Wirtschaft
anders denken.

Hilfe als vorweggenommene Umverteilung

Ein Gespräch mit Katja Maurer und Thomas Rudhof-Seibert von der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International aus OXI 2/22.

16.02.2022
Katja Maurer (KM) leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von Medico International. Heute verantwortet sie die Medico-Sprache, das Rundschreiben und bloggt regelmäßig auf der Medico-Website. Thomas Rudhof-Seibert (TRS) ist Philosoph und Autor und in der Öffentlichkeitsarbeit von Medico International zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte, außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne.

Was sind die Wurzeln von Medico International? Was ist von der ursprünglichen Intention erhalten geblieben?

KM: 1968 haben die ersten freiwilligen Studierenden und Mitarbeiter:innen des Gesundheitswesens angesichts der Katastrophenbilder aus Biafra begonnen, bei Ärzten abgelaufene Medikamente zu sammeln und fuhren sie im Krankenwagen mit Blaulicht zum Flughafen, um die Dringlichkeit noch zu unterstreichen, obwohl der Abflugtermin feststand. Wie so häufig ist dies eine naheliegende Form der Hilfe, die leider selten hilft. Medico verschickte zum Teil abgelaufene Medikamente mit deutschen Beipackzetteln nach Afrika. Weder konnten die Empfänger:innen das lesen, noch gab es Personal, sie fachgerecht zu verteilen. Diese Hilfe schadete mehr, als sie nutzte. Daraus lernte man immerhin, dass es nicht reicht, den Überfluss zu teilen.

TRS: Ab den 80er Jahren definiert sich Medico selbst als Hilfsorganisation an der Seite der Befreiungsbewegungen. Von da an steht die ganz konkrete Arbeit in diesem politischen Kontext. Diese Phase ging bis Anfang der 90er Jahre und endete, trotz der erreichten Erfolge, auch weithin mit einem Scheitern – wir haben nicht erreicht, was wir erreichen wollten. Nach einer Übergangszeit, für die wesentlich die Kampagne für das Verbot von Landminen steht, kam eine lange Phase, in der wir immer noch sind. Da hat Medico sich verstanden, im besten Sinn des Wortes, als eine globalisierungskritische Hilfs- und Menschenrechtskooperation. Immer mit Blick auf eine globale kritische Öffentlichkeit. Wobei es sein kann, dass wir uns jetzt aus diesem Raum rausbewegen und in eine sehr ungewisse und pessimistische Phase eintreten. Eine Kontinuität besteht im kritischen Verhältnis zur eigenen Arbeit, zur eigenen Geschichte, zu politischen Zusammenhängen.

KM: Kurz nachdem ich bei Medico angefangen habe, gab es in Mittelamerika eine schwere Naturkatastrophe, die u.a. in Nicaragua schwere Schäden angerichtet hatte. Nicaragua war damals ein Schwerpunktland von Medico im Sinne der von Thomas beschriebenen Befreiungshilfe. Wir hatten einen Kollegen vor Ort und konnten Nothilfe leisten. Ich war für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig und wir erhielten sehr viele Spenden aus dem Umfeld von Menschen, die einst der Mittelamerika-Solidaritätsbewegung angehörten. Ich war damals sehr überrascht, wie kritisch Medico die gesamte – auch die eigene – Arbeit in Nicaragua reflektiert und aufgearbeitet hat.

Diese Verbindung von Nothilfe mit politischen Projekten ist doch eigentlich merkwürdig. Ihr kommt, wenn andere Dinge nicht geklappt haben. Kann man aus solch einer Situation Politik im Sinne von Gestaltung betreiben oder nur retten, was zu retten ist?

KM: In Nicaragua ist es uns in einem konkreten Projekt gelungen. Bauern waren durch einen Hangabrutsch gezwungen, ihr Dorf aufzugeben, daraufhin hatten sie illegal Land besetz. Wir unterstützten sie darin und erhielten sogar öffentliche Gelder, die wir allerdings hätten zurückzahlen müssen, wenn sie nicht am Ende offizielle Landtitel erhalten hätten. Das Dorf gibt es immer noch, es nutzt die Traktoren, die wir vor 25 Jahren bereits gebraucht gekauft haben, und beliefert mittlerweile den internationalen Markt mit Kürbissen. Es hat sich sehr langsam, dafür aber nachhaltig entfaltet, während Nicaragua sich neoliberal extrem modernisiert hat, aber eine sandinistische Diktatur erlebt, die der Somozas immer ähnlicher wird.

