845 war er staatenlos. Die Muttersprache seiner jüngsten Tochter, Eleanor, 1855 in London geboren, lernte er spät: Englisch. In der Schule wurde sie nicht gelehrt und im Gegensatz zu seiner Frau, Jenny Marx, hatte er keinen Privatunterricht. Französisch war seine Passion. Selbst die Klassiker der Politischen Ökonomie, Adam Smith und David Ricardo, las und exzerpierte Marx zunächst in französischer Übersetzung – im Pariser Exil. Bis zu einem Studienaufenthalt im Sommer 1845 findet sich in seinen Exzerpten kein einziges englischsprachiges Buch. Diese Studienreise unternahm Marx mit Friedrich Engels – nach dem Verbot der »Rheinischen Zeitung«, die Marx leitete und vor den Revolutionen und demokratischen Massenbewegungen, die 1848 fast ganz Europa erfassten. Was man sich heute kaum mehr vorstellen kann: Der Aufenthalt galt der Lektüre. Viele Bücher gab es auf dem Festland weder käuflich zu erwerben noch in Bibliotheken. Kopiergeräte existierten nicht, also lasen und exzerpierten Marx und Engels gemeinsam über mehrere Wochen Bücher aus diversen Bibliotheken und Leihgaben sozialistischer Kampfgefährten.

Engels hatte einen anderen Werdegang, wenngleich auch er nach der gescheiterten Revolution nach England emigrierte. Aber nicht in Armut und Ungewissheit wie Marx, sondern in die Chefetage einer Fabrik. Auch konnte er schon fließend Englisch. Schon lange schwebte Engels` Vater vor, dass »Ermen & Engels« ein geachtetes deutsch-englisches Familienunternehmen werden sollte, geleitet von den Söhnen. Bereits im Frühjahr 1840 hatte EngelsVater den angehenden Kaufmann Friedrich auf eine Reise nach England mitgenommen. Ende März 1841 beendete dieser zwar seine Lehre im Handelshaus Heinrich Leupold in Bremen, aber sie war für die ihm zugedachte Zukunft nicht ausreichend. Er sollte in Manchester »English commercial methods« erlernen: Kalkulationen, Preise, Geschäftspraktiken, Maschinenparks, Technologien, um diese recht schnell nach Engelskirchen zu bringen – so die Idee des Vaters. Der junge Friedrich Engels sollte als »General Assistent« Peter Ermen in Manchester zur Seite stehen, davor jedoch Land und Leute kennenlernen. Von Anfang Dezember 1842 bis Mitte August 1844 lebte er in England. Die Berichte aus dieser Zeit sind weniger schmeichelhaft. Peter Ermen gab zu Protokoll: »Er arbeitete so wenig für die Firma, wie er sich leisten konnte, und verbrachte seine meiste Zeit auf politischen Versammlungen und mit dem Studium der sozialen Zustände Manchesters.« Das stimmt natürlich nicht ganz, denn nach zehn Stunden Arbeit besuchte er sogar noch die Nachtschule, um sein Englisch zu verbessern. Diesen Aufenthalt nutzte er aber auch, seine Sozialstudie »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« auszuarbeiten, die 1845 erschien, eine Arbeit, die Marx immer wieder in höchsten Tönen lobt. In einem zu Lebzeiten nicht publizierten Manuskript heißt es: »Die beiden Schriften von Dr. Ure und Friedrich Engels sind unbedingt die besten über das Fabriksystem und beide dem Inhalt nach identisch, nur das Ure als Knecht dieses Systems ausspricht, als innerhalb des Systems befangner Knecht, was Engels als freier Kritiker.«

Was Engels in seinem Buch dokumentierte, war jedoch keine Analyse des Kapitalismus, sondern Material, das Marx für die Illustration seiner »theoretischen Entwicklung« im »Kapital« verwendete, wie er sich ausdrückt. Dennoch war es nicht nur EngelsBuch, das Marx für sein »Kapital« zu Rate zog, sondern er profitierte über Jahre auch von dessen Praxiswissen. In den vielen Briefen, die sie austauschten, erkundigte sich Marx immer wieder nach Praktiken in der Buchhaltung oder nach Berufsbezeichnungen und maschinellen Vorgängen. Aber nicht nur das: Marx besuchte sogar einen Kurs an der »Royal School of Mines«, bei Professor Robert Willis, um mechanische Prozesse im Bergbau besser zu verstehen.

