Wirtschaft
anders denken.

Den Begriff der Produktionsverhältnisse weiterentwickeln: 13 Thesen zu Marxismus-Feminismus

08.03.2018
Harris & Ewing / GemeinfreiGegner des Frauenwahlrechts in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Uns ist gemeinsam, das Leben ins Zentrum unserer Kämpfe zu rücken. Unsere Kämpfe sind gegen Herrschaft gerichtet und radikal demokratisch. 13 Thesen zu Marxismus und Feminismus, aufgeschrieben von Frigga Haug, diskutiert in einem kollektiven Prozess. Eine Dokumentation.

1.

Marxismus und Feminismus sind zwei Seiten einer Medaille (wie Helen Colley einschärft), aber diese Medaille gehört selbst umgeformt. Feministischer Marxismus hält am Marxschen Erbe und damit an der Bedeutung der Analyse von Arbeit in Form der Lohnarbeit und damit als Antriebskraft der Arbeiterbewegung fest (wie Gayatri Spivak insistiert). Aber in der Bestrebung, die übrigen weiblichen Tätigkeiten ebenso ins Zentrum der Analyse zu rücken, geht Marxismus-Feminismus über die lähmenden Versuche hinaus, häusliche und außerhäusliche Tätigkeiten entweder gänzlich in eins zu setzen oder sie umgekehrt ganz auseinander zu denken (dual economy debate, domestic labour debate), und stellt sich der grundsätzlichen Herausforderung, den Begriff der Produktionsverhältnisse für feministische Fragen zu besetzen und weiterzuentwickeln.

2.

Dabei wird (wie schon bei Marx und Engels) von zwei Produktionen ausgegangen – der des Lebens und der der Lebensmittel. Im Zusammendenken der beiden wird es möglich, konkrete Praxen und ihr Zusammenwirken zu untersuchen. Dies öffnet ein riesiges Forschungsfeld, in dem nach den je historisch und kulturell verschiedenen Ausprägungen von Herrschaft und deren Veränderungsmöglichkeiten gesucht werden muss.

3.

Es leuchtet ein, dass Geschlechterverhältnisse Produktionsverhältnisse sind und nicht zusätzlich hinzukommen. Alle Praxen, Normen, Werte, Autoritäten, Institutionen, Sprache, Kultur usw. sind in Geschlechterverhältnissen kodiert. Diese Annahme macht feministisch-marxistische Forschung so fruchtbar wie notwendig. Die Gleichzeitigkeit und Verbundenheit innerhalb globaler Verhältnisse bei Unterschiedenheit in den historisch konkreten Unterdrückungen von Frauen macht das Zusammentragen von Erfahrungswissen internationaler Aktivistinnen notwendig.

4.

Marxismus ist für die kapitalistische Gesellschaft und ihre herrschaftslegitimierenden wissenschaftlichen Disziplinen nicht nützlich. Weil feministischer Marxismus (wie Marx, aber auch vor allem Luxemburg, Gramsci, Brecht u.a.) davon ausgeht, dass die Menschen ihre Geschichte selber machen bzw., wo sie daran gehindert werden, Selbstermächtigung zu suchen, ist Marxismus-Feminismus untauglich für autoritäres Handeln von oben. Dies setzt Forschungen wie die zur Erinnerungsarbeit frei, ebenso eröffnet es einen historisch-kritischen Umgang mit sich selbst als Teil eines Kollektivs, ist also auch eine Form der Selbstkritik als Produktivkraft,

5.

Da alle Gesellschaftsmitglieder in ihrem Handeln an Herrschaftsverhältnissen teilhaben, ist eine konkrete Erforschung der Herrschaftsknoten nötig, die im kapitalistischen Patriarchat den Wunsch zur Veränderung lähmen oder gar ganz fesseln können. Feministinnen haben hier den Vorteil, kaum Privilegien zu haben, die mit dem Zugang zu Macht einhergehen. Sie haben deshalb weniger zu verlieren und mehr Erfahrung, die Welt von unten zu sehen.

6.

Alle Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft sind durch diese Herrschafts- und Unterwerfungsverhältnisse zugerichtet; insofern sind sie noch weit entfernt davon, in einer befreiten Gesellschaft zu leben. Es gibt historisch tradierte Formen von Herrschaft und Gewalt, die sich nicht kontinuierlich oder durch einen Hauptwiderspruch in die Gegenwart fortsetzen. Die brutalen Formen von Gewalt (gegen Frauen), von Verrohung, Kriegsbereitschaft usw. (worauf Zillah Eisenstein abzielte) sind als ungleichzeitige Schrecken alter Verhältnisse zu fassen. Aber Gewalt ist nicht nur Ausdruck tradierter, sondern auch gegenwärtig hergestellter Verhältnisse. Dafür braucht es ein spezifisches Verständnis von Kritik und Analyse, das Essenzialismen vermeidet. Für marxistische Feministinnen sind diese Gewaltverhältnisse als elementarer Bestandteil ihres Befreiungskampfes theoretisch und praktisch einzuholen: für sich selbst, um ihren Subjektstatus zu erringen, sowie ihr Aufbegehren gegen männlich-menschliche Unterentwicklung.

7.