TRS: Das erste Mal, dass wir großflächig in Nothilfe eingestiegen sind, war nach der Tsunami-Katastrophe 2005. Da haben wir uns schnell auf Sri Lanka konzentriert, und das war zuerst reine Nothilfe. Aber wir haben sehr bald gesehen, dass die Notsituation inmitten des seit 40 Jahren virulenten ethnischen Konflikts stattfand. Wir haben unsere Aktivitäten dann bereits in der Nothilfesituation hin zu politischer Arbeit gedreht mit Bezug auf den bewaffneten Konflikt zwischen dem Staat, der Mehrheitsgesellschaft und den ethnischen und religiösen Minderheiten. Wir haben mit Leuten zusammengearbeitet, die offensiv so etwas wie eine dritte, menschenrechtsbegründete Position vertreten haben. Das haben wir über Jahre unterstützt und mit ihnen zuletzt verloren: Das Regime, zwischenzeitlich abgewählt, ist zurück. Zwischenzeitlich gab es Erfolge, kurze Zeitfenster der Hoffnung, die dritte Position war zeitweise stark. Jetzt arbeiten wir wieder mit den Leuten zusammen, die aus einer guten Position heraus fragen, wie man weiter für Demokratisierung kämpfen kann. Das ist aus der Nothilfe und ihrer kritischen Evaluierung entstanden. Soll Nothilfe gelingen, kommt man an den politischen Bedingungen, an der Frage der Demokratie nicht vorbei.

KM: Nothilfe erklärt sich selbst gern als neutrale, unpolitische Hilfe. Das haben wir auf einer Konferenz 2003 bereits in Frage gestellt und mit vielen Hilfsorganisationen kritisch diskutiert. Mit dem vermeintlichen Ende der Geschichte schien es nur noch den Kapitalismus zu geben und seinen Reparaturbetrieb, wozu die internationale Hilfe gehört. Medico blieb bei dem Ansatz, dass Menschen in der Not ein Recht auf Hilfe haben, dass aber die Not vielfach strukturelle Ursachen hat und nur durch Umverteilung behoben werden kann. Hilfe als vorweggenommene Umverteilung ist ein nach wie vor emanzipatorisches Projekt.

Das ist euer Ansatz: Hilfe verteidigen, kritisieren und überwinden. Aber ihr könntet euch ja auch entscheiden, aus dieser praktischen Hilfe ganz auszusteigen und dezidiert politische Arbeit zum alleinigen Geschäftsfeld machen.

KM: Medico verfügt weltweit über ein entwickeltes Netzwerk aus Partner:innen, mit denen wir einen politischen Austausch haben. Konkrete Arbeiten und Bedarfe kommen von ihnen und nicht von uns. Die Entscheidung, dass Medico nach dem Ende der Befreiungshilfe, die sich auf eine eigene Solidaritätsbewegung in Deutschland stützen konnte, stärker in die Nothilfe geht und damit auch in Ländern arbeitet, in denen es keine direkten Partnerkontakte gibt, war nicht unumstritten. Aus guten Gründen gab es Bedenken, dass solche Hilfen eher von Geberinteressen geprägt als sinnvolle emanzipatorische Hilfen sind. Wir waren vor dem Erdbeben 2010 beispielsweise nicht in Haiti. Gemeinsam mit dem Partnernetzwerk, das dann entstand, war unsere Hauptaufgabe, Zeugnis über die Ursachen der Krise in Haiti abzulegen. Und genau das ist die Erzählung bis heute: Das große, verschwiegene postkoloniale Drama, das den Kern des Weltunrechts enthüllt.

TRS: Was macht man jetzt mit Afghanistan zum Beispiel? Das wird vermutlich die gegenwärtig größte humanitäre Katastrophe werden. 90 Prozent der Menschen dort sind Hunger und Kälte ausgesetzt, haben keine medizinische Versorgung, Geld- und Güterverkehr sind zusammengebrochen. Gleichzeitig gibt es die politische Katastrophe, die Rückkehr der Taliban an die Macht. Nothilfe kann da kaum verweigert werden – und wird de facto, das wird nicht zu vermeiden sein, zur Anerkennung des Regimes führen. Man muss mit den Taliban reden, sich mit ihnen arrangieren. Deswegen würden wir sagen, dass Nothilfe nur geleistet werden darf, wenn man zugleich an den politischen Forderungen der Demokratiebewegung festhält: Es braucht eine multiethnische Übergangsregierung und eine föderale Neuordnung Afghanistans auf der Grundlage des Menschenrechts. Die Mitarbeiter:innen unserer Partnerorganisation sind mit ihren Angehörigen auf abenteuerlichem Weg nach Pakistan und von dort jetzt gerade nach Kanada geflohen. Wir haben mit ihnen jetzt schon vereinbart, dass sie aus dem Exil eine Recherchearbeit zur Menschenrechtssituation in Afghanistan machen werden. Man kann und sollte Hilfe in Bezug auf ihren politischen Kontext leisten. Weniger einfach ist das nicht zu haben.