England war jedoch nicht nur industrieller Vorreiter, sondern die koloniale Weltmacht und kapitalistische Avantgarde auch in anderen Bereichen. Nicht zuletzt aufgrund des entwickelten Bankensystems, in dessen Zentrum die Bank of England stand, mit dem britischen Pfund als Weltgeld, was wiederum Kapital anzog, das sich dank der modernen englischen Industrie optimal verwerten ließ. England war um die Mitte des 19. Jahrhunderts also der ideale Ort, um darüber nachzudenken, was den Kapitalismus eigentlich kapitalistisch macht.

England war auch Ursprungsland der kapitalistischen Logik. Damit ist nicht die Erfindung der Dampfmaschine gemeint. Damit diese neue Antriebstechnik überhaupt ihren Zweck erfüllen konnte, bedurfte es zweier Voraussetzungen: des modernen Eigentums und einer Produktionstechnik, an der man die industrielle Revolution tatsächlich festmachen kann. Modernes Eigentum ist nicht allein durch das Recht bestimmt, Dritte von Nutzungsrechten ausschließen zu können, sondern Eigentum ist zentrales Moment des ökonomischen Reproduktionsprozesses, der Akkumulation. Die Spezifik des kapitalistischen Eigentums ist, dass sich auf seiner Grundlage die Bewegung G-Gvollzieht, dass aus vorgeschossenem Geld mehr Geld wird, sich Kapital verwertet. Dafür bedarf es jedoch Eigentumslose, die gezwungen sind, im Dienst des neuen Eigentums zu arbeiten – als Lohnabhängige.

Der Scheidungsprozess vollzog sich im Bereich der Agrikultur, auf dem Land, schaffte Grundeigentümer auf der einen und doppelt freie Lohnarbeiter auf der anderen Seite. Dieser Prozess revolutionierte die Eigentumsverhältnisse. Im Zuge der Einhegung und der Zerstörung der Gemeingüter, der Enteignung der Bauernschaft von Grund und Boden, wurde die moderne Form des Privateigentums durchgesetzt, die ökonomische Voraussetzung dafür organisiert, dass die eigene Arbeitskraft verkaufen werden musste. Marx nannte diesen Prozess ironisch die sogenannte ursprüngliche Akkumulation und sah England lange als das Land, in dem der Prozess in idealtypischer Weise stattgefunden hatte.

Diese Voraussetzung ermöglichte laut der Historikerin Ellen Meiksins Wood eine Dynamik, die in den spezifisch englischen Bedingungen gründete, der Dreierkonstellation aus Grundeigentümern, Pächtern und Lohnarbeitern. »Pächter waren gezwungen, nicht nur auf einem Markt um Konsumenten zu konkurrieren, sondern auf einem Markt für den Zugang zu Land.« Diese Konkurrenz um Land brachte den Zwang, möglichst gute Renten zahlen zu können, was durch die Erhöhung der Produktivität ermöglicht werden sollte.

Aus dem Markt als Möglichkeit wurde ein Imperativ. Um in der Konkurrenz mithalten zu können, wurde die Steigerung der Produktivität das zentrale Mittel. Sie ist aufs Engste mit dem Begriff der industriellen Revolution verknüpft. Was macht diese aus, wenn es nicht die Dampfmaschine ist? Der Technikhistoriker Akoš Paulinyi argumentiert, aufbauend auf Marx, dass die Produktionstechnik den Ausschlag gibt, nämlich die Ablösung der Hand-Werkzeug-Technik durch die Maschinen-Werkzeug-Technik – und zwar nicht nur punktuell, sondern als vorherrschendes Prinzip. Den unmittelbaren Produzenten wurde also das Werkzeug »aus der Hand« genommen, ihre Arbeitsqualifikationen entwertet. Erst indem das Werkzeug selbst Teil einer Maschinerie wurde, konnte die Antriebskraft (Dampfmaschine) den Arbeitsprozess in einem Maße beschleunigen, die mit Handarbeit niemals denkbar gewesen war – ein Prozess der sich in England zwischen 1760 und 1860 vollzog. Dieser Paradigmenwechsel in der Produktionstechnik markiert die industrielle Revolution; das Elend, das sie produzierte, zeigte Engels in seinem Buch von 1845.