Marxismus-Feminismus nimmt Stellung zum Primat von Arbeiterbewegung als historischem Subjekt und Trägerin von Transformation. Den Feminismus in den Marxismus hineinzutragen und dabei beide zu verändern, macht eine kritische Sicht auf den traditionellen Marxismus, der sich allein auf die Arbeiterbewegung bezieht, unabdingbar. Marxismus ist Marxsche Kritik der politischen Ökonomie plus Arbeiterbewegung – das macht seine unvergleichliche Kraft aus. Es macht zugleich seine Grenze sichtbar. Das Schicksal der Arbeiterklasse zeigt auch ihre Unfähigkeit, Fragen, die den historischen Horizont der Klassenkämpfe überschreiten, zu erkennen und weiterzuentwickeln. Für die neuen feministischen Fragen, ebenso wie für Fragen der Ökologie, ist dieser traditionelle Marxismus nicht aufnahmefähig. Er muss weiterentwickelt werden (wie Rosa Luxemburg hervorgehoben hat). Die Fülle der vielfältigen sozialen Bewegungen sowie auch der noch ungenutzte Reichtum von Marx’ kulturellem Erbe verlangen eine kontinuierliche weitere Auseinandersetzung. Hier sind alle marxistischen Feministinnen gefragt.

8.

Die Debatte um den Zusammenhang von Race, Klasse und Geschlecht (Intersektionalität) sollte vorangetrieben werden. Der Zusammenhang von Klasse und Geschlecht ist in allen kapitalistisch verfassten Gesellschaften weiter konkret zu erforschen; was als »race question« auftritt, ist je nach Gesellschaft und Kultur konkret zu beantworten und auf die beiden anderen Unterdrückungsarten zu beziehen (was Ann Ferguson und Gayatri Spivak hervorheben). Nichtlineares Denken ist gefragt.

9.

In den Umbrüchen, die der Krise des Fordismus folgten und sich in der globalisierten Ökonomie von Krise zu Krise zeigen, welche die Menschen in immer prekärere Verhältnisse treiben, gehören Frauen ebenso wie marginalisierte Praxen und Gruppen zu den Verliererinnen.

10.

Der Abbau des westlichen Wohlfahrtsstaats in einer globalisierten Ökonomie überlässt die Sorge um das Leben Frauen in unbezahlter häuslicher Arbeit oder in gering bezahlter Lohnarbeit, global erfahrbar im global care-chain. Wir können dies als Care-Krise fassen, als notwendige Folge einer kapitalistischen Gesellschaft, die in der Verschiebung ihres ökonomischen Zentrums auf Dienstleistungen in eine Profitklemme gerät und zu immer barbarischeren Formen der Austragung der Krisen um ungleiche Wertschöpfungsniveaus greift (wie Tove Soiland vorschlägt).

11.

Uns ist gemeinsam, das Leben ins Zentrum unserer Kämpfe zu rücken (u.a. Montserrat Galcerán, Lise List) und damit die Kämpfe um gemeinsam selbstbestimmte Zeit zu führen. Wir können auch dem Vorschlag nachgehen, die Krisen um das Leben als Folge ungleicher Zeitlogiken innerhalb hierarchisierter Bereiche zu analysieren (Frigga Haug). Als Politik schlägt Haug die Vier-in-einem-Perspektive vor, das heißt, Politik um die Verfügung über Zeit zu fuhren, und dabei die Bereiche nicht einander anzugleichen, sondern sie durch Verallgemeinerung zu enthierarchisieren. Erst wenn alle in allen Bereichen tätig sind, ist eine befreite Gesellschaft möglich.

12.

Unsere Kämpfe sind gegen Herrschaft gerichtet und radikal demokratisch – dies braucht auch Politik von unten. Unser Widerstand ist kulturell und zeitlich unterschiedlich situiert. Aber uns eint mit Marx, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«. Einen marxistisch-feministischen Kongress zu organisieren und darin unterschiedliche Umgänge mit Kooperation und Konflikt zu finden, ist ein Mittel unserer Aufgabe, unseren Widerstand in eine beständige marxistisch-feministische Bewegung zu übersetzen.

13.

Marxistische Feministinnen bleiben nicht länger in der Position, die den Frauen in der Arbeiterbewegung arbeitsteilig zugewiesen war, nämlich den Frieden zu verkörpern und dafür einzustehen, während Männer die Kriege machen. Wir lassen uns auf diese Politik nicht zurückstauchen, sondern wollen die Gesamtverantwortung mit übernehmen. Wir halten die feministische Kraft in der gegenwärtigen Weltlage voll Krisen und Krieg für unentbehrlich. Sie hat Verantwortung und starke Möglichkeiten.

Kollektiver Prozess

Die hier gedruckten 13 Thesen zu Marxismus-Feminismus hat Frigga Haug formuliert, sie sind aber »Dokument eines kollektiven Prozesses und selbst nur ein Anfang«, schreibt sie in einer Erläuterung zur Erstveröffentlichung in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift »Das Argument«. Begonnen hat dieser Prozess bereits vor drei Jahren, ein Aufruf von Haug an »Feministinnen, die ich aus der Bewegung der 1970er Jahre aus Veranstaltungen, Reisen, Gastprofessuren kannte«, führte zu einem ersten großen Kongress im Frühjahr 2015 in Berlin. Hier entstand eine erste Version der Thesen, diese wurden später »in einem vielstimmigen Diskussionsprozess« weiterentwickelt. 2016 fand ein zweiter Kongress statt, diesmal in Wien. Auch dort wurden die Thesen weiterdiskutiert. Im Oktober 2018 ist im schwedischen Lund eine nächste Konferenz der »marxistisch-feministischen Internationale« geplant.

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