Auch ihr habt rote Linien. Wie definiert ihr die?

KM: Eine rote Linie befindet sich dort, wo Hilfe offenkundig in eine Kriegshandlung eingebettet ist wie bei der Invasion im Irak 2003. Ansonsten würde ich es lieber positiv formulieren: Solange es möglich ist, eine politische, also emanzipatorische Hilfe zu leisten, die Fenster öffnet und nicht nur sich selbst reproduziert, ist es richtig, es zu probieren. Denken wir an Antonio Machado: Caminante, no hay camino, se hace el camino al andar. Wanderer, der Weg entsteht beim Gehen.

TRS: Das allererste Mal, dass wir in solch eine Konfliktsituation geraten sind, war in den 80er Jahren, als klar wurde, dass in den Lagern der namibischen Befreiungsbewegung SWAPO systematisch gefoltert wurde. Daraufhin haben wir öffentlich unsere Unterstützung eingestellt und auch andere dazu aufgerufen. Damals ist die gesamte Solidaritätsbewegung über uns hergefallen. Aber es war richtig, diese rote Linie zu setzen. Wir hatten hier eine Menschenrechtsaktivistin aus Sri Lanka bei einer Konferenz, die deutlich gemacht hat, dass Menschen das Recht haben, in den Widerstand zu treten, wenn Menschenrechte verletzt werden. Und dass es das Recht der Unterdrückten ist, aus ihrer Perspektive über die Form und die Weise des Widerstands zu entscheiden. Als ihr vorgeworfen wurde, damit auch zu akzeptieren, dass Gewalt mit Gewalt beantwortet wird, hat sie einerseits auf dem Recht bestanden, die Form des eigenen Widerstands selbst zu entscheiden und andererseits deutlich gemacht, stets Menschenrechtsverletzungen aller Seiten zu kritisieren: Auch das ist einfacher nicht zu haben.

Ihr stellt also im Zweifelsfall die Nothilfe ein, ohne aufzuhören, den politischen Konflikt zu benennen – quasi das umgekehrte Prinzip der offiziellen Entwicklungshilfe. Worin bestand eurer Meinung nach deren grundlegende Fehlkonstruktion?

TRS: Schon der begriffliche Ansatz »Entwicklungshilfe« war im Grunde falsch. Weil er die Verhältnisse in einem Teil der Welt zum Maßstab genommen hat, um eine »unterentwickelte« Welt auszumachen, die sich auf das Niveau der entwickelten Länder heben sollte. Dieser Ansatz blendet aus, dass der Zustand der Welt das Ergebnis von Kolonialismus und Kapitalismus als einem Weltverhältnis ist. Dagegen haben wir den Begriff »Befreiungshilfe« gesetzt. Denn was wir suchen, sind emanzipatorische Prozesse, an die man anknüpfen kann. Die beginnen in der Notsituation, in der Sorge um das unmittelbare Überleben. Sie gehen dann weiter zu der Frage, wie man gesellschaftliches Leben organisieren und reproduzieren, aus der Armut kommen, gesunde Lebensverhältnisse etablieren kann. Und stellt alles in die Perspektive eines emanzipatorischen Prozesses. Wir kritisieren also schon den Begriff Entwicklungshilfe und haben uns trotzdem pragmatisch in ihren Kontext gestellt. Die Ministerien, mit denen wir am engsten zusammenarbeiten, sind das Entwicklungshilfeministerium BMZ und das Auswärtige Amt.

KM: Vor den Koalitionsverhand-lungen ging es um die Frage, ob man das BMZ auflösen soll. Thomas Gebauer, der frühere Geschäftsführer von Medico, hat vorgeschlagen, es nicht abzuschaffen, sondern in Ministerium für globale Gerechtigkeit umzubenennen. Das wäre richtig. Interessanterweise gerieten die CSU-Entwicklungsminister, auch der letzte, oft in den Konflikt zwischen Politik und ihrer christlichen Haltung und wurden häufiger so radikaler, als man es hätte erwarten können. Während das Auswärtige Amt immer unter dem Vorbehalt der deutschen Interessen agiert. Man muss den einen kapitalistischen Entwicklungsbegriff in die Tonne werfen und den anderen, der globale Gerechtigkeit meint, behalten.

Aber all das in einer Situation, da der hochentwickelte Kapitalismus weltweit herrscht, welche Spielräume gibt es da? Ein Ministerium für globale Gerechtigkeit ist doch in dem Rahmen gar nicht vorstellbar.