Für Marx hingegen war England der ideale Ort für die Analyse des Kapitalismus, weil dort die bürgerliche Gesellschaft in Form der Wissenschaft »Politische Ökonomie« bereits früh begann, Anschauungen von sich selbst zu erarbeiten. Deshalb musste Marx trotz der Studienreise von 1845, wie er es 1859 rückblickend ausdrückte, »ganz von vorn wieder anfangen« und sich »durch das neue Material kritisch« durcharbeiten, weil das »ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie, das im British Museum aufgehäuft ist« einen günstigen Standpunkt für die Beobachtung der bürgerlichen Gesellschaft gewährte. In den 1850er Jahren war Marx noch ganz eingenommen davon, dass England den Fortschritt in die Welt trägt – und sei es als brutale Kolonialmacht. Das lässt sich in seinen Artikeln für die »New York Daily Tribune« (NYDT) nachlesen. Dieses »Zeitungsschmieren« (Marx), mit dem er sein Lebensunterhalt verdiente, war es auch, das ihm zunehmend ein schriftliches Englisch abverlangte. Erst ab Januar 1853 begann er, seine Artikel für die NYDT auf Englisch zu schreiben, nachdem sie Engels zuvor übersetzt hatte. Dieser schreibt anerkennend: »Je ten fais mon compliment. Das Englisch ist nicht nur gut, es ist brillant.«

Marx sah lange in der englischen Entwicklung die Zukunft für andere Länder, die Dynamik betrachtete er als alles andere als zufällig. Das änderte sich in den 1870er Jahren, seine Aussagen waren jedoch Anlass für kritische Fragen, deren Beantwortung ihm alles andere als leichtfiel. So konfrontierte die russische Revolutionärin Wera Sassulitsch Marx kurz vor seinem Tod mit seinem Satz zu England aus dem »Kapital« und fragte, was das für Russland bedeute, einem Land, in dem etwa die Dorfgemeinde eine soziale Eigentumsform darstelle, die noch nicht von der kapitalistischen Logik vereinnahmt sei. Marx‘ »Kapital« wurde bereits 1872 ins Russische übersetzt. Es war die erste fremdsprachige Ausgabe überhaupt. Somit prägte diese den Diskurs des radikalen Milieus in Russland, wenn auch viele im Exil lebten und, wie Sassulitsch in Genf, das »Kapital« auch auf Deutsch oder Französisch hätten lesen können. Die Briefe an Marx formulierte Sassulitsch auf Französisch, der wiederum in der gleichen Sprache antwortete und auch die französische »Kapital«-Ausgabe zur Beantwortung der Frage heranzog.

In der 1. und 2. Auflage des »Kapitals« schreibt Marx noch davon, dass die Geschichte der »Expropriation der Arbeiter von Grund und Boden« als Grundlage der sogenannten ursprünglichen Akkumulation »in verschiednen Ländern verschiedne Färbung« annehme und nur in England ihre »klassische Form« besitze. In der französischen Übersetzung spricht er nicht mehr allgemein von »verschiednen Ländern«, sondern von den »pays de lEurope occidentale« (den westeuropäischen Ländern) und vermeidet den Ausdruck »klassische Form« für England. Gegen Ende des Lebens gewinnt zudem der sich in den USA entwickelnde Geld- und Kapitalmarkt zunehmend für MarxAnalyse an Bedeutung, wie auch die Peripherie für ihn nicht mehr nur defizitär gegenüber der kapitalistischen Entwicklung ist. Keine zwei Jahre vor seinem Tod kündigt er schließlich an, das »Kapital« grundlegend umzuarbeiten. England berichtet nicht mehr von unserer Zukunft.

Und Engels? Auf die Frage August Bebels, ob er nach dem Ende des Sozialistengesetzes, das im Herbst 1890 der Sozialdemokratie endlich wieder erlaubte, legale Strukturen und Publizistik zu haben, wieder nach Deutschland komme und der sozialistischen Bewegung zur Seite stehe, präsentierte Engels ganz ungewohnte Vorteile des englischen Exils: »Seit dem Ende der Internationale ist hier absolut keine Arbeiterbewegung außer als Schwanz der Bourgeoisie, Radikalen und für kleine Zwecke innerhalb des Kapitalverhältnisses. Also hier allein hat man Ruhe für theoretisches Weiterarbeiten.«

Ingo Stützle ist Mitglied der PROKLA-Redaktion und betreut die Marx-Engels-Werke beim Karl-Dietz-Verlag.

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