TRS: Ja, scheint so: Das Negative verbirgt sich im Moment nicht schlecht. Weltsozialpolitik, dieser Begriff knüpft ja an Sozialpolitik als etwas Vertrautes an, stellt sie aber in die globale Dimension. Im Katalog der Menschenrechte gibt es einen letzten Paragrafen, der die Herstellung einer sozialen und politischen Weltordnung verlangt, in der die Menschenrechte »voll verwirklicht« werden können. Das zwingt uns, den Kapitalismus zu transzendieren, weil es unter kapitalistischen Verhältnissen niemals zu realisieren ist. Zugleich definiert dieser Satz den Anknüpfungspunkt innerhalb des Bestehenden. Die Adressat:innen von Weltsozialpolitik sind Inhaber:innen von Rechten, keine Menschen, an die Hilfsgüter verteilt werden. »Voll« zu verwirklichende Rechte zu haben, führt auch über Politiken der Commons hinaus, die prinzipiell den Nachteil haben, ihre Empfänger:innen an die jeweilige Community auszuliefern. Während Weltsozialpolitik sich an Menschen richtet, die ein Recht auf etwas haben, völlig ungeachtet dessen, was sie tun. Rechte bekommt man unabhängig von Pflichten. Das versuchen wir in dem Begriff Weltsozialpolitik zu verdichten. Das kann man in bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen anerkannt äußern, aber der Kapitalismus kann es nicht einlösen.

Welche Verheerungen richten denn NGOs an, wenn sie sich damit nicht ausreichend auseinandersetzen? Hat es sich verschärft, dass sie gleichzeitig Teil des Problems werden?

KM: Achille Mbembe, Historiker und Politikwissenschaftler aus Kamerun, hat auf der Konferenz zur (Re-)Konstruktion der Welt Anfang 2021 erklärt, das kapitalistische Entwicklungsmodell errichte zwangsläufig immer mehr fernverwaltete No-go-Zonen wie die Flüchtlingslager oder auch Haiti. In einem Flüchtlingslager kann man sich eigentlich nicht am Management der Flucht beteiligen. Das widerspricht jeder Idee von Menschenrechten. Es ist nicht umsonst so, dass dort zunehmend evangelikale Hilfsorganisationen das Sagen haben, auf die sich selbst die UN-Verwaltung stützt. Im Einzelfall machen sie keine schlechte Arbeit, aber sie haben eine fundamentalistische christliche Mission. Ich halte das für extrem gefährlich, weil dies eine reaktionäre Form der Hilfe ist. Sie dringt in die Eingeweide des Flüchtlingslagers oder in die letzten noch verbliebenen Reste einer autonomen haitianischen Gesellschaft ein, um Selbstbefreiungsmöglichkeiten zu vernichten.

Aber was ist, wenn niemand anderes mehr da ist? War dieses Dilemma der Ausgangspunkt dieser Konferenz?

TRS: Wir planen jetzt eine vierte große Konferenz als weitere Chance, unsere Arbeit im Austausch mit der Wissenschaft zu reflektieren. Das liegt an den Ungewissheiten, auf die wir ja auch in diesem Gespräch immer wieder kommen. Historisch eindeutig blamiert hat sich die Idee des nationalen Staates: Er war und ist eine große weltgeschichtliche Katastrophe. Ist ihm gegenüber die Idee der kommunitären Selbstorganisation unausweichlich, muss doch gesehen werden, dass auch sie ihre Tücken hat, weil sie allein uns in vormoderne Verhältnisse zurücktransformieren würde. In einer Dialektik mit geradezu schizophrenen Zügen halten wir deshalb an der seit 1949 institutionalisierten Idee der Vereinten Nationen fest. Dabei geht es um eine globale politische Organisation, die an Rechte gebunden ist und einen permanenten politischen Diskurs führt. Sehr viele der Probleme, die wir haben, ließen sich als lösbar denken, könnte man sagen, es gibt eine Institution namens Vereinte Nationen, die diesen Namen zu Recht trägt. Formell gesehen wäre sie das Rechtssubjekt auch einer Weltsozialpolitik. Klingt das heute wie eine nackte Utopie, ist es im besten Sinne des Wortes doch eine Realutopie. Die Vorstellung von dem, was zu tun wäre, ist nicht nur in den Köpfen, es gibt auch eine Organisation dafür, die muss nicht erst erfunden werden. Und das vermittelnde Glied wäre das, was wir globale Öffentlichkeit nennen.

 

Das Interview führte:

Sigrun Matthiesen

Journalistin

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